E-Book, Deutsch, 384 Seiten
White Die Gaben der Schönheit
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95985-256-2
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-95985-256-2
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Guy hat es geschafft: Aus der Armut der französischen Provinz hat er den Olymp der Modewelt im New York der Achtziger erklommen. Reihenweise erliegen die Männer seiner Schönheit, die ihn im Sommer zur größten Attraktion Fire Islands macht. Wie ein moderner Dorian Grey scheint er niemals zu altern und wird von älteren Verehrern mit Geschenken überhäuft - bis ihn die Zeit schließlich einholt und sein Leben für immer verändert. In seinem eleganten wie geistreichen Roman schwelgt Edmund White in der Magie der Schönheit, um im nächsten Moment ihre Oberfläche zu durchdringen und ihre Macht zu ergründen - die Macht, zu faszinieren, zu täuschen, zu beherrschen.
Edmund White, 1940 in Cincinnati, Ohio, geboren, zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellern der Gegenwart. Gemeinsam mit anderen Autoren gründete er Anfang der achtziger Jahre die Gruppe Violet Quill, die die schwule Literatur in den USA entscheidend prägte. Bekannt wurde er vor allem durch seine autobiografisch gefärbte Romantrilogie 'Selbstbildnis eines Jünglings', 'Und das schöne Zimmer ist leer' und 'Abschiedssymphonie'. Außerdem veröffentlichte er Biografien über Jean Genet, Marcel Proust und Arthur Rimbaud. Auf Deutsch erschienen zuletzt die Romane 'Jack Holmes und sein Freund', 'Hotel de Dream' und Whites New-York-Memoiren 'City Boy'. Für sein literarisches Schaffen erhielt White zahlreiche Preise, unter anderem den Award for Literature der American Academy of Arts and Letters, den National Book Critics Circle Award und den Preis des Festivals von Deauville für sein Gesamtwerk.
Weitere Infos & Material
1.
Obwohl er fünfunddreißig Jahre alt war, arbeitete Guy noch immer als Model, und diejenigen seiner Freunde, die einen Sinn für Ironie und Kultur hatten, nannten ihn ›unseren jungen Mann‹, so wie Colette den sterbenden Proust genannt hatte. So viele Jahre war er tatsächlich jung gewesen; in den späten Siebzigern war er von Paris nach New York gekommen, ein Mann Ende zwanzig, der als Neunzehnjähriger durchging. 1980 und ’81 war er den Sommer über der Liebling der Saison von Fire Island Pines; alle Bewohner des Octagon House waren verliebt in ihn, und auch wenn man ihm alles hätte durchgehen lassen, nahm er sich keinen Deut wichtiger als die anderen und beteiligte sich genau wie sie an den Hausarbeiten und Ausgaben; er zahlte seinen Anteil an allen Rechnungen bis auf den letzten Cent genau, selbst wenn er gemeinsame Mahlzeiten ausfallen ließ oder ganze Wochenenden gar nicht auf der Insel verbrachte. Jeder betete ihn an, sodass er sich vor diesen Dingen hätte drücken können. Als Model für zahlreiche Pflege- und Kosmetikprodukte machte er hundertfünfundsiebzig Dollar die Stunde, was damals eine Menge Geld war. Er verdiente in zwei Stunden mehr als Howard – ein junger Journalist und einer seiner Ferienhaus-Mitbewohner – in einer Woche; Howards Liebhaber Martin, ein schnauzbärtiger kubanischer Barkeeper, kassierte für zwei oder drei Schichten im Uncle Charlie’s nicht so viel Trinkgeld. Sogar sein starker französischer Akzent machte Guy nur noch begehrenswerter; Tom, ein weiterer Mitbewohner, der besonders vernarrt in ihn war, fing an, Französischunterricht zu nehmen, brachte aber niemals auch nur einen geraden Satz zustande. Er geizte auch nicht mit Gefälligkeiten. Nach dem Abendessen schluckte er das von Ted zusammengestellte Gemisch aus LSD, Tranquilizern, Quaaludes und Nembutal, diesem sonderbaren Schlafmittel in gelben Kapseln. Nach einer energisch durchtanzten Nacht im Sandpiper fand man ihn dann im Morgengrauen nackt, ausgestreckt in der Brandung liegend, mit drei anderen liebestollen Schönheiten, oder er war gerade dabei, einen Kroaten – ebenfalls ein Model – zu massieren, auf der Sonnenterrasse beim Pool, wo sie große, krumme Joints mit Acapulco Gold rauchten. Er mochte die Pines, weil die muskulösen Männer dort Bänker oder Anwälte oder Chirurgen waren, keine Gigolos (wie die vergleichbaren Kerle in Saint-Tropez), die sich auf den Decks der im Hafen liegenden Yachten fläzten (»laying out in the sun«, wie die Jungs in Amerika zu sagen pflegten, auch wenn Guy seit dem Englischunterricht der Oberstufe damals in Frankreich wusste, dass es »lying« heißen musste; die Franzosen hätten in ihrer eigenen Sprache niemals einen vergleichbaren Fehler gemacht, dachte er ganz pedantisch). Er kam aus Clermont-Ferrand, einer großen, toten, trostlosen Industriestadt mitten im Herzen Frankreichs, und jeden Monat überwies er von New York aus eintausend Dollar an seine fromme Mutter, die die Blumen vor dem Altar arrangierte, und seinen Vater, einen Fabrikarbeiter, der vor zwanzig Jahren seinen Job in den Michelin-Werken verloren hatte und seitdem von Sozialhilfe lebte und zu viel Rotwein trank (seinen ersten coup de rouge kippte er jeden Vormittag um elf, eine alte Angewohnheit aus der Zeit, als er noch gearbeitet hatte). Dass Guy außergewöhnlich gutaussehend war, wusste er, seit seine Großmutter es ihm gesagt hatte: seine abstehenden Ohren, die üppig-einladende Oberlippe und seine dunklen, eindringlichen Augen, die die Farbe von karamellisiertem Honig hatten; nur das strahlendste Sonnenlicht brachte die bernsteinfarbenen Sprenkel in seiner Iris zum Vorschein. Seit seinem sechsten Lebensjahr hatte er Straßenfußball gespielt, und sein runder Hintern, selbst so prall und fest wie ein Fußball, lieferte den Beweis. Er war eins neunzig groß und überragte seine Freunde deutlich, aber früher war er schrecklich dünn und seine Freunde nannten ihn ›Sec‹ (›trocken‹, aber auch ›hager‹), denn so nannten die Franzosen alle, die nicht ein Gramm Fett am Körper hatten. Mit siebzehn Jahren begann er, in seinen Körper hineinzuwachsen, doch etwa zu jener Zeit wurde er auch launisch (boudeur) und fing zu rauchen an, er schwänzte den Unterricht und ließ sich von seinen Aufgaben als Messdiener entbinden – genau genommen blieb er sonntags einfach im Bett und ging gar nicht erst zur Messe. Ein Versäumnis, das seine Mutter zum Weinen und seinen Vater zum Lächeln brachte. Seine Eltern lagen sich einmal wöchentlich in den Haaren; sein Vater zerstörte im betrunkenen Zustand das Mobiliar, und seine Mutter verkündete ihre bittere Missbilligung mit leiser Stimme – scharfe, hasserfüllte Schuldsprüche, die Wunden reißen sollten und von ihr ausdruckslos vorgetragen wurden. Es gab zwei jüngere Geschwister, einen Jungen und ein Mädchen; Robert, das mittlere Kind, war fünf Jahre jünger, das Mädchen, Tiphaine, war zwölf Jahre nach Guy zur Welt gekommen – beide waren vermutlich das Resultat von Samstagabend-Vergewaltigungen, mit denen der Vater die sich empörende Mutter heimgesucht hatte. Die jüngeren Kinder waren unscheinbar und reizlos, auch wenn Tiphaine eine besondere Begabung für die Mathematik zu haben schien und Robert seinen Vater liebte und von ihm ebenfalls geliebt wurde. Durch diese Kameradschaft fühlte Guy sich nur umso isolierter: Jedes Jahr im Herbst machten Guys Vater und Robert einen einwöchigen Jagdausflug in die Sologne, ohne Guy jemals dazu einzuladen. Guy begleitete eine Freundin aus der Oberstufe zu einem Shooting bei einem professionellen Fotografen; sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Topmodel zu werden, obwohl sie übergewichtig war und schlechte Haut hatte. In Frankreich sprachen alle den Begriff ›Topmodel‹ so aus, als könnte man die beiden Teile des Wortes einzig und allein in dieser Kombination verwenden. Der gelangweilte Fotograf, dem sie fünfhundert Francs für ihr ›Portfolio‹ zahlte, schoss am Ende von Guy ebenso viele Bilder wie von Lazarette, ohne dass der dafür zahlen musste. Er sagte Guy, dass er sich als Model versuchen sollte. Guy speicherte diesen Hinweis in seinem Hinterkopf ab; vielleicht wäre das sein Ticket, um raus aus Clermont-Ferrand zu kommen. Wenn er auch ein wenig rebellisch war, so war er trotzdem ein guter Junge; viele sahen in ihm gar die Verkörperung alles Guten – was nicht wenigen von ihnen zum Verhängnis werden sollte. Mit einigen Wallfahrern aus seiner Gemeinde fuhr Guy übers Wochenende nach Paris; er bezeichnete sich zwar selbst als Atheisten, aber er wollte Paris sehen und erklärte sich bereit, an der großen Jugendmesse teilzunehmen, die im Parc des Princes abgehalten wurde. Aber am Tag der Messe verdrückte er sich und nahm die Métro nach Saint-Germain-de-Prés, weil er in einer Zeitschrift gelesen hatte, das sei die Künstlerhochburg der Hauptstadt. Zwei Stunden lang nippte er im sehr angesagten Café de Flore an einer Tasse Kaffee und studierte eine Ausgabe von Le Soir, und als er aufstand, um zu gehen, winkte ihn ein freundlich aussehender Herr mittleren Alters zu sich heran. »Hallo, hallo«, sagte er in lautem Singsang, in dem Guy eine Spur von Ironie zu erkennen glaubte – oder sprach da nur die Paranoia des Provinzlers aus ihm? Guy trug seine engsten schwarzen Hosen und einen wirklich wunderschönen babyblauen Pullover, auch wenn es eigentlich zu warm dafür war. Vor dem Spiegel im Hotelzimmer hatte er eine Stunde damit zugebracht, sein Haar zu kleinen Locken zu formen; zweimal hatte er alle drei Outfits anprobiert, die er mitgebracht hatte. Tiphaine zog ihn immer wieder damit auf, dass er eitler als ein Mädchen sei, aber als ihre Großmutter das einmal hörte, hatte sie gesagt: »Er macht sich eben ständig einen Kopf um sein Aussehen und seine Kleidung, wie jeder normale Teenager.« Wenngleich sie sich in Clermont-Ferrand zur Ruhe gesetzt hatte, hatte sie vierzig Jahre lang als ›Madame Caisse‹ an der Kasse eines beliebten Pariser Cafés gearbeitet. Noch immer zupfte sie regelmäßig ihre Augenbrauen und malte ihre Lippen magentafarben an. Von der Taille aufwärts sah sie stets makellos aus, auch wenn ihr Rock fleckig und faltig war und sie verschlissene Schuhe trug; als sie noch gearbeitet hatte, war für die Kunden immer nur ihre obere Körperhälfte sichtbar gewesen, und auch jetzt war das alles, was für sie zählte. Sie rauchte Gauloises in Kette und trank jeden Abend nach dem Essen einen Cognac. Sie hatte diese gewisse Pariser Keckheit, die dem Rest der Familie abging, und eine deftige Art, sich auszudrücken – eine echte titi parisienne, wie die Schauspielerin Arletty. Der Mann im Café de Flore lud Guy auf einen Drink ein. Er sagte: »Es kostet dich nur einen Augenblick deiner Zeit, und es könnte dein Leben komplett verändern.« Guy schlug das Herz bis zum Hals, aber er dachte sich, dass ihm an einem öffentlichen Ort wie diesem schon nichts passieren würde. Hier war er doch ganz bestimmt in Sicherheit, oder etwa nicht? Der Mann hatte eine Glatze, aber sehr buschige Augenbrauen; er war ausgesprochen gut...