E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Whitehead John Henry Days
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26234-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-446-26234-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In einem Kaff in West Virginia findet ein Festival zu Ehren des legendären Volkshelden John Henry statt. Als der junge Journalist J. Sutter und seine Feunde dort erscheinen, treffen zwei Welten aufeinander. Ein witziges und zugleich beunruhigendes Porträt der amerikanischen Gesellschaft, laut Jonathan Franzen "unwiderstehlich geschrieben".
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Prolog
Vor ungefähr fünfundvierzig Jahren war ich in Morgan County, Kentucky. Da war ein Trupp Schwarzer aus Mississippi, die arbeiteten mit beim Bau eines Tunnels für die O&K Railroad am Oberlauf des Big Caney Creek. Dort habe ich das Lied zum erstenmal gehört; sie sangen es immer, um mit ihren Hämmern den Takt zu halten. Bezugnehmend auf Ihre Anzeige im Chicago Defender möchte ich auf Ihre Bitte um Informationen über Mr. John Henry, den heldenhaften Veteranen aus der Entstehungszeit des Big Bend Tunnel, antworten. Es ist mir gelungen, aus meiner Erinnerung dreizehn Strophen zu rekonstruieren, die sich mit dieser hervorragenden und verdienstvollen Persönlichkeit einer längst vergangenen Zeit beschäftigen. Um fehlende Textstellen zu ergänzen und meine Erinnerungen zu verifizieren, war es erforderlich, eine Reihe von Langzeitinsassen des Zuchthauses zu befragen; ich hoffe, das Ergebnis stellt Sie zufrieden und entspricht Ihren Wünschen. Was den historischen John Henry angeht, würde ich sagen, er hat vor ungefähr fünfzig Jahren tatsächlich gelebt und war ein kräftiger Mann, der tatsächlich den Tod fand, nachdem er in einem Wettkampf eine Dampfbohrmaschine übertrumpft hatte. Seine Frau war sehr klein und liebte ihn von ganzem Herzen. Mein Großvater mütterlicherseits war Bohrhauer und arbeitete damals, als Dampfbohrmaschinen noch nicht so verbreitet waren, bei sämtlichen Großprojekten im ganzen Land. Er prahlte immer damit, wie gut er mit dem Hammer habe umgehen können, und behauptete, keiner außer John Henry sei ihm darin über gewesen. Er sang von John Henry und erzählte von den alten Zeiten, als Hauer mit Hämmern die Arbeit der Dampfbohrmaschinen verrichteten. Weil ich damals noch ziemlich jung war, kann ich mich nicht mehr an alle Geschichten erinnern, die ich gehört habe, aber ich weiß, daß John Henry irgendwann in den Achtzigern, 1881 oder 1882, starb, auf jeden Fall einige Jahre vor meiner Geburt. Ich hätte gern ein Honorar für diese Information; ich bin Häftling hier im Ohio Penitentiary und mittellos, so daß ich mich über jedes Angebot von Ihrer Seite freuen würde. 1890 sangen die Leute in der Stadt das Lied von John Henry, einem Hauer. Ich arbeitete damals hier in Norfolk, Va., für Fenerstein und Co. in der Austernzucht, bin 66 Jahre alt und arbeite noch immer für dieselbe Firma. John Henry war Bohrhauer und wurde berühmt, als man mit dem Bau der C&O Railroad begann. Auch beim Ausbau der N&W Railroad war er dabei. In diesem Abschnitt arbeitete er um 1872 herum. Das war vor der Zeit der Dampfbohrmaschinen, und die Bohrarbeit wurde von zwei kräftigen Männern, speziellen Bohrhauern, verrichtet. Sie schlugen von beiden Seiten auf den Bohrstahl ein und sangen dabei ein Lied, das sie während der Arbeit improvisierten. John Henry war der berühmteste Bohrhauer, den man im Süden von West Virginia jemals kannte. Er war ein Prachtexemplar der Gattung Mensch, soll fast eins neunzig groß gewesen sein, wog zweihundertfünfundzwanzig oder -dreißig Pfund, hielt sich bolzengerade und war einer der stattlichsten Männer im Land – und, wie ein Informant mir erzählte, kohlrabenschwarz. Immer wenn eine spektakuläre Bohrleistung gefragt war, holte man John Henry, und es heißt, er habe seinerzeit schneller bohren können als zwei Männer zusammen. Er war ein leidenschaftlicher Spieler und weithin berühmt für sein Glück im Spiel. Für die dunkelhäutige Rasse im ganzen Land war er »der Größte überhaupt«, und vom Südabschnitt der West Virginia Line bis zur C&O bewunderten und liebten ihn sämtliche Negerfrauen. Außerdem vertrug er mehr Whisky als jeder andere und konnte wie kein zweiter die ganze Nacht durchzechen und dann den ganzen Tag Bohrlöcher treiben. Ein gutherziger Mensch von großer Körperkraft und angenehmen Umgangsformen, dabei aber ein Spieler, Wüstling, Säufer und wilder Raufbold. Ich heiße Harvey Hicks und wohne in Evington, Virginia. Ich schreibe Ihnen auf Ihre Anzeige im Chicago Defender. John Henry, heißt es, war ein Weißer. Er war Häftling, als er damals im Big Ben Tunnel als Bohrhauer arbeitete, und behauptete, er wäre schneller als die Dampfbohrmaschine. Sie sagten ihm, wenn das stimmt, würden sie ihn freilassen. Es heißt, er wäre ungefähr zweieinhalb Minuten schneller gewesen als die Dampfbohrmaschine und dann tot umgefallen. Er arbeitete mit einem Hammer, einem Neun-Pfund-Fäustel, in jeder Hand. Mein Onkel Gus (der Mann, der meinen Vater großgezogen hat), arbeitete beim Cursey Mountain Tunnel und kannte den Mann. Er sagte, John Henry sei Jamaikaner, hellhäutig und hochgewachsen gewesen und habe ungefähr 200 Pfund gewogen. Ich bin Dampflöffelbaggerführer oder »Baggerer« und habe die Bohrhauer mein ganzes Leben lang »John Henry« singen hören; wahrscheinlich gibt es viele Strophen, die ich gar nicht kenne, weil jeder neue »Nigger«, der als Bohrhauer arbeitete, einen neuen Vers zu »John Henry« beisteuerte. Persönlich habe ich John Henry nicht gekannt, aber ich habe mit vielen alten Hasen geredet, die ihn kannten. Er arbeitete für Langhorn und Langhorn an der Chesapeake & Ohio Ry. und konnte beim Big Bend Tunnel 9 Fuß Stahl schneller vortreiben als die Dampfbohrmaschine. Später wurde er wegen Mordes in Welch, Va., aufgehängt. Nachdem ich die »Spreu« ausgesiebt habe, kann ich Ihnen versichern, daß Obenstehendes zutrifft. Ich habe drei Versionen des Liedes gehört, und zwar meistens in derselben Gegend des Landes, nämlich West Virginia, Virginia, Kentucky, Tennessee und North Carolina, und nur selten anderswo, es sei denn, von Männern aus einem der obengenannten Staaten. Ich habe überall im Süden und Südwesten gearbeitet und den John-Henry-Song gehört, soweit ich zurückdenken kann, und es ist der Song, an den ich jedesmal zuerst denke. Ich glaube, die ganze Sache mit John Henry ist bloß so eine Geschichte, die jemand in die Welt gesetzt hat. Mein Vater hat für die Burleigh Drill Company gearbeitet und mir versichert, daß beim Big Bend Tunnel niemals eine Dampfbohrmaschine eingesetzt wurde. Er war Vertreter für Burleigh. John Henry war aus Holly Springs, Mississippi, gebürtig und kam 1880 nach Alabama, wo er beim Bau des Tunnels durch den Curzee Mountain für die AGS Railway arbeitete. Soviel ich gehört habe, war er tatsächlich schneller als die Dampfbohrmaschine, ist aber nicht an jenem Tag gestorben. Er kam einige Zeit später bei einem Einsturz ums Leben. Da ich im Staat Tennessee geboren und aufgewachsen bin und von daher hinreichend engen Kontakt zur dortigen Negerbevölkerung hatte, habe ich diese Lieder praktisch mein Leben lang gehört, bis ich vor sechs Jahren aus diesem Teil des Landes weggezogen bin. Nach meinen Informationen hat es John Henry wirklich gegeben, er war ein Nigger, der beim Bau eines Tunnels für eine der Eisenbahnen im Süden als Bohrhauer arbeitete. Von Rechts wegen gehört die Ballade den Eisenbahnarbeitern. John Henry war ein Eisenbahnarbeiter. Sie gehört den Hauern und Schippern, den Maultiertreibern, den Bohrhauern, den Männern der Arbeitslager. Sie wird überall von schwarzen Arbeitern gesungen, und niemand kann die Ballade so singen wie sie, weil niemand das Andenken von John Henry so ehrt und hochhält wie sie. Ich bin mein Leben lang ein Vagabund gewesen – seit ich mit Zwölf vor den Weißen davongelaufen bin – und habe von den Großen Seen bis Florida und vom Atlantik bis zum Missouri River mit meinen Leuten beim Eisenbahnbau gearbeitet, und überall, wo ich gearbeitet habe, habe ich immer jemand gefunden, der von John Henry singen konnte und das auch tat. John Henry, der König der Bohrhauer, stammte aus Alabama, und zwar aus der Gegend von Bessemer oder Blackton. Er war zwischen 45 und 50 Jahre alt und wog ungefähr 155 Pfund. Er war nicht tiefschwarz, sondern eher schokoladenfarben. Er hielt sich gerade und war sehr muskulös. Zum letztenmal sah ich John Henry, der Big John Henry genannt wurde, als es ihn und einen anderen Neger bei einer Sprengung erwischte. Man legte Decken über sie und trug sie aus dem Tunnel. Ich glaube nicht, daß John Henry bei dem Unfall ums Leben kam, weil ich nichts von seiner Beerdigung hörte, und die Vorarbeiter waren immer sehr darauf bedacht, sich um die Verletzten und die Toten zu kümmern. Ich weiß nichts davon, daß John Henry mit einer Dampfbohrmaschine um die Wette gebohrt hätte, und ich glaube nicht, daß ich im Tunnel jemals eine gesehen habe. Im Tunnel wurde von Hand gebohrt. In Schacht zwei wurde eine Maschine eingesetzt, um den Kübel hochzuziehen, wenn wir in den Tunnel einfuhren, aber eine Dampfmaschine oder Dampfbohrmaschine gab es dort nicht. Ich habe das Lied an tausend verschiedenen Orten gehört, Nigger-Sonderkolonnen, Landstreicher aller Sorten, Bergleute und Hochofenarbeiter, Fluß- und Kairatten, Strandgutsammler und Seeleute, Erntehelfer und Holzfäller. Einige davon betrunken und einige nüchtern. Es ist in sämtlichen Staaten und auch außerhalb davon verbreitet. Ich habe jede Menge Strophen gehört, die wortwörtlich aus anderen Liedern abgeschrieben oder je nach Gelegenheit improvisiert worden waren. Landstreicher, Gleisarbeiter und andere, die das Lied singen, glauben, daß John Henry ein Neger war, »ein kohlrabenschwarzer Mann«, wie es in einer halbvergessenen Strophe heißt, »ein großer Kerl«, wie ein alter Landstreicher einmal sagte. Er behauptete, er hätte ihn gekannt, aber er hatte sich mit billigem Roten betrunken, deswegen glaube ich...