E-Book, Deutsch, 500 Seiten
Wiesner-Bangard / Andreas-Salomé / Michaela Ruth. Erzählung
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-937211-00-8
Verlag: Welsch, Ursula
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
(PDF-E-Book)
E-Book, Deutsch, 500 Seiten
ISBN: 978-3-937211-00-8
Verlag: Welsch, Ursula
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Die Erzählung "Ruth" ist die erfolgreichste Publikation von Lou Andreas-Salomé zu ihren Lebzeiten. Die Geschichte des Mädchens, das sich mit ihrem unbändigen Lerndrang einen Platz im Herzen des Lehrers erobert und am Ende doch enttäuscht wird, traf genau den Geschmack der Zeit. Gerade die stark psychologisierende Innensicht war es, was die damalige Zeit bewegte - in der Ära zwischen Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud.
Das Buch erlebte zwischen 1895 und 1928 zehn Auflagen. Unter seinen Lesern sind berühmte Namen wie Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud.
Eine Schlüsselrolle fällt "Ruth" im Werk von Lou Andreas-Salomé zu, da sie hier erstmals eine jener Erzählungen schrieb, für die sie berühmt wurde: Geschichten von jungen Mädchen und Frauen an der Schwelle zum Erwachsenwerden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;4
2;Editorische Notiz;5
3;Zu Lou Andreas-Salome;6
4;Kapitel 1;8
5;Kapitel 2;93
6;Kapitel 3;177
7;Kapitel 4;267
8;Kapitel 5;356
9;Erläuterungen;476
10;Nachwort;479
11;Zeittafel;492
Kapitel 1 (S. 5-6)
In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle, langgezogene Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub. Die breite, ungepflasterte Straße, die sich, nicht weit von der russischen Hauptstadt, in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache Land erstreckte, lag einsam im Frühnebel da. Dann holperte ein Leiterwagen, mit einigen Möbelstücken bepackt, schwerfällig des Weges; der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz, warf den kurzen Schafspelz von den Schultern, und, im roten Hemde neben seinen beiden magern Gäulen hergehend, stimmte er eine Volksweise an, die schwermütig in den Vogelgesang hineinklang.
Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf, meist ein Holzbau, mit geschlossenen Fensterläden und bretterverschlagener Balkontür; oder es schimmerte ein Garten hervor, in dem man eifrig beschäftigt war, das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für den Sommer in stand zu setzen. Aber erst nach Beginn der städtischen Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig.
Der Möbelwagen hielt vor einem Hause, das ganz abseits, weit entfernt von jeder Nachbarschaft, zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas feuchtem Wiesengrund lag. Es war nicht sonderlich groß, besaß aber den schönsten Garten von allen. Die Frühlingsbäume, die es umstanden, breiteten einen zarten bräunlichen Schleier darüber, und rings über den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen Blattknospen.
»Die Pforte von außen aufstoßen!« schrie eine vergnügte Stimme in gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen, und gleich darauf kam ein halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen. Langsam bewegte der Wagen sich über den Kiesweg bis hinter das Haus, wo einige Stufen zur offenen Terrasse mit der Eingangstür emporführten.
Eine ältliche Magd, mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf, wartete schon unten, griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen