E-Book, Deutsch, Band 132, 354 Seiten
Reihe: Bauwelt Fundamente
Wilhelm / Jessen-Klingenberg Formationen der Stadt
1. Auflage 2005
ISBN: 978-3-7643-7676-5
Verlag: Springer
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Camillo Sitte weitergelesen
E-Book, Deutsch, Band 132, 354 Seiten
Reihe: Bauwelt Fundamente
ISBN: 978-3-7643-7676-5
Verlag: Springer
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Vorbemerkung;7
2;Ordnungsmuster der Stadt. Camillo Sitte und der moderne Städtebaudiskurs;15
2.1;Wien ist anders;15
2.2;Das Erbe der Romantik;16
2.3;Künstlerischer Städtebau und Conditio humana;34
2.4;Hygieias Erben oder Gesundung der Stadt;42
2.5;Urbane Psychogeographien;52
2.6;Großstadt – Landschaft – Seelenheilung;56
2.7;Mittelpunkt Europas: Weltstadt Wien;66
2.8;Individualisierungen: Großstadt und „kleine Leute“;77
2.9;Perspektivenwechsel;82
3;Detlef Jessen-Klingenberg. Camillo Sitte als „leidenschaftlicher Verehrer des Barock“. Zur Rezeption im Umfeld Werner Hegemanns;97
3.1;Posthume Rezeptionen in Deutschland und den USA
;100
3.2;Hegemanns Position als Architekturkritiker;106
3.3;Der Wettbewerb zum Ulmer Münsterplatz 1924/1925;108
4;Bibliographie zu den beiden vorstehenden Texten;119
5;Dokumente;129
5.1;Biographische Nachrufe und Korrespondenzen;129
5.2;Künstlerischer Städtebau: Formen idealer Raumbeherrschung;154
5.3;Weltstadt Wien: Formierung alter und neuer Attraktionen;186
5.4;Ränder der Weltstadt: Formationen der Stadtfl ucht;272
5.5;Chiffren der Großstadt: Formen realer Raumbeherrschung;312
6;Bibliographie zu Camillo Sitte;334
6.1;Personenverzeichnis;339
6.2;Orts- und Sachverzeichnis;344
6.3;Personenregister;347
6.4;Ortsregister;351
Karin Wilhelm Ordnungsmuster der Stadt. (S. 15-16)
Camillo Sitte und der moderne Städtebaudiskurs
„Das Individuum existiert nur in einem Netz vielfältiger sozialer Beziehungen, und diese Vielfalt erlaubt ihm, sein Spiel zu entwickeln. Eine hinlängliche Kenntnis der Gesellschaft ist notwendig, um beobachten zu können, wie sich die individuelle Person in ihr konstituiert, […]".1
Wien ist anders
In kaum einer anderen Stadt Europas ist man dem Wechsel der Zeiten zwischen Tradition und Moderne so charmant konfrontiert wie in Österreichs Hauptstadt Wien. Und nirgendwo wird die Nähe alter und neuer Lebensformen als gep. egtes Image der Stadt für den Fremden so kalkulierend subkutan in Szene gesetzt wie in dem Altstadtkern rund um den Stephansdom, in dem die Fiaker zwischen Automobilen und Fußgängern ganz selbstverständlich damit rechnen dürfen, daß sich der Verkehrsfluß des 21. Jahrhunderts in den engen Gassen ihrer langsamen Gangart protestlos unterwirft. Zum Urteil gehört daher die Meinung, daß Wien und alles Österreichische ein wenig zeitverzögert in die modernen, rationalisierten Lebensverhältnisse eingetreten und im 20. Jahrhundert mit dessen Sachlichkeit so recht nie angekommen seien.
Gewohnt, diese Entschleunigung als Zeichen des Wiener Gemüts und österreichischer Gemütlichkeit zu werten, bemerken Unkundige erst spät, daß diese eine besondere, versteckte Art von Geschäftigkeit ist, ein gut durchdachtes Spiel, das die Verkäuflichkeit des alten Stadtraumes mit der ihm eingeprägten Mentalität treffe ich ins Feld zu führen weiß. Erst dem aufmerksamen Beobachter gibt sich die vorherrschende Enge der Kernstadt als Geschäftsstadtbebauung des 19. Jahrhunderts zu erkennen, da die hochbarocke Palast- und Mietshausarchitektur, die das trauliche „Alt-Wien" des Mittelalters schon lange unter sich begraben hat, ihrerseits im forcierten Tertiarisierungsprozeß der Citybildung entlang der großen Verkehrsachsen demoliert wird und die Hauptstadt der k.u.k. Monarchie mit fünf- und sechsgeschossigen Pracht- gebäuden auf zumeist alten und nur partiell verbreiterten Straßenführungen mit imperialer Geste Anschluß an die Großstädte Europas sucht.
Das Geheimnis dieser Innenstadt, die heute den Takt der Pferde mit dem der virtuellen Kommunikation unterschwellig vereint, beruht auf dieser Überlagerung des alten „gewachsenen" Stadtgrundrisses mit den prächtigen Geschäftshäusern aus der Zeit der industriellen Urbanisierung. So gilt auch hier, was Jacques Le Rider in Hinsicht auf die Wiener Moderne bemerkt hat: Sie sei „weniger aggressiv als anderswo"3 aufgetreten. Nicht nur die Literatur der Wiener Moderne zeigt diese Prägung, auch die Architektur offenbart deren Spuren. Produziert wird sie in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einem vergleichsweise zögerlichen Stadtumbau, der im Kernbereich des alten Wien diese sonderbare Zurückhaltung zwischen Modernisierung und Tradition zu einer eigensinnigen Kipp. gur verschmolzen hat. Das unterscheidet die Hauptstadt Österreichs von der französischen, das macht sie träumerischer gegenüber der englischen und zur gelungenen Synthese im Vergleich mit dem zerrissenen Berlin. Sie ist, bei aller Vorsicht, in dieser wohltemperierten Langsamkeit ein Abbild des von Camillo Sitte propagierten neuen Wien und seines vielgelesenen Buches Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889. Dessen Entstehungsgeschichte ist mit der Entwicklung der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng verknüpft und birgt Geheimnisse, die erst vor dem Hintergrund der vielgestaltigen Einflußfaktoren zu enträtseln sind. (Dokumente S. 187ff)