Wilhelm | Sowas wie dein Papa | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Wilhelm Sowas wie dein Papa

Leben mit Pflegekind
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-446-27373-3
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Leben mit Pflegekind

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-446-27373-3
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was macht eigentlich einen guten Vater aus?

Ein junger Mann hat sich als potentieller Pflegevater beim Jugendamt beworben. Dann zieht von einem Tag auf den anderen das lebhafte Kleinkind Noah bei ihm ein.
Vom unerfüllten Kinderwunsch, über bürokratische Belange und das Einleben in den neuen Familienalltag - warm und authentisch erzählt Tobias Wilhelm von den Gefühlen und Unwägbarkeiten im Leben eines alleinerziehenden Pflegevaters, das sich am Ende doch kaum von dem eines „ganz normalen“ Vaters unterscheidet.

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Autoren/Hrsg.


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1 (K)ein ganz»normales« Kind
Die Kriseneinrichtung liegt am Stadtrand, in der Nähe eines Sees. Überall stehen Gründerzeitvillen mit parkähnlichen Gärten, saubere Bürgersteige und Bäume, in denen Eichhörnchen herumklettern. Der graue Zweckbau, in dem verschiedene Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht sind, wirkt in dieser Umgebung recht deplatziert. Genauso wie die quietschbunten Bobbycars, Laufräder und Rollschuhe, die im Vorgarten verstreut herumliegen. Mir fällt sofort auf, dass der Eingangsbereich videoüberwacht wird. Auch in der Türsprechanlage ist eine schwarze Kameralinse versenkt. »Dritter Stock«, schnarrt eine Frauenstimme, nachdem ich geläutet habe. Frau Seydel von der Familienberatungsstelle für Pflegefamilien holt mich oben an der Tür ab und ich folge ihr durch die Räumlichkeiten, die mich an eine Jugendherberge erinnern: Halboffene Türen geben den Blick auf Doppelstockbetten und robuste Holzmöbel frei. In der Luft hängt eine Mischung aus Citrus-Reiniger und Großküchenessen. Wir betreten ein großes Spielzimmer. Ich hatte erwartet, erst mit einer Erzieher*in oder der Leitung der Einrichtung sprechen zu können. Stattdessen werde ich jetzt von zwei kleinen, wachen Augen durchdringend gemustert. Das Mädchen hat braune, lockige Haare. Im Gesicht noch eine ordentliche Portion Babyspeck. »Das ist Leyla!«, sagt eine grauhaarige Frau, die ihr gerade aus einem Buch vorgelesen hat. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Während sie in Richtung der Küche verschwindet, um eine Flasche Wasser und Gläser zu holen, fragt Frau Seydel Leyla, ob sie mir ihre Spielsachen zeigen möchte. Das Mädchen nickt, präsentiert brav eine Puppe und ihr Schnuffeltuch. Dann schnappt sie sich ein neues Buch, wedelt damit herum. »Lelen, lelen?«, zielstrebig bugsiert sie mich in Richtung eines Haufens aus Sitzkissen. Leyla hüpft auf meinen Schoß, zeigt auf die Bilder und ich lese die dazugehörigen Texte vor. Plötzlich breitet sich ein nasser Fleck auf Leylas Hose aus — das Mädchen quietscht laut auf. »Oh, ist die Windel geplatzt?«, meint eine junge Frau lachend, die neben uns Spielsachen in einen Schrank sortiert. Sie schnappt sich das Mädchen. »Ich geh sie mal kurz wickeln, ja?« Im Vorgespräch mit dem Jugendamt konnte ich aus Gründen des Datenschutzes nur wenig über Leyla erfahren. Ich nutze deshalb die Unterbrechung, um mit der älteren Erzieherin ins Gespräch zu kommen, die inzwischen mit dem Wasser zurückgekommen ist. Sie erzählt mir, dass Leyla vor einem halben Jahr zusammen mit ihrem kleinen Bruder und ihrer Mutter in die Kriseneinrichtung gekommen sei. Mit dem Vater habe es »Probleme« gegeben. Nach einigen Wochen sei die Mutter dann aber — ohne Kinder — zu ihrem Lebensgefährten zurückgekehrt. »Und das geht einfach so? Dass sie die Kinder hierlässt, meine ich?« Ganz habe ich die Funktion einer solchen Einrichtung noch nicht verstanden. Die Erzieherin zuckt resigniert mit den Schultern. »Sie durfte die halt nicht mitnehmen. Vom Amt aus. Erst war eine Rückführung geplant, aber dann …« Wieder zuckt sie mit den Schultern und verstummt. »Was dann? Wie ging es weiter?« »Na ja …«, die Erzieherin schaut kurz zu Frau Seydel, die am anderen Ende des Raumes steht und etwas in ihr Handy tippt, und spricht mit gedämpfter Stimme weiter. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen darf. Wegen Datenschutz … Leyla ist nach einem Umgang mit einer Brandwunde am Arm zurückgekommen. Die Eltern haben sich widersprochen, wie das passiert ist. Das Amt hat die Rückführungspläne dann sofort gestoppt.« »Ihr wurde Gewalt angetan!«, schießt es mir durch den Kopf. Frau Seydel hatte bisher nur von Überforderung und Vernachlässigung gesprochen. Ich nippe an meinem Wasser, als die Tür sich öffnet und Leyla zurück ins Zimmer geschoben wird. Lächelnd stürmt sie auf mich zu, umschlingt meine Beine. »Arm! Arm!« Ich stelle das Wasser ab, hebe sie hoch und gehe mit ihr zur Spielecke zurück. Plötzlich spüre ich einen stechenden Schmerz in meinem Oberarm. Mit voller Kraft kneift Leyla in die Haut unter meinem T-Shirt-Ärmel. »Ey, das tut weh!« Ich setze das Kind auf dem Boden ab, während die Erzieherin zu uns eilt. »Nicht kneifen!« Sie packt Leyla an den Schultern, schaut sie streng an. Dann wirft sie mir einen entschuldigenden Blick zu: »Das macht sie leider ständig.« »Ist ja auch eine überfordernde Situation!«, merkt Frau Seydel an und schlägt vor, runter in den Garten zu gehen. In einem Sandkasten backe ich mit Leyla Sandkuchen, doch irgendwie will der Funke nicht so richtig überspringen. Was andere wahrscheinlich als süß empfinden würden — Schmollmund, Augenaufschlag, gekünstelte Babysprache, viel Körperkontakt —, irritiert mich eher. Bei der Verabschiedung hinterlässt Leyla auf meiner Haut ein zweites Fingernagel-Tattoo. »Aua«, sage ich laut, doch die Dreijährige lockert ihren Griff deshalb nicht, sondern lächelt mich stattdessen verbissen an. Macht es ihr Spaß, mir wehzutun? Auf der Rückfahrt rufe ich meine Mutter an und erzähle ihr von dem Treffen. Sie spricht aus, was ich denke: »Sie kann nichts dafür, klar. Aber dieses Mädchen hat ein ernsthaftes Problem. Mich würde das komplett überfordern. Und vergiss nicht, dass du mit dem Kind allein sein wirst. Da ist sowieso alles doppelt anstrengend.« Ich nicke unwillkürlich. »Ja, da ist was dran.« Als ich das Auto zwanzig Minuten später vor meiner Wohnung parke, habe ich mich bereits entschieden: Ich möchte Leyla nicht bei mir aufnehmen. Zu Hause sitze ich in der Küche und schaue aus dem Fenster. Vor ein paar Wochen hätte ich noch mit meinem Mitbewohner Ulrich über alles sprechen können, doch der ist inzwischen ausgezogen. Das direkte Zusammenleben mit einem Kind konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Allein hänge ich meinen Gedanken nach. Ist es richtig, sich so schnell gegen eine Aufnahme von Leyla zu entscheiden, oder soll ich noch eine Nacht über alles schlafen? Werden auch die anderen Kinder, die man mir vorschlagen wird, so verhaltensauffällig wie Leyla sein? Und sollte ich dann trotzdem eines aufnehmen, obwohl ich eigentlich ein Kind ohne schwerwiegende Traumata großziehen möchte? Mit dreizehn Jahren hielt ich zum ersten Mal meinen jüngsten Cousin in den Armen, der damals erst ein paar Tage alt war. Ich umschloss seine winzige Hand mit meiner, schaute in schwarze, unruhig umherwandernde Knopfaugen. Ab diesem Zeitpunkt fühlte ich mich innerlich dazu bereit, Vater zu werden. Als eine Klassenkameradin mit fünfzehn — und nicht von mir — schwanger wurde, malte ich mir aus, wie ich das Kind mit ihr zusammen großziehen und wir das alles schon irgendwie schaffen würden. Später spielte das Thema »Kinder kriegen« in all meinen Langzeit-Beziehungen eine Rolle. So auch bei meiner letzten Freundin Agnieszka. Nach vier Jahren Beziehung hörten wir auf zu verhüten. Wir hatten ausreichend Einkommen, unsere Wohnung war sowieso groß genug und wir trauten uns diesen nächsten Schritt zu — alles passte. Anfangs verspürten wir keinen Druck, achteten deshalb nicht auf Agnieszkas fruchtbare Tage, sondern schliefen so wie bisher miteinander — also immer, wenn wir Lust dazu hatten. Erst als es nach einem knappen Jahr noch nicht »geklappt« hatte, markierte meine damalige Freundin ihre fruchtbaren Tage im Wandkalender. Anfangs konnte ich diesem »Kalender-Sex« noch etwas abgewinnen. Sobald der Wecker morgens geklingelt hatte, begann die erste Runde. Abends, wenn wir von der Arbeit nach Hause gekommen waren, die zweite. Nachdem wir miteinander geschlafen hatten, lagen wir eng umschlungen da und dachten voller Vorfreude laut über unsere Zukunft als Familie nach. Wenig später bekam Agnieszka ihre Periode und wir wussten: Es hatte wieder nicht geklappt. Irgendwann kam ich mir beim Sex wie ein Roboter vor. Es ging nicht mehr um Leidenschaft, um Lust, sondern lediglich um die Befruchtung von Eizellen. Ob wir Spaß hatten, war egal, allein das Ergebnis zählte. Und das lautete jeden Monat weiterhin: nicht schwanger. Wie die meisten Männer ging ich immer davon aus, dass mit mir — beziehungsweise meinen Spermien — schon alles in Ordnung sei. Erst als Agnieszka von ihrer Frauenärztin uneingeschränkte Empfängnisbereitschaft bescheinigt worden war, vereinbarte ich...


Wilhelm, Tobias
Tobias Wilhelm, geboren 1988 in Wiesbaden, studierte Drehbuch und Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg. Bei hanserblau ist Weißer Asphalt von ihm erschienen. Im Dezember 2018 haben Tobias und seine Freundin ein Pflegekind aufgenommen. Mittlerweile sind sie getrennt, das Kind wechselt zwischen ihnen beiden. Gemeinsam mit seinem Sohn wohnt Tobias Wilhelm in Berlin.



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