E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Reihe: Biografien
Winkler Johann Andreas Schmeller
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7917-6265-4
Verlag: Pustet, F
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Reihe: Biografien
ISBN: 978-3-7917-6265-4
Verlag: Pustet, F
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I Die Herkunft
1 Im Grenzland: „ein Völklein, der Willkür so vieler heimgegeben“
Johann Andreas Schmellers Familie stammte aus der nördlichen Oberpfalz, einer damals dünn besiedelten Gegend mit steinigem Boden und rauem Klima. Dieser Erde ließ sich nur mühsam ein karger Ertrag abringen, und die Arbeit in den ausgedehnten dunklen Wäldern forderte immer wieder ihre Opfer. Bereits zu Schmellers Zeiten wurde die „obere Pfalz“ als „Stoapfalz“ abschätzig beurteilt.1 In seinem Bayerischen Wörterbuch hält er die öffentliche Meinung fest: Die (obere) Pfalz hat nach einer scherzhaften Volks-Etymologie ihren Namen von dem Ausruf: pfàlts·! (behalte sie), mit welchem der Teufel gegen ihren Besitz protestierte, als Gott der Herr bey Vertheilung der Länder der Erde diesen unfruchtbaren Erdstrich ihm zuweisen wollte.2 Die Bewohner mussten sich nicht nur gegen eine unwirtliche Natur behaupten. Jahrhundertelang waren sie politischer Willkür ausgesetzt, hatten schweigend zu erdulden, was ihnen von der jeweiligen Herrschaft auferlegt wurde. Diese Erfahrungen hinterließen ihre Spuren.3 Im Fränkischen Reich war die Oberpfalz ein sicherheitspolitisch wichtiges, stets bedrohtes Grenzgebiet gegen die Slawen im Osten.4 Das Mittelalter brachte wirtschaftliche Blüte. Zahlreiche Eisenhämmer und Glashütten sorgten für Lohn und Brot; Kaiser Karl IV. förderte mit Privilegien und einem gut ausgebauten Straßennetz Handel und Gewerbe. Dann leiteten die Hussitenkriege im 15. und der Dreißigjährige Krieg im 17. Jahrhundert den Niedergang ein. Deutsche sowie fremde Söldnertruppen durchzogen plündernd und brandschatzend das Land, zerstörten die Hämmer, Gruben und Hütten und massakrierten die Bewohner. Schließlich raffte die Pest viele der Überlebenden hin. Den so arg heimgesuchten Menschen fiel es schwer, jenen religiösen Trost zu finden, mit dem man sonst schlimme Schicksale geduldig ertragen hatte. Denn der durch die jeweilige Herrschaft wiederholt erzwungene Konfessionswechsel rüttelte an den von alters her vertrauten Grundüberzeugungen des bäuerlichen Volkes. Die Bewohner hatten das Bekenntnis der jeweiligen Herren anzunehmen: katholisch, lutherisch, reformiert, dann wieder katholisch. Zwischen 1701 und 1714 zog der Spanische Erbfolgekrieg das Land erneut in ein blutiges Geschehen. Und schließlich trieben die Hungerjahre von 1770 bis 1772 die Preise in unerschwingliche Höhen. Die Oberpfalz wurde zum Armenhaus Europas. Mehr als anderswo in Bayern erfuhr man hier die Grenzen der eigenen existenziellen Möglichkeiten: ein gefundenes Revier für die Schwermut, die oft die harte Arbeit stumm begleitete. Es war ein mühevolles Leben im zähen Ringen mit der Natur, zwischen Kriegselend und Fürstengier. Vielen boten sich nur zwei Möglichkeiten: entweder das unvermeidliche Elend zu ertragen oder die Heimat zu verlassen, um „ins Bayern“ zu ziehen, wo man sich eine bessere Zukunft erhoffte. Obwohl Schmeller die Heimat seiner Vorfahren nur aus den Erzählungen der Eltern und von wenigen späteren Besuchen kannte, fühlte er sich in deren bitteres Schicksal eingebunden. Seine besondere Sympathie für diese Gegend dokumentieren die im oberpfälzer Dialekt verfassten Textproben in seinen Mundarten Bayerns und die zahlreichen Sprachzeugnisse im Bayerischen Wörterbuch, die er oft mit längeren Ausführungen zu Kultur und Brauchtum versah.5 Eine aufschlussreiche Aussage findet sich unter dem Stichwort Pfalz im Bayerischen Wörterbuch. Die hier den Oberpfälzern zugewiesenen Eigenschaften gewähren auch einen Blick in Schmellers eigenes Wesen: Sollte es, was ich übrigens in Abrede stelle, Grund haben, daß der Ober-Pfälzer bey seinem undankbaren Boden im Durchschnitt betriebsamer und nachdenkender, aber auch verschloßner und eigennütziger sey, als der Bayer: so wäre besonders der letztere Umstand nur mit ein Beweis, daß die Schicksale eines Volkes nicht ohne bedeutenden Einfluß auf seinen Karakter bleiben. Bey einem Völklein das, der Willkür so vieler und so oft wechselnder Herren heimgegeben, noch dazu von allen Kriegsübeln doppelt getroffen wurde, das auf das Machtgebot seiner Fürsten binnen hundert Jahren bald lutherisch, bald calvinisch, bald wieder gut catholisch werden mußte, das also im Öffentlichen wenig Halt finden konnte, wäre es wol verzeihlich gewesen, wenn sich ein Jeder mit mistrauischem Blick in sich selbst zurückgezogen und sich gewöhnt hätte, so viel als möglich nur für sich und die nächsten Seinigen zu leben.6 Schmellers eingeschobene Nebenbemerkung erweckt den Eindruck, als bestritte er die bekannten Klischees. Dies scheint seine Formulierung zu bestätigen, mit der er die Realität in ein bloßes Gedankenspiel verwandelt. Doch seine nachsichtige und verständnisvolle Kommentierung widerspricht dieser Vermutung. Sie weist eher in die Richtung eines scheuen Bekenntnisses, der etwas verlegenen Aussage eines selbst Betroffenen, der sich nicht festlegen und dennoch erklären möchte. Offenbar gibt der Verfasser hier öffentlich preis, was er sonst der Intimität seines Tagebuchs vorbehält. Schmeller spricht vom schweigsamen, in sich gekehrten Oberpfälzer. Er führt die hier deutlicher als anderswo in Bayern erkennbaren Eigenschaften neben der ungastlichen Natur auf die politische und religiöse Unbeständigkeit dieser Region zurück. Obwohl er den Begriff „Grenze“ nicht erwähnt, färbt dieser doch mit seinem vielschichtigen und ambivalenten Inhalt den Hintergrund seiner Beobachtungen.7 Als strukturierende und formgebende Elemente machen Grenzen einen Gegenstand bestimmbar und beschreibbar, sie legen fest, was hier ist und was dort, was vertraut ist und was fremd, und lassen Eigenes durch Konfrontation mit Fremdem bewusster wahrnehmen. Grenzen vermitteln einerseits das Gefühl von Schutz und Geborgenheit und schüren andererseits die Furcht vor Unbekanntem. In Grenzgebieten begleiten Risiken und Gefahren das Leben und kennzeichnen es als stetes Wagnis. Sie fördern, meint Schmeller im Blick auf die Oberpfalz, ein wachsames und vorsichtiges Verhalten, Handlungen erfolgten bedächtiger und überlegter als anderswo; deshalb sei es verständlich, wenn der Mensch sich verschließe und in sein Inneres zurückziehe. Grenzen können aber auch als Beengung und Einschränkung erfahren werden. Dann motivieren sie zu Aufbruch und Überschreiten. Für einige ist es die Lust auf Abenteuer, für andere die letzte Hoffnung, Not und Elend zu entkommen. „Grenze“ besaß für Schmeller neben einer geographischen eine politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Dimension. Als er diesen Text verfasste, hatte ihn das Leben längst gelehrt, in einer Welt vorsichtig und misstrauisch zu sein, die nach Stand, Kapital und Grundbesitz urteilte, Menschen seines Standes aus ihren Kreisen ausschloss und deren Entfaltungsmöglichkeiten einschränkte. Die demütigende Erfahrung der herablassenden Geste, der sozialen Ausgrenzung und der Teilnahmslosigkeit angesichts wirtschaftlicher Not erhöhte seine Achtsamkeit und verstärkte die Skepsis gegenüber Machthabenden. Wiederholt musste er erleben, wie eigene Fähigkeiten auf willkürliche, von Politik und Gesellschaft gesetzte Barrieren stießen, sich verausgabten und erschöpften. Mit dem Adjektiv betriebsam deckt er ein breites Spektrum an Verhaltensweisen ab, das von Gewissenhaftigkeit, Fleiß und Durchhaltewillen bis zu einem Aktionismus reicht, der den bloßen Tätigkeitsdrang übersteigt. Schmeller wusste, dass abweisende und ausgrenzende Kräfte diesen Drang auslösen und ins Übereifrige und Gehetzte steigern können. Zeit seines Lebens litt er unter dem quälenden Trauma seines Standes, in höheren Schichten ein Fremder unter Fremden zu sein. Es gelang ihm nicht, eine von Kindheit an belastende Unsicherheit abzulegen. Wie oft beschreibt er in seinen Tagebüchern und Briefen das Unbehaustsein eines Grenzgängers zwischen den sozialen Welten, eine Erfahrung, die ihn wie ein dunkler Schatten verfolgte.8 2 „Griesbach, meiner Eltern und Voreltern Heimat“
Von Griesbach, dem höchstgelegenen Pfarrdorf der Oberpfalz öffnet sich der Blick weit hinein ins waldreiche Stiftland. Diesen östlich von Tirschenreuth gelegenen Ort mit Weiher, Wirtshaus und Kirche in seiner Mitte nennt Schmeller seiner Eltern und Voreltern Heimat.9 Hier und in den Dörfern und Weilern der näheren Umgebung waren seine Vorfahren als Bauern ansässig gewesen. Die Quellen sprechen von „rusticus“ und „colonus“ („Bauer“, „Pächter“, „Siedler“). Wie in vielen ländlichen Gebieten orientierte man sich an den Hausnamen, die, lange bevor es Straßennamen gab, ein Anwesen benannten. In Griesbach galt das Kramerhaus als Stammhaus der Schmellers: Um 1700 soll ein erster Schmeller als verabschiedeter (preußischer?) Soldat sich als Krämer zu Griesbach angekauft haben, sagt (1834) die auf dem Krämerhause geborne Walburga Schmeller.10 Gegen 1800 tauchen die Bezeichnungen „ Kohlhansen“ und „ Kohladl“ auf.11 Weitere nach dem Hausnamen genannte Verwandte waren der Hopf: Schmellers Onkel Johann Michael Schmeller (1751–1820), der Schômer: Johann Anton Schmeller (1755–1831), ein weiterer Onkel, der das elterliche Anwesen mit Schankstätte bekam, und der Oelkasper: Georg Adam Hecht (1757–1819), Bauer und Wirt in Griesbach, Bruder von Schmellers Mutter.12 Der früheste Eintrag in den...