Witte | Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Witte Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung

Von archaischen Kulturen bis zur Renaissance
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8353-4569-0
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Von archaischen Kulturen bis zur Renaissance

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4569-0
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was offenbart die historische Entwicklung der Mathematik über die Menschen, die sie betreiben oder anwenden? Was verrät sie über uns selbst und über die Gesellschaft, in der wir leben?

Keine Wissenschaft spielt eine so dominante Rolle in unserer heutigen Kultur wie die Mathematik: Ohne sie wären die atemberaubenden Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik nicht möglich gewesen, denn das Prinzip der (mathematischen) Vorhersagbarkeit ist Grundlage jeder wissenschaftlichen Theorie. Dieser Vorhersagbarkeit liegt auch eine zeitliche Dimension zugrunde, sie sagt eine Bewegung voraus: die Einheiten, in denen diese gemessen wird, sind etwa Zeit, Strecke, Geschwindigkeit, Beschleunigung oder Kraft.
Der Mathematiker Jörg Witte zeigt, was unser naturwissenschaftliches Weltbild über unser Selbstverständnis aussagt und wie sich dieses historisch entwickelt hat. Auf anschauliche Weise und mit einem niedrigschwelligen Zugang legt der Autor dar, wie sich die kulturellen Voraussetzungen im Wandel der Zeit verändert haben und welche Bedeutung dabei das Subjektverständnis zur eigenen Stellung in der Welt spielt.

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1. Zeit und Zahl in der Erinnerungskultur der Neuzeit
Prolog
Während der Renaissance fanden erhebliche Umwälzungen des gesellschaftlichen Lebens statt. In der Folge wurde das Mittelalter von der Neuzeit abgelöst. Der selbstbewusste Mensch der Neuzeit betrat die Bühne der Geschichte; in den Stadtstaaten Oberitaliens, aber auch in Nordeuropa entwickelten sich bürgerliche Gesellschaften; es entstanden die Naturwissenschaften und Technik. Ihre Grundlagen sind empirische Beobachtungen während eines Experimentes oder Naturbeobachtungen, wie z. B. astronomische Beobachtungen, und die Mathematik, die nach einer Phase der Stagnation während des Mittelalters in der Neuzeit eine rasante Entwicklung erfuhr. Die bei einem Experiment oder in der Natur beobachteten Erscheinungen und Ereignisse begegnen einem Wissenschaftler nacheinander in einer linearen zeitlichen Reihenfolge. Ein Naturgesetz ist eine Aussage über den linearen Zeitverlauf von gewissen Bewegungen oder Veränderungen in der Natur, die von Bewegungen verursacht werden. Ein Naturwissenschaftler kann ein Ereignis vorausberechnen, wenn er ein geeignetes Naturgesetz kennt. Während eines Experimentes zeigt sich der Zeitverlauf gewisser Bewegungen oder Veränderungen. Dafür werden im Allgemeinen Gegenstände und ihre räumlichen Beziehungen mit ihren zeitlichen Veränderungen beobachtet und eine Ortsveränderung gemessen, etwa die eines Massekörpers oder elektrisch geladenen Teilchens, die Ausdehnung einer Feder oder der Quecksilbersäule eines Thermometers, mechanische oder elektromagnetische Schwingungen. Durch die Beobachtungen kann ein Naturgesetz bestätigt oder widerlegt werden. Welches sind die Impulse für die Entwicklung? Gibt es einen Zusammenhang des Selbstbewusstseins des modernen Menschen mit den Naturwissenschaften auf Basis der Empirie und der Mathematik? Der Mensch der Neuzeit unterscheidet sich nicht nur durch sein Selbstbewusstsein, sondern auch durch sein Gegenstandsbewusstsein und seine Mobilität von den Menschen des Mittelalters. Der neuzeitliche Mensch steht einem Gegenstand gegenüber. Er bezieht sich in seinem Wahrnehmen und Vorstellen räumlich auf den Gegenstand – und kann sich so von dem Gegenstand unterscheiden, eine zwingende Voraussetzung für sein Selbstbewusstsein. Räumliche Beziehungen erfahren wir durch Bewegung. Erfahrungen, insbesondere Erfahrungen durch Bewegung, setzen ein gewisses Erinnerungsvermögen voraus. Ich werde darlegen, dass Selbst- und Gegenstandsbewusstsein sowie Mobilität durch eine Art des Erinnerns in einem Zusammenhang stehen. Durch die Art des Erinnerns erfährt der neuzeitliche Mensch lineare Zeitverhältnisse, Merkmale der Ordinalzahlen, mit denen er Ereignisse linear zeitlich anordnen kann, und Merkmale der reellen Zahlen, mit denen er Zeitbestimmungen vornehmen kann. Im Mittelalter waren reelle Zahlen noch unbekannt. Wir werden die neuzeitliche Erinnerungskultur im Kontrast zur mittelalterlichen Erinnerungskultur[3] erkennen. Der moderne Mensch erlangt Selbstbewusstsein, indem er sich von den Gegenständen unterscheidet, zudem erlangt er ein Gegenstandsbewusstsein. Die Gegenstände erscheinen ihm. Eine Erscheinung eines Gegenstandes scheidet seine Außenwelt von seiner Innenwelt. Sinneseindrücke eines Gegenstandes erhält er passiv von außen,[4] von innen her erkennt er sie aktiv, wenn auch meistens routiniert, als Eigenschaften des Gegenstandes.[5] Eine Erscheinung eines Gegenstandes besteht aus Sinneseindrücken, die als Eigenschaften eines Gegenstandes erkannt sind. Sie kann der neuzeitliche Mensch verinnerlichen. Anschließend kann er sich erinnern, dass er einen Gegenstand wahrgenommen hat, dass dieser ihm erschienen ist. Dabei erfährt er, dass er im Wechsel der Erscheinungen stets derselbe bleibt. Er erinnert sich daran, dass er selbst – der Erinnernde – den Gegenstand wahrgenommen hat, dass er ihm erschienen ist. Diese Art der Erinnerung nennen wir eine episodische Erinnerung. Eine episodische Erinnerung unterscheiden wir von einer semantischen Erinnerung, die ein Wissen ist, das wir in das Gedächtnis eingeprägt haben. So können wir z. B. wissen, dass Caesar 44 v. Chr. ermordet wurde, ohne uns episodisch an das Ereignis zu erinnern, ohne dass wir uns an eine wahrgenommene Erscheinung des Ereignisses erinnern. Der Wechsel der Erscheinungen deutet auf Bewegungen – nicht nur auf Bewegungen der Gegenstände, der moderne Mensch selbst erlangte während der Renaissance eine ganz neue Form der Mobilität, war nicht länger überwiegend ortsgebunden, wie noch im Mittelalter. Der mittelalterliche Mensch hatte in den Gegenständen religiöse Sinnbilder wahrgenommen, Symbole oder, in der Natur, Stimmungsbilder – und weniger Erscheinungen der Gegenstände. Die Wahrnehmung änderte sich daher durch Bewegungen nur geringfügig. Die Bedeutung religiöser Symbole oder Merkmale der Stimmungsbilder entnahmen sie dem semantischen Gedächtnis, während der Mensch der Neuzeit den Wechsel der Erscheinungen durch episodisches Erinnern erfährt. So symbolisieren die Größenverhältnisse abgebildeter Personen auf mittelalterlichen Bildern ihren sozialen Rang, aber sie drücken nicht die Entfernungsverhältnisse aus. Angehörige des Adels und des Klerus wurden stets größer dargestellt als Bauern oder Leibeigene. In den Bildern der Renaissance können wir dagegen die Entfernungsverhältnisse der abgebildeten Gegenstände erkennen, wie sie der moderne Mensch durch seine Mobilität und den dadurch hervorgerufenen Wechsel der Erscheinungen erfährt. Das episodische Erinnern fügt das Selbst- und das Gegenstandsbewusstsein sowie die Mobilität zu einem organischen Ganzen zusammen. Das episodische Erinnern begann zur Zeit der Renaissance die Kultur der Neuzeit zu prägen. Die episodische Erinnerungskultur erfasste bereits in dieser Zeit alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – die Politik, die Wirtschaft und die Kultur. Während im Mittelalter die Machthaber über Ländereien herrschten, wurde in den Städten der Renaissance das gesellschaftliche Leben linear zeitlich organisiert, also in solchen zeitlichen Verhältnissen, wie sie der neuzeitliche Mensch durch episodisches Erinnern erfährt. Sinnfälliger Ausdruck dafür ist die öffentliche Uhr, die auf dem Rathaus oder einem Glockenturm angebracht wurde. Der selbstbewusste Bürger verlangte zudem nach politischer Mitbestimmung. In der arbeitsteiligen Wirtschaft stellt er seine Arbeitszeit, an die er sich später episodisch erinnern kann, anderen Menschen zur Verfügung und erwartet dafür eine Gegenleistung. Durch Handelsreisen trat die Mobilität des modernen Menschen in Erscheinung. Die antike griechische Geometrie wurde in der Kartographie und Navigation angewendet. Sinn und Zweck von Kartographie und Navigation war es, den eigenen Standpunkt zu bestimmen, der durch die Zentralperspektive der Malerei in der Renaissance ebenfalls ausgedrückt wurde. Das Bewusstsein über den eigenen Standpunkt ist also Ausdruck des Selbstbewusstseins, der Mobilität und des Gegenstandsbewusstseins. Auch dem kopernikanischen Weltbild liegt das Bewusstsein der eigenen Perspektive zugrunde. Die Astronomen der Renaissance waren sich darüber bewusst, dass sie mit ihren Fernrohren die Planeten aus einer irdischen Perspektive beobachteten – und, zumindest theoretisch, jede andere Perspektive einnehmen konnten. Der Mensch der Renaissance erfuhr durch episodisches Erinnern, dass er einen Wechsel der Erscheinungen dadurch verursachen konnte, dass er sich selbst oder einen Gegenstand bewegte. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung entstand die Naturwissenschaft. In einem wissenschaftlichen Experiment veranlasst ein Wissenschaftler Bewegungen, er bewegt etwas. Die Bewegungen bewirken einen Wechsel der Erscheinungen, die der Experimentator beobachtet, um Zusammenhänge der Erscheinungen zu erkennen – sogenannte Naturgesetze. Sie wendet der Ingenieur an, um Bewegungen seiner Maschinen zu kontrollieren und zu steuern. Mit den Bewegungen halten wir den Schlüssel in der Hand, um uns die Bedeutung der Mathematik in Naturwissenschaft und Technik zu erschließen. Eine Bewegung hat zwei Aspekte: Raum und Zeit. Die räumlichen Verhältnisse einer Bewegung erfassten die Wissenschaftler und Ingenieure der Renaissance durch die antike, griechische Geometrie, die von Euklid überliefert wurde. Mit der Zeit entstand aber während der Renaissance etwas Neues, nämlich die moderne lineare Zeit. Zeitliche Verhältnisse können wir durch die Arithmetik erfassen, z. B. kann mit den Ordinalzahlen der modernen Mathematik eine linear zeitliche Reihenfolge begriffen werden. Auch die reellen Zahlen sind linear geordnet und haben die Struktur des Zeitkontinuums der Physik. Lineare Zeitvorstellungen der Renaissance sind eine Erscheinungsform der episodischen Erinnerungskultur. Wenn ich mich episodisch daran erinnere, dass ich ein Ereignis erlebt habe und daran, dass ich mich während des Ereignisses an ein anderes Ereignis episodisch erinnert habe, dann habe ich eine Reihenfolge der Ereignisse erfahren. Ich habe erlebt, dass das letzte Ereignis während des ersten bereits vergangen war. Eine derartige Erinnerung an eine Erinnerung nennen wir eine rekursive Erinnerung. Eine lineare Anordnung von Ereignissen, d. h. eine Reihenfolge von Ereignissen, kann ich durch rekursive episodische Erinnerungen erfahren. Eine Erinnerung kann ich jedoch auch durch die Verwendung von Ordinalzahlen strukturieren: erstes Ereignis, zweites Ereignis, drittes Ereignis usw. Dadurch wird das Gedächtnis erheblich entlastet, denn die Struktur der Ordinalzahlen besitzt selbst das Merkmal der Rekursion. Im 16. Jahrhundert wurde zum ersten Mal...


Witte, Jörg
Jörg Witte ist Dozent für Mathematik und Informatik an der HAWK Göttingen.



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