E-Book, Deutsch, Band 2, 192 Seiten
Wojdowski / Czerwiakowski / Feuchert Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die Welt
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8353-4805-9
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, Band 2, 192 Seiten
Reihe: Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur
ISBN: 978-3-8353-4805-9
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen aus dem Warschauer Getto und vom Leben auf der Flucht: Bogdan Wojdowskis Prosa kommt der Wirklichkeit des Nicht-Erzählbaren so nah wie kaum eine andere Literatur.
Was Bogdan Wojdowski in seinem Opus Magnum 'Brot für die Toten' mit dem langen Atem des Romans entfaltet hat, verdichtet sich in den Erzählungen mit expressiver Energie. Die ersten sechs Erzählungen geben in knapper Konzentration Szenen aus dem Alltag des Warschauer Gettos wieder. Die letzte, breit ausgearbeitete Erzählung – 'Der Weg' – handelt von der Flucht eines jüdischen Mädchens aus dem Getto ins Warschauer Umland. Stets in Gefahr, entdeckt und verraten zu werden, schlägt die Jugendliche sich durch, kämpft um ihr nacktes Überleben.
Wojdowski schrieb diese Erzählung auf der Grundlage eines authentischen Berichts – unter dem Eindruck der geschilderten Erlebnisse, die seinen eigenen sehr ähnlich waren. Er selbst war 1942 aus dem Warschauer Getto geflohen und hatte dank der Unterstützung durch mehrere Polinnen und Polen in Verstecken im Warschauer Umland überleben können.
Die Reihe 'Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur' stellt herausragende Werke einer essentiellen Erinnerung vor - teils in Neuauflagen bereits existierender Übersetzungen, teils in Erstübersetzungen. Der zweite Band der Reihe führt aus der Sphäre des Gettos in die Wirklichkeit des besetzten Polens, in dem jeder Quadratmeter ein Ort tödlicher Gefahr ist.
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Erzählungen von jenseits der Mauer
Ein kleines Menschlein, ein stummes Vögelchen, ein Käfig und die Welt
Für Izaak Celnikier »Belcia! Bei so einem Wetter, bei so einem Schnee!« Eis hatte sie auf dem Kragen und auf dem Kopftuch, die grauen Strümpfe silbern bestäubt, helle Tropfen in Wimpern und Haaren. Alle starrten sie an wie eine Erscheinung. Wie war sie hierhergekommen? Allein? Lange stampfte sie im Flur mit den Füßen, schüttelte den Schnee von ihrem Mäntelchen, und später trat sie ein und sagte?: »Guten Tag.« Und wo war der Rest, wo waren die anderen? Sie waren durchgekommen? Wenn sie durchgekommen waren, war es gut. Aber wozu war sie zurückgekehrt? Was erwartete sie hier Gutes? Das ist ein Los! In so einem Frost gehen Kinder zu Fuß vom Bug bis direkt nach Warschau. Wer hat so etwas je gehört? Entweder sie zerren am Bart und befehlen, eine Armbinde mit Stern zu tragen oder für den Grenzübertritt zu bezahlen. Denen, die hinüberkommen, und denen, die nicht hinüberkommen. Alles gehupft wie gesprungen. Du bist selber schuld, Jude. Und es kommt noch schlimmer. Sie standen gestikulierend im Kreis, und Belcia hielt die Füße in eine Schüssel mit brühendheißem Wasser. Solche Kosten, solch ein Verlust! Geld hat für sie der Wegführer genommen wie für alle. Aber sie konnte nicht . . . Sie wird niemals fliehen können, sie fühlt das in ihrem Herzen. Und das fünfzehnjährige Mädchen, schon kein Kind mehr, legte die rotgefrorene Hand auf den Pullover genau unter der Kehle. Während des Hinundhergeredes war das Wasser abgekühlt, und Mutter goss in hohem Bogen siedendheißes Wasser aus dem hellblauen Teekessel in die weiße Waschschüssel. »Das Kind kommt von unterwegs, es ist ganz außer Atem und völlig verfroren, und ihr macht auf der Stelle eine Familienberatung. Lasst doch Belcia erst einmal verschnaufen!« Pajewskis wohnten in der Nähe, in der Lucka. Der alte Pajewski hatte in der Lucka eine Werkstatt – eine Nähmaschine Marke »Singer«, eine Glühbirne unter einem emaillierten Blechteller, der an einer Ziehschnur von der Decke herabhing?, und ein dunkles Zimmer im Parterre voller Schnipsel und Fetzen schwarzer Watteline, wo in zwei Ecken zwei kopflose Rümpfe standen, bis zur Nacktheit entblößte Schneiderpuppen. Dort arbeitete und dort wohnte er. Ein Handwerksloch wie viele andere. Belcia war das älteste von vier Geschwistern. Ich erinnere mich an meinen kleinen Vetter Icie, der mit diabolischem Gekicher sein Hemd hochhob und mir die heiligen Enden des rituellen Leibchens zeigte, das mit Fadenbüschelchen gesäumt war. Ich trug so etwas nicht, für mich war das eine Neuheit. Nur dass diese Neuheit schon ein paar tausend Jahre zählte, aber das nur nebenbei. Ich erinnere mich an ihren anderen Bruder, Aron, der den Spitznamen »Kreisel« trug. Er hatte so eine Angewohnheit. Er ging ein Stückchen, drehte sich um sich selbst, ging wieder ein Stückchen und machte kehrt, als täte ihm leid, was er hinter sich zurückließ. Belcia, die Füße in der Schüssel, erzählte vom Überschreiten der Grenze, und ich sah Aron vor mir?: Fern von mir bleibt er stehen, vollführt eine ganze Umdrehung und entfernt sich wieder in die Dunkelheit, schweigend und einsam wie ein Planet. So hat er sich mir eingeprägt an einem Sommertag auf dem Kazimierz-Platz. Nun war es schon Winter, Aron ein paar hundert Kilometer von mir entfernt, und der Kazimierz-Platz leer, denn Markt wurde hier nicht mehr abgehalten. Belcias Erzählung war traurig wie das unglückselige jüdische Los, kurz wie der Atem des Asthmatikers über seinem Schneiderbügeleisen und faulig wie erfrorene Füße in feuchten Lappen. Nacht und Angst und Frost. Finster, finster und schlimm. Eine Nacht, deren Augen ein feuchter Fußlappen zudeckt. Soll das heißen, dass die Nacht Augen hat? Nein. Soll das heißen, dass Fußlappen immer gleich nass sein müssen? Auch nein. Und soll das vielleicht heißen, dass man in einen Fußlappen so etwas wie die Nacht einwickeln kann? Nein und nochmals nein. Und wer beharrt darauf, Juden? Ich sag’ euch etwas anderes. Die Fußlappen hatte Belcia nass von Wyszków an, den ganzen Tag war Winter draußen und der Bug dick zugefroren. Das ist alles, nichts mehr. Gerade, als sie hinaustraten auf den Grenzstreifen, vertrieb der Wind die Wolken und zeigte aus Bosheit den Juden den Mond. Gar nicht gut! Das Los der Familie des Schneiders Pajewski aus der Lucka soll sich entscheiden, und da steht so ein Nichts im Wege, so eine Lappalie. Zu spät, schon ist das Geld aus dem Pelzmuff der alten Pajewska in den Filzschaft des Wegführers gewandert. Schon hat der Husten des alten Pajewski die Posten geweckt. Schon verwischt der Schmuggelbauer seine Spuren und kehrt durch das Waldstück zu seiner Hütte zurück. Nun ist er nicht mehr zu sehen. Die Wachen rufen, Karabinerschlösser klicken, und Belcia dreht sich um und sieht, wie die beiden Brüder, die Schwester Ela, die Mutter und der fürchterlich hustende Vater mit erhobenen Händen über das Eis des Grenzstreifens gehen. Alles in allem traurig und beklagenswert! Diese Nacht an der Grenze hinterließ ihre dauernden Spuren. Hände und Füße erfror sich Belcia bis aufs Blut, und mit diesen Erfrierungen kam sie zu uns zurück. Später, bis zum Krieg im Osten, trafen in dicken löschpapierartigen Umschlägen Briefe von den Pajewskis ein, und aus ihnen ging hervor, dass die, die in jener Nacht die Grenze überschritten hatten, heil und gesund waren. So ein einziger Augenblick entscheidet über das Leben des Menschen. Dieser flieht in die Richtung?, jener in die andere, und keiner von beiden weiß, wie die Zukunft aussehen wird. Aber wie soll mit Verlaub die Zukunft eines Juden schon aussehen? Ich frage mich. Hier schlecht und dort nicht gut. Der Frühling?, der Sommer gingen vorüber, es kam der Herbst und der Umzug hinter die Mauern. Belcia zog mit uns. Aber . . . Dieses »Aber« bedeutete für sie einen unguten Anfang und ein schlimmes Ende. Sie hatte Angst, an die Wache heranzugehen, und beim Anblick eines Wachmanns wurde sie weiß wie eine Wand. Was sollte man da machen! Sie saß zu Hause und kochte in Ermangelung eines Besseren geschnitzelte Rüben mit ein paar kleinen Kartoffeln. Rüben waren billiger als Kartoffeln. Das erkläre ich hier zum gefälligen Gebrauch für einen jeden Juden aus wärmeren Ländern. Belcia füllte mit reinlicher Handschrift die Lebensmittelkarten für die ganze Familie aus und ging sich beim Hausmeister den Stempel holen. Die Karten nannten sich »Bons«, Leben sah damals ganz anders aus, und über diese Bons sangen die Bettler laut ein Lied. Bei uns gingen alle auf die andere Seite, sogar das achtjährige Schwesterchen, das sich die Händchen in einem Muff, der ihr an einer Schnur um den Hals hing?, wärmte. Belcia durfte ruhig zu Hause sitzen. Und was hat sie gekonnt? Nähen konnte sie, zugegeben, saubermachen, ordentlich den Tisch decken und Steckrüben oder rote Rüben mit ein paar Kartoffeln auf den Tisch bringen. Sie konnte sich Zöpfchen flechten und mit einem Stoffrestchen zusammenbinden. Ein breites, flaches Gesicht mit roten Pickelchen, braune Augen, eine Kartoffelnase. Was kann man sonst noch über Belcia sagen? Und dabei so grau, so alltäglich. Sicher hätte ich Belcia vergessen, doch gerade mit ihr begann die ganze Geschichte. Als der Vater davon hörte, sagte er gleich?: »Dieser Jude, meine Kinder, verkauft Zwirnknöpfe und spielt den Blindgeborenen.« »Er gibt sie umsonst her«, versteifte sich Belcia. »Äh, was weißt du.« Woher sie diesen Vogelhändler kannte? Das weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall hatte sie in Erfahrung gebracht, dass er hungrige Vögel umsonst abgab. Und ich ging mit ihr in die Ogrodowa. Das Zimmer in der Ogrodowa war mit Käfigen voll gehängt. Es zwitscherte, trillerte, tirilierte, tschilpte aus allen Ecken, und der Vogelhändler schüttete ein Häuflein Körner von einer Hand in die andere, blies hinein, um die Spreu auszusondern. Das Zimmer des Vogelhändlers war hell, grün tapeziert, mit Agavenstacheln gespickt, voll von Palmen in Kübeln, fleischigen Blättern des Affenbrotbaumes und biegsamen Ranken des Asparagus. Bunte Papageien, weiße und zitronengelbe Kanarienvögel, Schwarzdrosseln sangen hüpfend und mit den Flügeln gegen die Käfigstäbe schlagend im Chor ihr Lied beim Anblick der Sonne vor dem Fenster. Den Ärmel ein wenig hochgestreift, die Finger angezogen, steckte der Vogelhändler die Hand in die kleine Öffnung eines Käfigs, und mit dem Daumen zart die flatternden Flügelchen zusammendrückend, holte er die Hand wieder ein und zeigte ein Vogelköpfchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Sicher war es eine Hybride?; von seiner ganzen Schar offerierte uns der Vogelhändler ein unscheinbares Vögelchen mit graubraunem Gefieder, das mich an einen Hofspatz erinnerte. »Ein Weibchen«, sagte der Vogelhändler. »Es ist unmusikalisch, aber füttere es, wie es sich gehört, und es wird schon singen.« Ich habe nie gehört, dass es gesungen hätte. Das graue Kanarienweibchen gab einen leisen Zischlaut von sich, ein dünnes Gepiepse, aber diese Töne hatten mit Vogelgetriller nichts gemein. Der Vogelhändler übertrieb in seiner Liebe zu den Vögeln?; er...