E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Wyer Der standardisierte Arbeitslose
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7445-0850-6
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Langzeitarbeitslose Klienten in der aktivierenden Sozialpolitik
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0850-6
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
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In der aktivierenden Sozialpolitik müssen erwerbslose Personen immer höhere Anforderungen bewältigen, um sich in der Zeit der Arbeitslosigkeit zu bewähren. In einer vermeintlich zweckdienlichen Standardisierung wird erwartet, dass die erwerbslosen Personen ihr Handeln an bestimmten Normen ausrichten: diese sind vor allen Dingen eine ausgeprägte Leistungsorientierung, Eigenverantwortung, Funktionstüchtigkeit und Selbststeuerungskompetenz. Einer solchen Standardisierung der Anforderungen liegt die technokratische Vorstellung zugrunde, dass alle oder die meisten erwerbslosen Personen diesen Standard erfüllen können. Dies trägt der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Klienten nicht Rechnung. Unberücksichtigt bleiben auch Belastungen durch lange Arbeitslosigkeit, Ressourcenschwächen und biografisch bedingte Probleme. Der politische Ausschluss dieser Faktoren, die die Handlungsmöglichkeiten langzeiterwerbsloser Personen entscheidend beeinflussen, erzeugt ein Legimitationsdefizit in der aktivierenden Praxis. In einer strukturtheoretischen Betrachtung der Aktivierungspolitik und einer empirischen Analyse der Situation langzeiterwerbsloser Klienten in der aktivierenden Praxis zeigt Bettina Wyer, wie die politischen Widersprüche die institutionelle Praxis determinieren. Dies hat weitreichende Folgen für die Situation der Klienten. Langzeitarbeitslose Personen, die ihr ganzes Engagement auf die verlangte Standardisierung legen, werden denn auch häufig nicht zu Arbeitnehmern im ersten Arbeitsmarkt, sondern bloß zu sehr guten Arbeitslosen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wirtschaftssoziologie, Arbeitssoziologie, Organisationssoziologie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Sozialpolitik
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre Allgemein Beschäftigung, Arbeitslosigkeit
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2. Forschungsbefunde
In der eindrücklichen transnationalen Dimension der Aktivierungspolitik zeigt sich eine Globalisierung der Sozialpolitik in den entwickelten Industrienationen. Die Forschungsbefunde zur aktivierenden Sozialpolitik sind, obwohl sich das Feld selber erst Mitte der 1990er Jahre etablierte, überaus zahlreich. Die Analyse unterschiedlicher sozialstaatlicher Modelle entwickelte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten, nicht zuletzt in Nachfolge zum bereits klassischen Werk „The three worlds of welfare capitalism“ von Esping-Andersen (1990), zu einem intensiven Forschungsgegenstand unterschiedlicher Disziplinen. Fragen der Legitimation, Steuerung und Organisation sowie Typisierung des Sozialstaats interessieren sowohl sozialwissenschaftliche als auch politikwissenschaftliche und volkswirtschaftliche Disziplinen. Im Fokus stehen makrosoziologische Untersuchungen, sozialstaatliche Systemvergleiche, Kontinuität und Wandel in der Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten sowie ländervergleichende Analysen aktivierender Praxis. Im Folgenden soll mit einigen Ergebnissen dieser Evaluationen gezeigt werden, wie sich die Aktivierungspolitik im internationalen Kontext entwickelt hat. Die Basis der Auswahl der unterschiedlichen Länder bildete die wohlfahrtsstaatliche Typisierung von Esping-Andersen. Zur operationalen Differenzierung unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Modelle dienten ihm einerseits der Grad der Dekommodifizierung, d.h. inwiefern der Zwang zur Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit durch sozialstaatliche Unterstützungsleistungen gemindert wird, andererseits der Grad der Destratifizierung, der die Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie die Mobilitätschancen innerhalb einer Gesellschaft anzeigt (Nollert 2005, S. 154). Eine Einordnung der Schweiz in die typenspezifische Ordnung erlaubt erste Aufschlüsse über die Bedeutung des Aktivierungsparadigmas im Kontext der schweizerischen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. Da die Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten der Klienten und Klientinnen unmittelbar mit den tatsächlichen sozialstaatlichen Leistungen und einer spezifischen nationalstaatlichen Organisationsweise des Hilfesystems zusammenhängen, werden die schweizerischen Forschungsbefunde im Anschluß an eine internationale Kontextualisierung ausführlicher erörtert. 2.1 Aktivierungspolitik im internationalen Kontext In allen entwickelten Wohlfahrtsstaaten hielt seit Anfang der 1990er Jahre das aktivierungspolitische Paradigma Einzug, welches die sozialpolitische Entwicklung dieser Staaten in eine ähnliche Richtung lenkte. Da es sich um eine transnationale Entwicklung handelt, die in den USA und Europa in etwa zeitgleich Verbreitung fand, erhöhte sich der Druck auf die einzelnen Staaten, die globalisierten sozialpolitischen Normen zu übernehmen. Häufig wird die Einführung der aktivierenden Sozialpolitik als paradigmatische Wende (Maeder/Nadai 2005; Handler/Hasenfeld 2007; Grell 2008; Atzmüller 2011; Betzelt/Bothfeld 2011 u.a.) zu einer neuen sozialstaatlichen Kultur gedeutet. Diese auf der politisch-normativen Ebene vergleichbare amerikanische und europäische Entwicklung resultierte auch aus der spezifischen politischen Konstellation Mitte der 1990er Jahre. In den USA, Großbritannien und Deutschland waren es sozialdemokratische Regierungen, welche die Aktivierungspolitik und die damit einhergehenden Verschärfungen in der existenziellen Sicherung von arbeitslosen Personen einführten. Der „dritte Weg“, der die Zukunftsvision von Gerhard Schröder und Tony Blair (1999) als neuen sozialdemokratischen Weg zwischen neoliberaler Wirtschaftspolitik und traditionellen sozialdemokratischen Werten umfaßt, zeigte seine Auswirkungen im europäischen Kontext in einer gezielten Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates, die sich besonders in der Kürzung der Unterstützungsleistungen manifestierte. Die staatlichen Zahlungen im Falle von Erwerbslosigkeit sollten nicht (mehr) als Garantieleistung verstanden werden. Ins Zentrum gerückt wurde und wird die Eigenverantwortung und Leistungsorientierung der erwerbslosen Personen in der Überzeugung, damit deren Arbeitssuche und gesellschaftliche Integration aktiver voranzutreiben. Während Heinze, Schmid und Strünck (1999, S. 39) die These vertreten, daß mit dieser globalisierten Sozialpolitik eine „schleichende Entmachtung“ des Nationalstaates einhergeht, kommt Lødemel im Resümee seines Sammelbandes zu länderspezifischen Untersuchungen im Bereich der arbeitsmarktlichen Maßnahmen zum Schluß, daß die Idee der Aktivierung zwar in den USA und Europa praktisch zeitgleich eingeführt wurde, aber durchaus in Anpassung an die jeweilige sozialstaatliche Kultur, sodaß nicht von einer Vereinheitlichung der Handlungspraxis gesprochen werden kann. Die in der sozialpolitischen Literatur verbreitete Ansicht, Bill Clintons Reform der US-amerikanischen Sozialpolitik gelte als Auftakt einer globalen aktivierungspolitischen Wende, hält er für nur bedingt zutreffend. Er vertritt vielmehr die These, daß die Globalisierung der wirtschaftlichen und arbeitsmarktlichen Entwicklung und die damit verbundene Konzentration auf Profitmaximierung und Leistungsideologie solche Ideen zeitgleich haben entstehen lassen (Lødemel 2001, S. 303 ff.). Auch in der europäischen Union ist, trotz einer übergeordneten EU-Politik der sozialstaatlichen Aktivierung, die Ausgestaltung der jeweiligen Maßnahmen national geprägt, da die wohlfahrtsstaatliche Organisation bei den Ländern selbst geblieben ist. Während beispielsweise die USA seit jeher eine residual geprägte Wohlfahrtspolitik betreiben, d.h. mit Minimalstandards operieren und nur die Bedürftigsten tatsächlich Hilfe erhalten, bedeutet die Idee der Aktivierung in Wohlfahrtsstaaten sozialdemokratischer oder auch korporatistischer Prägung eine größere kulturelle Wende. Dabei kann, gemäß Bengtsson (2012), grob unterschieden werden zwischen einer offensiven Strategie, in welcher die Klienten und Klientinnen als Staatsbürger mit einem Recht auf soziale Unterstützung gesehen werden und einer defensiven Strategie, welche aus der Überzeugung heraus gestaltet wird, daß allzu generöse staatliche Unterstützungsleistungen eine Kultur der Abhängigkeit schaffen und aktive Selbsthilfe verhindern. Im folgenden Abriß länderspezifischer Untersuchungen zur unterschiedlichen Ausgestaltung aktivierender Maßnahmen wird Lødemels Ansicht gestützt, daß die bereits bestehende sozialstaatliche Kultur einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Organisationsweise aktivierender Maßnahmen hat. Die Ausführungen bieten einen Einblick in die Folgen der aktivierungspolitischen Reorganisation in drei unterschiedlichen sozialstaatlichen Kontexten. Jeweils exemplarisch stehen im Folgenden die USA für den Wohlfahrtsstaat liberaler Prägung, Deutschland für den Wohlfahrtsstaat korporatistischer Prägung und Schweden für den Wohlfahrtsstaat sozialdemokratischer Prägung. Zur Erfassung der typenspezifischen Umsetzung aktivierungspolitischer Grundlagen wurden länderspezifische Untersuchungen herangezogen, welche das Aktivierungsparadigma und dessen Ausgestaltung in der Praxis ideologiekritisch und empirisch erfassen. 2.1.1 Forschungsergebnisse zur aktivierenden Sozialpolitik in den USA Seit der Einführung aktivierungspolitischer Maßnahmen wurde die eher geringe Wirksamkeit der staatlich verordneten Arbeitsverpflichtung wiederholt bestätigt (Handler 2004; Handler/Hasenfeld 2007; Grell 2008). Auch wenn in den USA schon in den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts Beschäftigungsprogramme entstanden und evaluiert wurden, fand die aktivierungspolitische Wende, d.h. die fundamentale Umgestaltung der gesamten Sozialpolitik, unter der Ägide Bill Clintons statt. Bei der gesetzlichen Einführung des Aktivierungsprinzips, im sogenannten „Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act“ (PRWORA) verhieß Bill Clinton damit ein Ende der bisherigen amerikanischen Wohlfahrtspolitik (Berrick 2009, S. 175). 2005 wurde der Aktivierungsaspekt in der „Temporary Assistance for Needy Families“ (TANF) verschärft, respektive die einzelnen Staaten vom Kongreß dazu angehalten, die Wiedereingliederung von arbeitslosen Klienten zu fördern, sowie größeren Druck auf niedrig qualifizierte Arbeiter auszuüben, einen Billiglohnjob anzunehmen. Zudem wurde die Unterstützung auf maximal 5 Jahre angelegt (Umsetzung in der Verantwortung der Staaten). Durch die zeitliche Begrenzung der Unterstützung sollten die arbeitslosen Klienten und Klientinnen gezwungen werden, jegliche Form von Arbeit anzunehmen (Grell 2008, S. 37). Gemäß der Übersichtsdarstellung von Blank und Haskins (2001, S. 7) sind die dezentral organisierten amerikanischen welfare-to-work-Programme radikal darauf ausgerichtet, Erwerbslose mittels eines Mixes aus positiven und negativen finanziellen Anreizen gleichsam um jeden Preis ins Beschäftigungssystem zu reintegrieren.Die Workfare-Ideologie stützt sich dabei noch stärker als die amerikanische Sozialpolitik bis anhin auf die Idee, daß der Markt die Verteilung regelt (Welch 2009, S. 79). In einer empirischen Analyse der zuweisenden Stellen sowie arbeitsmarktlicher Maßnahmen beschreibt Handler, wie die Klienten und Klientinnen häufig nicht genügend darüber informiert sind, welche Möglichkeiten sie tatsächlich haben und/oder mit welchen Sanktionen sie rechnen müssen. Dies erhöht deren Abhängigkeit von den Mitarbeitenden der zuweisenden Stellen, aber auch die Willkür, mit denen Sanktionen die erwerbslosen Personen treffen können (Handler 2004, S. 50). Handler argumentiert weiter, daß die Klienten und Klientinnen oft die Sichtweise der sie betreuenden Fachpersonen übernehmen. Seines Erachtens versuchen sie damit, Kontrolle über ihre fremdbestimmte Lebensführung zurück zu erlangen (ebd.,...