E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Wylie Ferngesteuert
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8321-7101-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie die Demokratie durch Social Media untergraben wird
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-8321-7101-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
›Ferngesteuert‹ deckt die Aktivitäten des Datenanalyse-Unternehmens Cambridge Analytica sowie des Trump-Beraters Steve Bannon auf und enthüllt die Alt-Right-Strategien zur Beeinflussung der amerikanischen Bürger. Dieses Buch gibt den Leser*innen aber auch einen höchst anschaulichen Einblick in die besorgniserregenden Verstrickungen von Facebook, WikiLeaks, russischen Geheimdiensten und internationalen Hackern.
Cambridge Analytica hat die Daten von mehr als 87 Millionen Menschen gesammelt und analysiert, um sie anschließend gezielt zur Beeinflussung dieser Menschen im Wahlkampf einzusetzen. Der Kanadier Christopher Wylie stand im Zentrum dieser Operation: Seine Aufgabe bei Cambridge Analytica war es, »zornige junge Männer« zu manipulieren und für die Wahl zu mobilisieren.
Wylies Entscheidung, ein Whistleblower zu werden, führte zur größten internationalen Datenkriminalitätsuntersuchung der Geschichte.
Autoren/Hrsg.
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Lektionen im Scheitern Acht Jahre vor diesen Ereignissen zog ich nach England, wo die Geschichte von meiner Verwicklung in Cambridge Analytica ihren Anfang nahm. Ich hatte ein paar Jahre in der kanadischen Politik gearbeitet, und es liegt eine gewisse Ironie darin, dass ich nach London ging, um Abstand von der Politik zu gewinnen. Im Sommer 2011 bezog ich eine Wohnung am Südufer der Themse, unweit der Tate Modern, dem Museum für moderne Kunst, das in der riesigen alten Bankside Power Station, einem ehemaligen Kraftwerk, untergebracht ist. Nach mehreren Jahren in Ottawa hatte ich mit einundzwanzig Jahren beschlossen, die Politik hinter mir zu lassen und jenseits des Atlantiks an der London School of Economics and Political Science Jura zu studieren. Ich war befreit von der Politik und von den Rücksichten auf die Partei. Jetzt spielte es keine Rolle mehr, mit wem ich gesehen wurde, ich musste nicht mehr aufpassen, was ich sagte oder wer vielleicht gerade zuhörte. Es stand mir frei, neue Leute kennenzulernen, und ich freute mich auf einen Neuanfang. Bei meiner Ankunft war noch Sommer, und sofort, nachdem ich ausgepackt hatte, zog es mich in den Hyde Park, zu den Sonnenbadenden, den Touristen und jungen Paaren. Ich nutzte in London alle sich bietenden Möglichkeiten, die Freitag- und Samstagabende verbrachte ich in Shoreditch und Dalston, und regelmäßig besuchte ich den Borough Market, Londons ältesten Lebensmittelmarkt in einer riesigen offenen Halle mit zahllosen Imbissständen, wo die Händler laut durcheinanderriefen und es vor Besuchern nur so wimmelte. Ich schloss Freundschaft mit Gleichaltrigen, und zum ersten Mal fühlte ich mich jung. Aber wenige Tage nach meiner Ankunft, immer noch leicht benommen vom Jetlag, erhielt ich einen Anruf, der mir klarmachte, dass es nicht so leicht sein würde, die Politik abzuschütteln. Vier Monate zuvor war ein gewisser Nick Clegg stellvertretender britischer Premierminister geworden. Im Jahr 1999 als Abgeordneter ins Europaparlament gewählt, hatte sich Clegg von da an stetig nach oben gearbeitet, bis er 2007 Vorsitzender der Liberaldemokraten wurde. Zu dieser Zeit waren die Lib Dems die radikale dritte Partei in der britischen Politiklandschaft – die ersten, die die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützten, und die einzige Partei, die sich gegen den Irakkrieg ausgesprochen hatte und die Aufgabe des britischen Nukleararsenals forderte. Bei den Parlamentswahlen 2010, nach mehr als einem Jahrzehnt des inzwischen holprigen »dritten Wegs« von Labour, wurde das Land von der »Cleggmania« erfasst. Auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit genoss Clegg Umfragewerte wie einst Winston Churchill. Er selbst sah sich als die britische Antwort auf Barack Obama. Nach der Wahl bildete er unter dem konservativen Premierminister David Cameron eine Koalitionsregierung. Der Anruf kam aus Cleggs Büro: Man hatte von meiner Datenarbeit in Kanada und den USA durch gemeinsame Kontakte in der liberalen Politik erfahren und wollte Genaueres darüber wissen. Zur vereinbarten Zeit traf ich in der Parteizentrale der Liberaldemokraten ein, die damals noch ihren Sitz in der Cowley Street 4 in Westminster hatte. Sie lag nur ein paar Straßenzüge vom Westminster Palace entfernt, das umgebaute neugeorgianische Stadtpalais stand reich verziert mit seinen zwei markanten Kaminen in karmesinrotem Ziegelwerk da. Für die kleine, verwinkelte Straße war das Gebäude ziemlich protzig, sodass ich es nicht verfehlen konnte. Da sich in ihm die Büros einer Partei der Regierung Ihrer Majestät befanden, wurde es von einer bewaffneten Einheit der Londoner Polizei bewacht. Die Beamten patrouillierten in der engen Seitenstraße auf und ab. Der Türöffner summte, ich drückte die schwere Pforte auf und ging zur Rezeption, wo ich von einem Mitarbeiter begrüßt wurde, der mich zu dem Treffen führte. Das Palais, noch geschmückt mit originalen Kronleuchtern, Eichenholzvertäfelung und offenen Kaminen, verströmte die verblasste Eleganz dieser einst prachtvollen Residenz, was seltsam passend schien für diese Partei, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Cowley Street, wie sie den Parteisitz nannten, war anders als alles, was ich in Kanada oder den Vereinigten Staaten gesehen hatte. Ich fragte mich, wie all diese Parteimitarbeiter, die sich in den engen Fluren mit den knarzenden Böden aneinander vorbeidrückten, irgendetwas zustande brachten. Ehemalige Schlafräume waren mit Schreibtischen vollgestellt, und entlang der Wände und um die Türrahmen herum waren Kabel für die Computer verlegt. In einer Besenkammer lag ein Mann, offenbar mit Schlafapnoe, auf dem Boden und schnarchte lautstark, aber niemand schien ihn weiter zu beachten. Nach meinem Eindruck ging es hier eher wie im Clubhaus einer Altherrenriege zu als bei einer Regierungspartei. Ich stieg eine breite Treppe mit geschnitztem Ziergeländer hinauf und wurde in ein weitläufiges Sitzungszimmer geführt, das einst der Speisesaal gewesen sein musste. Nach einigen Minuten Warten marschierte ein kleiner Trupp Mitarbeiter herein. Nachdem wir den obligatorischen britischen Smalltalk beendet hatten, sagte einer: »Dann erzählen Sie uns mal von dem Netzwerk der Wähleraktivierung.« Nach Obamas Sieg 2008 interessierten sich überall auf der Welt Parteien für diesen neuen »Wahlkampf auf amerikanische Art«, der von Datenbanken zur landesweiten Zielgruppenansprache und großangelegten digitalen Verfahren befeuert worden war. Dahinter stand die neue Methode des Mikrotargeting, bei der selbstlernende Algorithmen riesige Mengen an Wählerdaten verarbeiteten, um die Wählerschaft in kleine Segmente zu unterteilen und schließlich vorherzusagen, welche individuellen Wähler am ehesten von dem Kandidaten überzeugt werden konnten, für den man warb, oder davon, auch wirklich zur Wahl zu gehen. Die Lib Dems waren sich unsicher, ob sich diese neue Wahlkampfmethode auf die britischen Verhältnisse übertragen ließ. Das Projekt für die LPC, bei dem ich mitgearbeitet hatte – der Aufbau eines Systems für Wählertargeting vergleichbar mit dem von Obamas Wahlkampf –, war deshalb so interessant für sie, weil es das erste seiner Art und Größe außerhalb der USA gewesen war. Und Kanada praktiziert wie Großbritannien das Modell der Mehrheitswahl und hat ebenfalls eine breite Palette politischer Parteien. Den Parteileuten wurde klar, dass die Hälfte der Arbeit bereits getan wäre, wenn sie einfach die kanadische Version der Technologie importierten. Am Ende des Meetings, als sie begriffen hatten, was dieses System alles leisten konnte, waren sie ganz aus dem Häuschen. Anschließend machte ich mich schleunigst auf den Weg zur Universität, um noch das Ende einer Vorlesung in Rechtstheorie über die Auslegung von Gesetzen mitzubekommen, und dachte mir, damit sei die Sache erledigt. Doch tags darauf riefen mich die Berater der Lib Dems schon wieder an und baten mich, noch einmal vorbeizukommen, um das System einer noch größeren Gruppe zu erläutern. Ich saß gerade mitten in einer Lehrveranstaltung, deshalb nahm ich das Telefonat zuerst nicht an, aber nach vier verpassten Anrufen von einer mir unbekannten Nummer ging ich dann doch nach draußen, um nachzusehen, wer mich denn so dringend erreichen wollte. Am Nachmittag sollte es eine Sitzung hochrangiger Funktionäre geben, und so fragten sie mich, ob ich eine spontane Präsentation zum Mikrotargeting durchführen könne. Also machte ich mich nach dem Seminar wieder auf den Weg in die Cowley Street, den Rucksack voller Lehrbücher. Wegen des kurzfristigen Termins hatte ich keine Zeit, mich umzuziehen. Die Berater des stellvertretenden Premierministers mussten mit mir in einem T-Shirt mit Stüssy-Aufdruck und einer Jogginghose in Tarnfarben Vorlieb nehmen. Ich betrat dasselbe Sitzungszimmer, das nun brechend voll und von Stimmengewirr erfüllt war. Man führte mich umgehend an die Stirnseite des Tisches, und nachdem ich mich für meinen albernen Aufzug entschuldigt hatte, begann ich zu improvisieren. Ich schilderte, wie die Lib Dems Mikrotargeting nutzen könnten, um die Nachteile solch kleiner Parteien wie der ihren wettzumachen. Rasch redete ich mich in Begeisterung. Seit meinem Abschied von der LPC hatte ich nicht mehr über dieses Thema gesprochen, und so schüttete ich jetzt einfach mein Herz aus. Ich erzählte, was ich beim Wahlkampf von Obama erlebt hatte, wie es sich angefühlt hatte, dass so viele Leute zum ersten Mal überhaupt wählen gingen und zu sehen, wie Afroamerikaner bei Wahlveranstaltungen plötzlich wieder Hoffnung schöpften. Ich sagte, dabei sei es nicht einfach nur um Daten gegangen, sondern darum, wie wir Menschen erreichen konnten, die der Politik den Rücken gekehrt hatten. Darum, wie wir sie finden und dazu motivieren konnten, überhaupt wählen zu gehen. Aber vor allem ginge es darum, dass diese Technologie für diese Partei, die nun an den Schalthebeln der Macht saß, das Mittel sein könnte, das verkrustete Klassensystem aufzubrechen, das die britische Politik so sehr prägt. Einige Wochen später baten mich die Lib Dems, für sie zu arbeiten und ein Projekt zum Wählertargeting zu entwickeln. Ich hatte gerade mit meiner Abschlussarbeit an der Universität begonnen und als einundzwanzigjähriger Student in London angefangen, Fuß zu fassen. Deshalb zögerte ich und überlegte, ob es wirklich eine gute Idee war, mich erneut auf die Politik einzulassen. Aber hier gab es die Chance, dieselbe Technologie anzuwenden – dieselbe Software und im Grunde dasselbe Projekt – und zu Ende zu führen, was ich in Kanada begonnen hatte. Den Ausschlag gab etwas, das ich zufällig an der Wand in einem der Büros in der Cowley Street hängen sah. Es war ein alter, vergilbter Karton...