Buch, Deutsch, 248 Seiten, PB, Format (B × H): 137 mm x 216 mm, Gewicht: 350 g
Erzählungen aus Südtirol
Buch, Deutsch, 248 Seiten, PB, Format (B × H): 137 mm x 216 mm, Gewicht: 350 g
ISBN: 978-3-943810-02-8
Verlag: VoG - Verlag ohne Geld
Diese in Südtirol angesiedelten Erzählungen beleuchten an Hand von Frauenschicksalen die Ereignisse des vorigen Jahrhunderts in Südtirol. Acht Geschichten, die die Bräuche, Traditionen und sozialen Verhältnisse schildern, welche weitgehend aus dem modernen Leben verschwunden und teilweise heute nicht mehr denkbar sind.
Die Titelgeschichte erzählt von einer jungen Lehrerin, die zur Zeit des Faschismus aus dem italienischem Stammland in ein südtiroler Bergdorf versetzt wird und voll Sendungsbewusstsein erwartet, dort als Heilsbringerin empfangen zu werden. Statt dessen trifft sie auf Widerstand und entdeckt die sogenannten Katakombenschulen, in denen die Südtiroler im Untergrund versuchten, ihre Kultur und Sprache trotz des faschistischen Verbots, zu bewahren und weiterzugeben.
Zielgruppe
Historisch Interessierte, insbesondere für die Ereignisse in Südtirol im 20. Jahrhundert. Frauenschicksale und bäuerliches Brauchtum.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Tresl vom Lärchenhof 15
Die Alte aus der Villa Clara 41
Das Testament 81
Das nackte Leben 107
Der Besuch 153
Die drei Bergphilosophen 179
Ein Leben 203
Die Katakombenschule 227
Gudon,7. Dezember 1939. XVII
Liebe Mama,
Du hattest Recht: Du hättest sofort mit mir mitkommen sollen. Ich wollte Dir nur die ersten Tage ersparen, die ich mir zwar etwas hart vorgestellt habe, aber sicherlich nicht so hart!
Heute sind so viele Dinge passiert, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Am Morgen bin ich früh aufgestanden, um den Ofen in der Schule anzumachen: Ich wollte, dass die Schüler den Klassenraum warm vorfinden; dann habe ich versucht zu frühstücken, was nicht einfach war, denn gestern konnte ich weder Brot noch Milch kaufen: alle Bauernhöfe verlassen, keiner zu Hause. Ich habe mir nicht vorgestellt, dass es so schwierig sein würde; aber ich möchte Dich nicht beunruhigen, Du weißt, dass ich mit wenig zufrieden bin, abgesehen davon, dass ich einen großen Vorrat an Lebensmitteln habe. Denk an die ganzen Sachen, die Tante Lina mir vor meiner Abreise gegeben hat. Sicherlich sterbe ich nicht vor Hunger. Jetzt habe ich den Verdacht, dass sie eine Art Vorahnung hatte...
Ich bitte Dich, ihr auch in meinem Namen zu danken, wenn Du ihr schreibst.
Gegen neun und nicht um halb neun, wie ich dachte, sind drei Kinder in Begleitung ihrer Väter eingetroffen. Sowohl die einen als auch die anderen trotzig und mürrisch. Ein klitzekleiner Anflug eines Grußes. Nach einigem Zögern haben sie sich verstreut zwischen die Bänke gesetzt, jeder mit dem eigenen Kind neben sich. Ich habe aus der Tür herausgeschaut im Falle, es würde noch jemand kommen: Mir war eine Klasse mit ungefähr zwanzig Kindern versprochen worden. Keine, nicht eine einzige Menschenseele.
Ich habe die Tür geschlossen und mich unter dem kalten Blick von sechs Augenpaaren zum Lehrerpult begeben. Ich kann Dir gar nicht sagen, was für eine Atmosphäre herrschte. Ich habe versucht, den ersten Moment der Verlegenheit zu überwinden und sie mit größter Höflichkeit begrüßt. Schließlich war es meine Pflicht, mich vorzustellen, meinen Namen zu nennen und sie willkommen zu heißen. Einer der Bauern unterbrach mich mitten im Satz. Er erhob sich plump, und mit rauer Stimme sagte er in einem sehr gebrochenen Italienisch: »Geh nach Hause.« Genau so, nur diese Worte, geh nach Hause. Kannst Du Dir mein Erstaunen vorstellen? Im ersten Augenblick glaubte ich, falsch verstanden zu haben, aber als ich die anderen mit ihrer ernsten und harten Miene ansah, verstand ich, dass sie alle dasselbe dachten. Ich bedeutete dem Mann, sich hinzusetzen, aber er folgte nicht. Er wiederholte nochmals diesen Satz, geh nach Hause, fast so, als könnte er nichts anderes von sich geben.
Vorwort
Geheimgänge des Lebens
Südtirol ist ein rätselhaftes Land. Wenige andere Kleinregionen suchen derart eindringlich nach klaren Abgrenzungen und markantem Profil, nach Sicherheit und Dauer. Die Politik besteht auf Eigenständigkeit und Autonomie im Verhältnis zu Staat und Nachbarn, die Sprachgruppen achten auf sorgsame Wahrung ihrer Rechte, Landschaft und Berge werden als reinster Ausdruck der Alpen präsentiert.
„Unter den Kleinen der Beste“ – so lautet der unausgesprochene Wahlspruch Südtirols, der stille Lehrplan, dem die meisten Bewohner des Landes zu folgen bestrebt sind. Erfolg, Sicherheit, Abgrenzung gegenüber Nachbarn, anderen Sprachgruppen und Kulturen – das sind jene Leitmotive, von denen die Gesellschaften des Ländchens inmitten der Alpen beseelt sind.
Der Wunsch nach klaren und stabilen Verhältnissen ist das Produkt einer schwierigen Vergangenheit, die das tiefe Bedürfnis nach Sicherheit lebendig erhält. Südtirol hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine problematische Geschichte mit erstaunlichem Erfolg bewältigt, auf einem oft steinigen Weg, der über die Trennung von Österreich, durch Diktaturen, Armut und das Ringen um Selbstbehauptung geführt hat. Umso stärker ist die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, Klarheit und Sicherheit auf vielen Ebenen. Dazu gehört auch der Wunsch nach gefestigten Lebensverhältnissen und Beziehungen, nach wohl geordnetem Familienleben, einem sicheren Horizont von Traditionen, Werten und Verhaltensformen.
Die Wirklichkeit fügt sich freilich nur selten solchen Wünschen, unterhalb des Südtiroler Selbstbildes ist der Boden schwankend. Das Leben der Einzelnen, von Männern und Frauen verläuft nicht linear, sondern folgt oft genug krummen Pfaden, es ist gezeichnet von Brüchen und unerwarteten Wendungen. Die Geschichtsbücher glätten diese Windungen zugunsten großer Erzählungen von Krise, Niedergang und Fall, von Aufstieg und Behauptung. Hinter den breiten Trassen des geschichtlichen Verlaufs verschwinden die Widersprüche und Wellen des Lebens im Fluss der geschichtlichen Darstellungen.
Hier setzen die Möglichkeiten und Aufgaben von Literatur an, die das Widerspenstige und quer Liegende, das Vertraute und Vertrackte in Lebensläufen von Menschen zur Geltung bringt. So liegen auch unter der offiziellen Erfolgsgeschichte von Südtirol Tausende von Einzelbiografien, deren stille Dramatik und Widersprüche sich gegen einfache Deutungen sperren. Diese Leben geben verstörende Rätsel auf, die einfühlsames Erzählen zwar nicht zu lösen, aber sorgsam zu erhellen vermag.
Die Erzählungen von Ada Zapperi Zucker handeln von der Geschichte Südtirols, sie meiden aber ihre großen, grell ausgeleuchteten Gemeinplätze, um verborgenere Orte aufzusuchen. Die Autorin erzählt von Geheimnissen im Leben der Menschen, von ihrem Allerpersönlichsten, das aber in Zusammenhang mit allgemeineren Zeitläuften steht. So ist denn auch der Titel ihres Erzählbands, „Die Katakombenschule“, glücklich gewählt, da er ein grundlegendes Leitmotiv aufgreift: Nur im Abstieg in die unterirdische Welt der Katakomben erschließen sich die geheimen Nischen des Lebens, deren Passage in uns ein Gespür dafür entwickelt, was Leben sein kann: Das Leben von Menschen ist gezeichnet von Schmerz und Entbehrung, aber auch erhellt von Momenten intensiven Glücks, getragen vor allem durch die Fähigkeit, eigenes Scheitern zu erkennen und anzunehmen. „Wieder versuchen / Wieder scheitern / Besser scheitern“, hat der Schriftsteller Samuel Beckett eindringlich formuliert.
„Die Katakombenschule“ – darunter begreift die Südtiroler Geschichtsschreibung jene Geheim- und Notschulen, die Südtiroler Kindern zur Zeit des Faschismus den offiziell streng verbotenen Unterricht in der Muttersprache ermöglichten. Abseits der offiziellen Schule, wohl verborgen vor dem Auge und dem Zugriff der Obrigkeit, erteilten in Bauernhäusern und Scheunen, sogar in der freien Natur meist junge Frauen notdürftigen Deutschunterricht, wobei sie erheblichen Risiken ausgesetzt waren. Es drohten Verhaftung, mitunter auch jahrelange Gefängnisstrafen.
Im Buch von Ada Zapperi Zucker wird der Weg durch die Katakomben, die verborgenen Schutz- und Leidensräume, zur Schule des Lebens und ist damit mehr als ein Kapitel der Südtiroler Schulgeschichte.
Wenige Autorinnen haben so wie Ada Zapperi Zucker mit größter Aufmerksamkeit Südtiroler Lebensgeschichten in ihrer Normalität und Ungeheuerlichkeit registriert. Es sind Biografien und Schicksale, die auf realer Grundlage, auf Erfahrenem und Erzähltem beruhen, aber dank der literarischen Bearbeitung keine Einzelfälle mehr sind. Sie greifen vielmehr allgemeinere Befindlichkeiten des Landes, ja der conditio humana insgesamt auf. Der große Vorzug der Autorin ist ihr doppelter Blick: Zum einen ihre Fähigkeit, als Auswärtige, die nicht in Südtirol, sondern in Catania, Rom und Wien aufgewachsen ist, Distanz und Fremdwahrnehmung aufzubieten. Zum anderen aber vermag es Ada Zapperi Zucker, dank erhöhter Achtsamkeit für ihre zweite Heimat Südtirol, oft übersehene Geschichten aufzugreifen und sie in schmerzlich genauer Sensibilität eindringlich auszugestalten. Ihre Lehrtätigkeit in Südtirol und ihr Gespür für Menschen befähigen die Autorin zu Beobachtungen von seltener Eindringlichkeit, die die Härte des Lebens ebenso erfassen wie die vielfältigen Öffnungen und Chancen, die die menschliche Existenz stets auch ermöglicht. Die Erzählungen sind recht eigentlich Novellen, da sie hinter einer zunächst schlicht anmutenden Oberfläche das Unerhörte hervortreten lassen - die erschreckende Grausamkeit des Alltags, die über viele Jahrzehnte vertieften Abgründe und die Schmerzen, die die Protagonisten einander und sich selbst zufügen.
Die Orte, an denen die Erzählungen handeln, sind meist die Hochtäler des Landes, die Einsamkeit von Dörfern und Höfen, deren Abgeschiedenheit aber eng verflochten ist mit der größeren Geschichte. Ada Zapperi Zucker lässt sich nicht ein auf jene Erzählmuster, die auswärtige Beobachter dem ländlichen Raum und seinen Menschen allzu gerne überstülpen: Aus der Sicht von Städtern sind ländliche Räume oft nur primitive Welten, deren Menschen, getrieben von Instinkten, Traditionen und Hörigkeit, durch ihren brutalen und banalen Alltag taumeln. Solche Darstellungen, die Lebensvollzüge holzschnittartig vereinfachen, sind nichts weiter als voyeuristische Projektionen städtischer Beobachter, Ausweis ärmlicher, oft erbärmlicher Insensibilität. Schriftsteller wie Franz Innerhofer haben in Romanen wie „Schöne Tage“ (1974) diese Welten aus eigener Erfahrung eindringlich und böse seziert, die Epigonen der „Negativen Heimatliteratur“ produzierten hingegen bestenfalls Karikaturen dieser groß- und bösartigen Romane.
Ada Zapperi Zucker spart Härten und Grausamkeit nicht aus, erfasst aber die handelnden Personen in großer Einfühlung, durch genaue Beschreibung ihrer Lebensumstände, vor allem aber in Dialogen, die Umstände und Vorgeschichten entfalten und in denen die Akteure aufleben. Es sind Dialoge, die Leben und Umfeld blitzartig erhellen, zugleich oft auch wie Duelle wirken, in denen Kräfte und Bedürfnisse hervorbrechen und sich große, lange zurückgestaute Gefühle entbinden. Am Ende stehen Scheitern und der denkbar schlimmste Ausgang, aber auch das Aufleuchten von später Hoffnung und großer Gelassenheit. Und es geht stets auch um die oft unversöhnte Beziehung zwischen Menschen unterschiedlicher Sprachgruppen, um Fremdheit und Feindschaft, aber auch um die Chancen der Annäherung, um Verständnis und die aufschließende Kraft der Liebe.
„Die Schule der Katakomben“ ist auch eine Bilanz des 20. Jahrhunderts und seiner Nachwirkungen, das über den Zugang von Familien- und Generationenerfahrungen erschlossen wird. Es ist bezeichnend, dass für Südtirol jüngst vor allem Frauen wie Giovanna Melandri, Sabine Gruber oder Astrid Kofler die Geschichte des Landes in literarischer Form aus der Sicht und Erfahrung von Frauen neu erzählen. Sie unterlaufen die Deutungen der Geschichtsschreibung durch einen anderen, oft eindringlicheren Fokus. Ada Zapperi Zucker zielt ins Herz dieses neuen Erzählens, mit großer Überzeugungskraft und in einer Sprache, die einführt in die Irrgänge des Lebens, um sie sorgsam zu erhellen.