E-Book, Deutsch, 147 Seiten
Zumbach / Wetzels / Lübbehüsen Psychologische Diagnostik in familienrechtlichen Verfahren
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8444-3023-3
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 147 Seiten
Reihe: Kompendien Psychologische Diagnostik
ISBN: 978-3-8444-3023-3
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerichtsverfahren nach Trennung und Scheidung von Eltern (Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahren) und Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge wegen Kindeswohlgefährdung machen kindeswohlorientierte Entscheidungen notwendig, für die eine psychologische Expertise häufig unabdingbar ist. Dieses Buch liefert einen strukturierten Überblick über das psychologisch-diagnostische Vorgehen im Rahmen der familienrechtspsychologischen Begutachtung.
Nach einer Einführung in relevante Fallkonstellationen, Rechtsnormen und Begriffsbestimmungen wird ein Überblick über den psychologisch-diagnostischen Prozess in familienrechtlichen Verfahren gegeben. Es wird dargelegt, wie juristische Fragestellungen in fallspezifische psychologische Fragestellungen überführt werden, die den Begutachtungsprozess bestimmen und strukturieren. Darauf aufbauend wird die systematische Ableitung eines Untersuchungsplans demonstriert, und zentrale diagnostische Bausteine wie Explorationsgespräche, Verhaltensbeobachtung, psychometrische Testverfahren und Fremdanamnese werden unter Bezugnahme auf aktuelle empirische Befunde im Detail erörtert. Im nächsten Schritt wird die Systematisierung der diagnostischen Ergebnisse und deren Bewertung und Gewichtung vor dem Hintergrund rechtspsychologischer Prüfkriterien erläutert. Es folgen Ausführungen zur Herleitung der kindeswohlorientierten Einschätzung und der Beantwortung der gerichtlichen Fragestellungen. Das Buch schließt mit einem Überblick über Qualitätsanforderungen, Mindeststandards und berufsethische Aspekte.
In allen Kapiteln des Bandes werden Anwendungsbeispiele zu den einzelnen Arbeitsschritten präsentiert, die auf Fällen aus der eigenen gutachterlichen Praxis basieren und die veranschaulichen, wie die theoretischen Ausführungen in praktische Anwendungen münden.
Zielgruppe
Sachverständige im Familienrecht, Familienrichter_innen, an familienrechtlichen Verfahren beteiligte Jurist_innen, Verfahrensbeistände, Umgangspfleger, im familienrechtlichen Kontext und im Kinderschutz tätige Fachpersonen, Mitarbeiter_innen in Jugendämtern, Studierende und Lehrende der Psychologie mit Schwerpunkt im Bereich Rechtspsychologie
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Kindesmissbrauch, Sexueller Missbrauch, Häusliche Gewalt
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Familientherapie, Paartherapie, Gruppentherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie Psychologische Diagnostik, Testpsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Kriminalpsychologie, Forensische Psychologie
- Rechtswissenschaften Bürgerliches Recht Familienrecht Verfahrensrecht in Familiensachen
Weitere Infos & Material
|24|3 Der psychologisch-diagnostische Prozess in familienrechtlichen Verfahren
Das psychologisch-diagnostische Vorgehen in familienrechtlichen Verfahren folgt zwei Prämissen: Zum einen orientiert es sich am Ablauf einer empirisch-wissenschaftlichen Untersuchung und zum anderen erfolgt es multimethodal (d.?h. mehrere Arten von Verfahren kommen zum Einsatz, vgl. Schmidt-Atzert & Amelang, 2018). Ein hohes Maß an Strukturierung des gutachterlichen Vorgehens mit Blick auf die Einschätzungsaufgabe stellt hierbei eine Schlüsselgröße dar, um ungenügend begründete, unreliable und falsche Einschätzungen zu vermeiden (vgl. Kindler, 2006; Manley & Chavez, 2008; Oberlander Condie, 2003; Salzgeber, 2015; Westhoff & Kluck, 2014). 3.1 Überblick des psychologisch-diagnostischen Prozesses
Der allgemeine Ablauf des diagnostischen Prozesses ist in Abbildung 3 dargestellt, wobei es im Einzelfall zu Abweichungen bzw. Anpassungen kommen kann (vgl. Kindler, 2006; Salzgeber, 2015; Westhoff & Kluck, 2014). Grundsätzlich beginnt die familienrechtspsychologische Begutachtung mit der Analyse der Vorinformationen auf Basis der richterlichen Fragestellung und des Akteninhaltes. In einem wissenschaftlichen Untersuchungsprozess würde dies der Aufarbeitung des Forschungsstandes entsprechen. Im Anschluss werden (analog zur Hypothesengenerierung im Forschungsprozess) psychologisch-diagnostische Fragen formuliert, die konkret untersuchbar, auf den Einzelfall bezogen und aus der Analyse der Vorinformationen abgeleitet sein müssen. Die hier implizierten Annahmen (Hypothesen) müssen im wissenschaftstheoretischen Verständnis falsifizierbar sein, was bedeutet, sie müssen, sofern sie unzutreffend sind, an der Erfahrung scheitern können (vgl. Popper, 1989). Das heißt, es müssen Ereignisse denkbar sein, die den implizierten Annahmen widersprechen, alternative Überlegungen müssen berücksichtigt werden. Konkret bedeutet dies, dass Sachverständige in ihrem diagnostischen Grundverständnis nicht der Prämisse folgen, ihre Annahme verifizierende Einzelereignisse zu erheben. Grundsätzlich werden, von der |25|Bestvariante das Kindeswohl betreffend bzw. von bestehender Erziehungsfähigkeit ausgehend, gegebenenfalls falsifizierende Ereignisse erfasst (vgl. Gould, Dale, Fisher & Gould, 2016). Die Notwendigkeit, eine Aktenanalyse in das psychologische Gutachten aufzunehmen, wird – genau wie die Notwendigkeit, psychologische Fragen aufzustellen – durchaus unterschiedlich diskutiert bzw. gehandhabt und von den Gerichten sogar teilweise als unökonomisch abgelehnt. Aus Sicht der Autor_innen dieses Bandes ist eine systematische Aktenanalyse mit daraus abgeleiteten Arbeitshypothesen unverzichtbar, um die Validität des gutachterlichen Vorgehens zu gewährleisten und damit wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen (mehr dazu siehe Abschnitt 3.2). Die Darlegung der systematischen Aktenanalyse sowie der daraus abgeleiteten Arbeitshypothesen im Gutachten sind aus Gründen der Transparenz und Nachvollziehbarkeit eines Gutachtens ebenfalls unabdingbar. Den zweiten Block im Begutachtungsablauf stellt die eigentliche diagnostische Erhebungsphase dar. Der dafür zuvor entwickelte Untersuchungsplan wird – je nach Fallkonstellation – aus dem Spektrum zur Verfügung stehender psychologisch-diagnostischer Verfahren (siehe Kapitel 4) entwickelt. |26|In einem letzten Schritt erfolgt die Integration der Ergebnisse und die Ableitung einer gutachterlichen Empfehlung: Die anhand der einzelnen Methoden gewonnenen Erkenntnisse werden den rechtspsychologischen Konstrukten zugeordnet (z.?B. den Kindeswohl- oder den Sorgerechtskriterien; siehe Kapitel 2) und hierbei einzelfallbezogen bewertet und anschließend gewichtet. Die psychologischen Fragen werden an dieser Stelle beantwortet. In einem letzten Schritt wird die kindeswohlorientierte Einschätzung hergeleitet, was in der Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung(en) mündet (zu diesem Vorgehen vgl. z.?B. Dettenborn & Walter, 2016; Drozd, Saini & Olesen, 2016; Manley & Chavez, 2008; Oberlander Condie, 2003; Salzgeber, 2015; Westhoff & Kluck, 2014; sowie die Verweise auf die nationalen und internationalen Richtlinien zur Gutachtenerstellung im Familienrecht in Kapitel 6). 3.2 Konstruktspezifikationen und Überführung juristischer Fragen in psychologisch-diagnostische Fragestellungen
Die Überführung juristischer Fragen, die sich im gerichtlichen Beweisbeschluss zur Auftragserteilung finden, in spezifische psychologisch-diagnostische Fragestellungen muss im Sinne eines empirisch-wissenschaftlichen Vorgehens strikt einzelfallbezogen erfolgen. Die entgegenstehende Annahme, die psychologischen Fragen seien für eine familienrechtspsychologische Begutachtung einheitlich zu formulieren und unabhängig vom Einzelfall, enthält demgegenüber eine Reihe von Missverständnissen, die der Betrachtung eines Gutachtens als wissenschaftliche Arbeit entgegenstehen. Zwar gibt es sicherlich Überschneidungen zwischen verschiedenen Fällen hinsichtlich der zu stellenden psychologischen Fragen. Von Gutachten zu Gutachten übernommene Standardformulierungen sollten jedoch vermieden werden. Spezifische fallbezogene Vorinformationen sollten immer berücksichtigt werden. Grundsätzlich empfiehlt es sich, der Ableitung psychologischer Fragen die Definition des Kindeswohls zugrunde zu legen und zwischen kindzentrierten und elternzentrierten Kindeswohlaspekten zu unterscheiden (vgl. Kindler, 2006 und Kapitel 2). Darüber hinaus muss die juristische Fallkonstellation berücksichtigt werden, die übergeordnete Fragestellungen vorgibt: In Verfahren zum Entzug elterlicher Sorge nach §?1666 BGB stellt sich die Frage, ob bei einer Gegenüberstellung kindlicher Auffälligkeiten und Ressourcen mit elterlichen Einschränkungen und Kompetenzen die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung überschritten wird. Hieran schließt sich die Frage an, durch welche Hilfemaßnahmen dies ggf. verhindert werden kann. Gemeint ist, ob die Lebensbedingungen durch |27|das elterliche Versorgungs- und Erziehungsverhalten die Befriedigung der kindlichen Bedürfnisse so weit verhindern, dass die sozialen und altersgemäßen Durchschnittserwartungen an die körperliche, seelische und geistige Entwicklung nicht erfüllt werden. Nach Werner (2006) bestehen drei basale kindliche Bedürfnisse, die auch als Grundbedürfnisse bezeichnet werden (vgl. dazu auch Brazelton & Greenspan, 2008; Maslow, 1943): Kindliche Grundbedürfnisse das Bedürfnis nach Existenz (d.?h. Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Gesundheit, Sicherheit und Versorgung, Schutz vor Gefahren sowie materieller, sexueller und emotionaler Ausbeutung, Bedürfnis nach angemessener Ernährung und Körperpflege, angemessenem Wach- und Ruherhythmus, Bedürfnis nach Regulation etc.); das Bedürfnis nach sozialer Bindung und Verbundenheit (d.?h. Bedürfnis nach mindestens einer beständigen und liebevollen Beziehung, die sich durch Nähe, Empathie, Verbundenheit, Verlässlichkeit und Akzeptanz auszeichnet, Bedürfnis nach sicheren Bindungen); das Bedürfnis nach Wachstum (d.?h. die Umsetzung kognitiver, emotionaler und sozialer Anregungen als Voraussetzung von geistiger und körperlicher Entwicklung, Bedürfnis nach entwicklungsgerechten und individuellen Erfahrungen, Wissen und Bildung). Darüber hinaus werden die folgenden weiteren Bedürfnisse für das Wohl von Kindern in der (rechts-)psychologischen Literatur genannt (vgl. u.?a. Brazelton & Greenspan, 2008; Maslow, 1943). das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Autonomie (in diesem Kontext ist der Kindeswille zu beachten); das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen (Bedürfnis nach Orientierung); ...