E-Book, Deutsch, 313 Seiten
Achouri Der Traum vom freien Leben
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-17-043745-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philosophische Skizzen des individuellen Anarchismus
E-Book, Deutsch, 313 Seiten
ISBN: 978-3-17-043745-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Laotse
Der chinesische Philosoph Laotse („Alter Meister“) soll im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gelebt haben und ist der Begründer des Taoismus (Daoismus). Sein Werk, das sich Tao Te King („Das Buch vom Sinn und Leben“) nennt, ist allerdings erst durch den Han-Kaiser Jing im zweiten Jahrhundert v. Chr. wiederentdeckt und so betitelt worden. Dabei ist generell zu beachten, dass die Quellenlage unsicher ist, manche bezweifeln sogar die Existenz Laotses. Dennoch finden sich viele spätere abendländische Gedanken bereits in der alten chinesischen Philosophie vorgefasst, beispielsweise der Spruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, der Sokrates zugesprochen wird. Bei Laotse klingt das noch so: „Wissen, dass man nichts weiß, ist das Höchste.“119 Der Legende nach verlässt Laotse, der als Bibliotheksarchivar des kaiserlichen Hofes tätig war, seine Heimat, weil er deren Zerfall voraussieht. Als er auf seiner Wanderung von dem Grenzbeamten Yin Hi gebeten wird, ihm sein Wissen mitzuteilen, schreibt er ebendieses Buch „Tao Te King“, in dem er alle seine Lehren sammelte, übergibt es dem Grenzbeamten und zieht danach ins Unbekannte. Laotse wurde in der Folge sowohl von den verschiedensten Philosophen, die ethische Zurückhaltung oder erkenntnistheoretischen Skeptizismus vertraten, als auch etwa von Liberalen, Pazifisten und antiautoritären bzw. anarchistischen Bewegungen als historische Ikone angegeben. Dementsprechend unscharf ist auch die gedankliche Rezeption. Man kann durchaus der Meinung sein, Laotse wollte eine Beschränkung und Minimalisierung des Staates und pochte auf eine Ordnung, die durch die Selbstorganisation der Individuen entsteht und so soziale Harmonie und Wohlstand schafft. Will man ihn so verstehen, so muss man allerdings im Hinterkopf behalten, dass er hierbei ein Bild des Individuums vor Augen hat, das dem „Berufenen“ entspricht, also ein Ideal, das erst einmal praktisch (selbst-)verwirklicht werden muss. Dies bedeutet vom Einzel-Ich zum reinen Ich zu gelangen, ein Zustand, der durchaus wieder überindividuell zu fassen ist. Hier ist kein Ideal des überdurchschnittlichen Talentes wie in der späteren Romantik gemeint, sondern gerade die Abwendung vom Ego und die Hinwendung auf das Tun: „Also auch der Berufene: Niemals macht er sich groß; Darum bringt er sein großes Werk zustande.“120 Und damit löst Laotse auch das anarchistische Paradoxon, wie mit monadisch vereinzelten Individuen überhaupt ein Zusammenleben möglich sein kann: Eben dadurch, dass auf der Stufe des Berufenen, der im überindividuellen, reinen Ich lebt, kein interindividueller Gegensatz mehr vorhanden ist; aller falscher Schein durch Sinne, Begierden und empirische Täuschungen ist dann abgelegt worden.121 In diesem wahren, ewigen Sein, das im Diesseits spielt, das keine weltverneinenden oder asketischen Züge hat122 und sogar durchaus hedonistisch geprägt ist123, liege das Geheimnis des Lebens höchster Art: „Also auch der Berufene: Er setzt sein Selbst hintan, und sein Selbst kommt voran. Er entäußert sich seines Selbst, und sein Selbst bleibt erhalten. Ist es nicht also: Weil er nichts Eigenes will, darum wird sein Eigenes vollendet?“124 Hier sind Elemente des philosophischen Quietismus zu entdecken, die dazu angeregt haben, Laotses Verständnis mit der späteren politischen Enthaltung Epikurs in Verbindung zu bringen: „Ohne aus der Tür zu gehen, kann man die Welt erkennen. Ohne aus dem Fenster zu blicken, kann man des Himmels Sinn erschauen. Je weiter einer hinaus geht, desto weniger wird sein Erkennen. Also auch der Berufene: Er wandert nicht und kommt doch ans Ziel. Er sieht sich nicht um und vermag doch zu benennen. Er handelt nicht und bringt doch zur Vollendung… Wer im Forschen wandelt, nimmt täglich zu. Wer im Sinne wandelt, nimmt täglich ab. Er verringert sein Tun und verringert es immer mehr, bis er anlangt beim Nicht-Tun. Beim Nicht-Tun bleibt nichts ungetan. Das Reich erlangen kann man nur, wenn man immer frei bleibt von Geschäftigkeit. Die Vielbeschäftigten sind nicht geschickt das Reich zu erlangen.“125 Der Hedonismus Laotses hat Ähnlichkeiten mit Epikur: Auch Laotse ist auf Glückseligkeit aus, um sein Leben als sinnvoll zu erfahren. Sinn kommt aber nicht durch materiellen Konsum und oberflächliche sittliche Scheinheiligkeit: „Wo die großen Straßen schön eben sind, das Volk aber die Seitenwege liebt, wo die Hofhaltung schön sauber ist, aber die Felder voll Unkraut stehen und die Scheunen leer sind, wo die Kleidung schmuck und prächtig ist, wo jeder einen scharfen Dolch im Gürtel trägt, wo man heikel ist im Essen und Trinken, wo sich die Güter im Überfluss finden: Da herrscht Räuberwirtschaft, nicht der Sinn.“126 In einem ruhigen, sinnvollen Leben wirkt das Individuum gerade dadurch, dass es nicht wirkt, nicht wirken will; es lässt sich leben, es wird durchdrungen vom Sinn des Lebens und das meint Laotse mit „Nicht-Handeln“, nämlich tätig sein durch überindividuelle Empfänglichkeit des Lebenssinns: „Das Nicht-Handeln üben: so kommt alles in Ordnung.“127 Damit entspricht das Individuum auf Stufe des Berufenen dem ewigen Lebensprinzip und transzendiert das individuelle Gegeneinander, das den Weltzusammenhang stört, aus dem Gleichgewicht bringt und ständige Gegenreaktionen provoziert.128 Indem individuelles und überindividuelles Wollen ineinanderfließen, indem beide das Gleiche wollen, bringt Laotse den vermeintlichen Gegensatz von individuellem Willen und allgemeinem Wollen zusammen und hebt den Gegensatz beider auf. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass morgenländisches Denken Affirmation und Negation nicht als kontradiktorische Gegensätze begreift. Während im Abendland der Satz des Widerspruchs als originäres Denkprinzip voraussetzt, dass widersprechende Urteile nicht zugleich wahr sein können, gilt das für das Verständnis des Widerspruchs im Morgenland nicht. Widersprüche und Paradoxien werden demnach in einer dynamischen Realität notwendigerweise ständig erzeugt, und ergänzen sich zu einem harmonischen Ganzen: „Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und Kurz gestalten einander. Hoch und Tief verkehren einander. Stimme und Ton sich vermählen einander. Vorher und Nachher folgen einander.“129 Um zu dieser Ergänzung zu kommen, kann „die Beeinflussung des gesellschaftlichen Zustandes von dem einzelnen Gesellschaftsmitglied nicht anders als durch Arbeit in seinem Inneren geschehen.“130 Kommt das Individuum nicht zu dieser Reflexionsstufe, so sorgt es für vielerlei Streitigkeiten und interindividuelle Auseinandersetzungen, die in einer Gesellschaft nicht zu einem friedlichen Zusammenleben führen können. Gebote, Pflichten, Zwang, Diebstahl und Gewalt kommen dadurch zustande, dass Individuen noch nicht diese Bewusstseinsstufe erreicht haben, wenn nach Laotse „der große Sinn verlassen wird“. Gewalt ist aber grundsätzlich abzulehnen, nicht nur auf Seite der Herrschenden, sondern auch auf Seiten des Volkes, was Laotse eher zum Pionier des gewaltlosen Widerstands macht als zum Vorläufer blutrünstiger Revolutionsparolen: „Auch die schönsten Waffen sind unheilbringende Geräte, und die Geschöpfe hassen sie wohl. Darum: Wer den Sinn hat, weilt nicht dabei… Die Waffen sind unheilbringende Geräte, nicht Geräte für den Edlen. Nur wenn er nicht anders kann, gebraucht er sie. Ruhe und Friede sind ihm das Höchste. Er siegt, aber er freut sich nicht daran. Wer sich daran freuen wollte, würde sich ja des Menschenmordes freuen. Wer sich des Menschenmordes freuen wollte, kann nicht sein Ziel erreichen in der Welt… Menschen töten in großer Zahl, das soll man beklagen mit Tränen des Mitleids. Wer im Kampfe gesiegt, der soll wie bei einer Trauerfeier weilen.“131 Wenn es möglich ist, gestaltet der Berufene, ohne zu kämpfen: „Des Berufenen Sinn ist wirken ohne zu streiten.“132 Wenn man davon ausgeht, dass dem „Wirklichen ein irrationaler Rest innewohnt, der sich denkend nicht erfassen lässt und vielleicht gerade der Daseinsgrund alles Individuellen“133 ist, dann würde es nicht verwundern, wenn beispielsweise sozialistisch-marxistische Theorien gerade danach trachten, diesen Rest Irrationalität auszumerzen, um eine rationale Planwirtschaft zu etablieren, die gerade das Einmalig-Individuelle notwendigerweise vernachlässigen muss bis hin zur Negation. Dies ist Laotses Weg nicht; er merzt das Irrational-Individuelle nicht aus, er rechnet damit, dass es sich in der Individuation zum höheren Ich, im „Berufenen“ von selbst auflöst, friedlich, selbstorganisatorisch, ohne Zwang. Auch strenger Zwang, der das Individuum einschränkt und mit Geboten gefügig macht, ist der Weg Laotses nicht. Gerade für den Herrschenden gilt das Nichthandeln als Gebot: „Wer seine Leute liebt als Herrscher des Reichs, der mag wohl ohne Handeln wirken können. Wenn des Himmels Pforten sich öffnen und schließen, so mag er wohl rein empfangend sein. Wer mit klarem Blicke alles durchdringt, der mag wohl ohne Kenntnisse bleiben. Erzeugen und ernähren, erzeugen und nicht besitzen: wirken und nicht behalten, mehren und nicht beherrschen: Das ist geheimes Leben.“134 Laotse hat dieses Verständnis von selbstorganisatorischem Führen sogar auf Staatslenker bezogen. So macht sich Herrschaft durch Vertrauen auf die Selbständigkeit und Selbstorganisationsfähigkeit des Volkes letztlich selbst obsolet: „Herrscht ein ganz Großer, so weiß das Volk nur eben, dass er da ist. Mindere werden geliebt und gelobt, noch Mindere werden gefürchtet, noch Mindere werden missachtet. Vertraut man nicht genug, so findet man kein...