E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Albahari Das Tierreich
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7317-6110-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6110-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Vier junge Männer finden scheinbar zufällig während ihres Militärdienstes bei der Jugoslawischen Volksarmee zueinander. Ihr Anführer Dimitrije Donkic gibt allen Tiernamen und nennt seine Gruppe das 'Tierreich'. Was anfänglich harmlos aussieht, ändert sich, als Mi?a dazu stößt: Er war maßgeblich an den Studentenunruhen in Belgrad 1968 beteiligt, aber das weiß nur der Tiger. In Aufzeichnungen, die dieser hinterlässt, um einen Mord zu ergründen, treibt ihn die Frage um, ob und von wem Mi?a enttarnt wurde. Seine eigene Rolle in dem tödlichen Spiel wird dem Tiger zunehmend unklar, und bald verliert er als Autor der Geschichte jegliche Gewissheit. Der Protest der Studenten scheint manipuliert und der Sieg der Mächtigen unaufhaltsam zu sein: 'Alles bestätigte endgültig, dass die Zukunft nicht mehr das war, was sie früher war, und dass selbst die Vergangenheit nicht ganz sicher vor Veränderungen sein konnte.'In der Tradition abgründig kommentierter Texte von Nabokovs 'Fahlem Feuer' bis Ecos 'Der Name der Rose' erzählt David Albahari vom verführerischen Sog des Bösen.'
David Albahari wurde 1948 in Pe? im heutigen Kosovo geboren und war einer der renommiertesten Schriftsteller Serbiens. Er studierte Englische Literatur in Belgrad und hat Vladimir Nabokov und John Updike ins Serbische übersetzt. 1973 erschien sein erster Erzählungsband, zahlreiche weitere Romane und Erzählungen folgten. Sein Werk ist vielfach ausgezeichnet worden, z. B. mit dem NIN-Preis und dem Ivo Andri?-Preis. Sein Roman »Heute ist Mittwoch« wird mit dem Aleksandar Ti?ma International Literary Prize (2022) ausgezeichnet. David Albahari kehrte 2013 nach einem dreißigjährigen Aufenthalt im kanadischen Calgary nach Belgrad zurück, wo er am am 30. Juli 2023 verstarb. Der seit vielen Jahren an Parkinson erkrankte Autor konnte Wenn der König stirbt nicht mehr selbst schreiben, sondern hat ihn diktiert.
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DIE GESCHICHTE Ich lernte ihn in Banja Luka kennen, in der Kaserne, in der wir unseren Militärdienst leisten sollten. Wir stellten uns immer als Belgrader vor, obwohl er in Neubelgrad und ich in Zemun lebte. Er kam auf mich zu, während ich in der Schlange stand, um mich registrieren und mir die Uniform verpassen zu lassen, neigte sich zu mir (er war größer und stattlicher als ich) und flüsterte mir ins Ohr: »Ich habe erfahren, dass du aus Belgrad bist, Gott sei Dank, denn diese anderen Stimmen und Akzente kann ich nicht ausstehen. Die sollte man alle kaltmachen, was sagst du dazu?« Ich sagte nichts, und er entfernte sich schnell. Jetzt bereue ich, dass ich nicht konsequent war und ihm nicht immer mit Schweigen antwortete, aber damals war ich noch eingeschüchtert von den Geschichten, die ich vor dem Militärdienst gehört hatte, denen zufolge der militärische Abschirmdienst genau wusste, wer einige Jahre zuvor bei den Studentenprotesten in Belgrad dabei gewesen war.4 Ich hatte eine unbedeutende Rolle gespielt – ich war Mitglied eines der vielen Ausschüsse und Komitees mit klingenden Namen, vielleicht hatte ich nur drei Mal irgendwelche Papiere in Räume gebracht, in denen andere, wohl wichtigere Ausschüsse tagten. Nie aber musste ich etwas zurückbringen, was wohl bedeuten mochte, dass ich Mitglied einer Arbeitsgruppe war, die lediglich Material für einen Ausschuss vorbereitete. Die Betonung meines belanglosen Engagements minderte jedoch nicht meine Befürchtungen. In Belgrad kursierten Gerüchte, wonach sogar Personen Schwierigkeiten bekamen, von denen alle wussten, dass sie nur stumme Beobachter gewesen waren. Einige schafften es beispielsweise nie, zu den vorgeschriebenen Terminen Prüfungen abzulegen, anderen kamen auf mysteriöse Weise ihre Reisepässe abhanden, den Dritten verweigerte man die Aufenthaltserlaubnis in der Hauptstadt, die Vierten wurden überraschend zum Militärdienst eingezogen. Soweit mir bekannt, ist keinem etwas Schlimmes zugestoßen, aber das Militär war eine derart finstere Welt, dass meine Sorge doch ernst zu nehmen war. Das war vermutlich ein weiterer Grund für mein Misstrauen gegenüber Dimitrije Donkic, obwohl es keinen Anlass zu Argwohn gab und sich alles auf die übliche Weise abspielte. In den folgenden zwei, drei Tagen trafen weitere Rekruten ein, und das anfängliche Chaos kam allmählich in geordnete Bahnen. Wir lernten, wo unsere Betten waren, wo sich die Schlafräume befanden und wo unsere Zehen zu sein hatten, wenn wir morgens vor unserem Gebäude in Reih und Glied antraten. Wir wurden zu Angehörigen von Zügen, die eine Kompanie bildeten, bekamen unsere Zugführer und Kompaniechefs, Leutnants und Oberleutnants. Wir bekamen Holzkisten, in denen wir unsere Sachen unterbrachten, und einige Tage später händigte man uns Waffen aus, manche bekamen ein Gewehr, andere eine Maschinenpistole, andere wiederum ein Maschinengewehr.5 Davor gab es das erste gemeinsame Duschen, begleitet von einer Menge vulgärer Sprüche und vom Piesacken solcher, die auf die eine oder die andere Weise aus der Reihe fielen, was dazu beitrug, dass sich sehr schnell verschiedene Cliquen bildeten, die sich redlich bemühten, uns zu zeigen, dass das Leben in der Kaserne für diejenigen, die außerhalb der Gruppen blieben, unerträglich war. Es gab jedoch auch solche, die es schafften, unabhängig zu bleiben und den Status des Einzelgängers zu bewahren. Auch mir gelang das eine Weile. Dann kapitulierte ich. Während der ersten Tage und Wochen nämlich hörte Dimitrije Donkic nie auf, um mich herum zu springen, Fragen zu stellen, sich zu erkundigen. Immerzu bat er um etwas, und wenn er es bekam, dachte er nicht daran, es zum abgemachten Zeitpunkt zurückzugeben, um mich später mit einem ungewöhnlichen Angebot oder einem kleinen Geschenk zu überraschen, etwa mit einer in Zeitungspapier eingeschlagenen Schachtel Neapolitaner. Beim Militär, wo der junge Soldat ständig das Gefühl hat, alle hätten ihn vergessen und er existiere nicht mehr als ein menschliches Wesen, bedeuten solche kleine Gesten viel mehr als in der Welt der Zivilisten. In der Militärwelt wirken sie aufrichtig, durch und durch rein, und wecken einige Hoffnung auf menschliche Güte. Ich will damit nicht sagen, dass der Aufenthalt in der Kaserne von Grausamkeit und Mangel an Menschlichkeit geprägt war, denn bei den Soldaten – so merkwürdig es auch klingt – überwogen solche, die glücklich waren, eine Uniform zu tragen. Und obwohl man bei einigen Soldaten – wie zum Beispiel bei mir – sah, dass die Verzweiflung für sie die schwerste Bürde war, konnte man von den Gesichtern vieler anderer einen Ausdruck von Freude ablesen. Allein das Gesicht von Dimitrije Donkic blieb unverändert, genauer gesagt, sein Gesicht konnte beides ausdrücken, je nachdem, mit wem er sprach.6 Mir zeigte er seine Verzweiflung, anderen seine Zufriedenheit, aber nichts deutete darauf hin, was von beiden echt war. Wie auch immer, ich gab ihm immer wieder nach und geriet allmählich unter seinen Einfluss. Hätte ich damals gewusst, wohin das führte, wäre alles anders geworden. In dem Fall könnte es zwar sein, dass auch ich nicht mehr am Leben wäre, was bedeutet, dass niemand erzählen könnte, was Dimitrije dem Waschbär, Miša dem Spatz, Redžep der Schlange und Goran der Zecke zugestoßen ist. Ja, mit anderen Worten, sie sind alle tot, alle außer mir, dem Tiger. Ich hatte ihnen nämlich das Tiger-Gedicht von William Blake vorgetragen. Zuerst auf Englisch (Tyger Tyger, burning bright, in the forests of the night; what immortal hand or eye could frame thy fearful symmetry?), dann in meiner wörtlichen Übersetzung, denn eine andere kannte ich nicht.7 Das Gedicht gefiel ihnen, sie drängten mich, es noch zweimal zu wiederholen, und belohnten mich anschließend mit Beifall. All das geschah vor der Militärkantine unter den vorhersehbaren Zurufen anderer Soldaten (»Soll dich der Tiger ficken«, »Deine Mutti ist eine Tigerin, Junge!« und Ähnliches). Dimitrije Donkic meinte dann, dass es, nachdem schon drei von ihnen, wie er sagte, tierische Spitznamen hätten, gerecht wäre, auch mir einen zu verpassen, und dass sie mich deshalb in Zukunft Tiger nennen würden. Bald bezeichnete jemand unsere Gruppe als »Tierreich«, und so bekam auch Miša, als er sich später zu uns gesellte, einen entsprechenden Spitznamen, er wurde nämlich Miša der Spatz. Bevor er zu Anfang des »Tierreichs« zu uns stieß, bildeten Dimitrije Donkic und ich ein Paar, da wir beide aus Belgrad waren, das andere Paar waren Redžep die Schlange und Goran die Zecke, die beide aus Priština kamen. Später verstand ich mich einige Zeit gut mit Redžep, während Goran und Dimitrije unzertrennlich wurden. Als Miša kam, änderte sich alles, weil mit der Aufnahme des fünften Mitglieds die Gruppe ihre einfache Symmetrie einbüßte. Wir betraten die Welt der asymmetrischen Zusammenschlüsse, zu der Geheimabsprachen, Einflussnahmen, Lügen und willkürliche Meinungsänderungen gehörten. Miša hatte anfangs nur mit mir Kontakt, was Redžep, Dimitrije und Goran veranlasste, die, wie Miša und ich sie nannten, »erste Stoßtroika des Tierreichs« zu bilden. Ich nenne ihn Miša, weil er sich so vorstellte, sein richtiger Name lautete Miodrag, doch früher hatten ihn alle Majk genannt. Majk und Miša, das klingt nicht gerade ähnlich, was für die Suche nach jemandem, der Miodrag hieß, bestimmt hinderlich war. Nachdem sich Miša später mit Dimitrije Donkic anfreundete, oder besser gesagt, nachdem er sich genötigt sah, wenigstens ein bisschen auf ihn zuzugehen, schloss sich Redžep wieder Goran an, und ich blieb allein. Aber das tat mir nicht leid. Beim Militär ist die Einsamkeit das höchste Gut, was bedeutet, dass die Mehrheit sie nicht respektiert. In dem Augenblick, da jemand versucht, sich abzusondern, kommen, als hätten sie nur auf diese Gelegenheit gelauert, zwei oder drei Soldaten auf ihn zu und beginnen ihn auf verschiedenste Weisen daran zu hindern. Das mag einem Außenstehenden wie ein Spiel vorkommen: Einer sondert sich von der Gruppe ab und will sich mit schnellen oder langsamen Schritten oder aber watschelnd wie eine Ente entfernen, doch egal, wie er sich bewegt, er kehrt immer zurück zu der Gruppe, die er verlassen wollte. Vermutlich hatte jemand an der Spitze des Militärs Angst, der Wunsch nach Einsamkeit könnte der Anfang eines Wegs ohne Ende, eines Wegs in den Selbstmord sein, der das Heer besudeln und die Zahl derer vergrößern würde, die sich vor dem Militärdienst zu drücken versuchen.8 Indessen spürte ich die ganze Zeit, ob allein oder nicht, wie Dimitrije mir im Nacken saß und auf einen günstigen Augenblick wartete, mir nahe zu kommen. Er kam langsam, ohne Eile auf mich zu, wobei er mich geschickt für sich einnahm und mir nicht gestattete, die Dinge so zu sehen, wie sie waren. Nach der Begrüßung neuer Rekruten, als er listig darauf bestand, dass wir als Großstadtkinder etwas Besseres seien als die anderen, als die, wie Dimitrije sie nannte, »armen Teufel«, denen das Schicksal beschieden hatte, in kleinen Städten und in Provinznestern des Landes geboren zu werden, erkannte ich mit Erstaunen, dass er mit diesen Worten etwas in mir berührte, das mir missfiel, aber mich leicht dazu verleiten konnte, ihm wie ein Hund zu folgen.9 Er hatte sich für mich jedoch etwas anderes ausgedacht. »Hunderollen« bekamen Redžep die Schlange und Goran die Zecke, während mir die Rolle des Köders zugedacht war für den, dessentwegen all das geschah. Hinter das Ganze kam ich erst viel später. In jenen Tagen ging ich voller Glücksgefühl zu einem Gebäude, in dem die Soldaten mehrerer...