E-Book, Deutsch, Band 16, 277 Seiten
Alheit Biographizität
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-593-46052-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zur Grammatik von Selbstbildungsprozessen in der späten Moderne
E-Book, Deutsch, Band 16, 277 Seiten
Reihe: Biographie- und Lebensweltforschung
ISBN: 978-3-593-46052-9
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Alheit entfaltet ein Konzept der »Biographizität«, das die neue Idee enthält, wie wir über unsere Existenz in der späten Moderne nachdenken könnten: Wir sind Produkte einer übermächtigen, kaum noch durchschaubaren sozialen Praxis, aber wir bleiben trotz allem individuelle Akreur:innen. Die Entdeckung unseres je individuellen Eigensinns besitzt ein bemerkenswertes Resilienz- und Widerstandspotenzial. Der Autor macht das nicht nur an den wechselhaften Erfahrungen des Subjekts in der Moderne theoretisch transparent, sondern auch an erstaunlich konkreten Entwicklungen der »deutschen Spätmoderne« - insbesondere nach der schwierigen »Wiedervereinigung« von Ost- und Westdeutschland.
Peter Alheit war Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Göttingen.
Autoren/Hrsg.
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Vorwort
Die Arbeit an einem Konzept von Bildung und Lernen, das mit den Tiefenstrukturen lebenszeitlichen Erfahrungserwerbs verknüpft werden kann, beschäftigt mich, seit Oskar Negt mit seiner Studie Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen den politisch durchaus provozierenden »Erfahrungsansatz« in der Arbeiterbildung proklamiert hat.1 Die damaligen Auseinandersetzungen – besonders in der Bildungsarbeit der Industriegewerkschaft Metall2 – sind heute ›Geschichte‹ und haben längst ihre politische Brisanz verloren. Das grundlagentheoretische Problem des Lernens in biographischer Perspektive ist damit allerdings keineswegs trivial geworden. Seit mehr als 30 Jahren habe ich mit dem zweifellos gewöhnungsbedürftigen Label »Biographizität«3 ein Forschungsprogramm konzipiert,4 das dem Anspruch einer empirisch gesättigten Theorie lebenslangen Lernens5 genügt und zum Aufbau einer Bildungspraxis nützlich ist, die in avancierten demokratischen Gesellschaften der späten Moderne dringend gebraucht wird. Die für diese historische Periode in eindrucksvollen Zeitdiagnosen6 prognostizierten »Krisensymptome« relativieren das autonome Subjekt der klassischen Moderne und reduzieren es – wie etwa in der Habilitationsschrift von Andreas Reckwitz7 – auf ein »potentiell heterogenes Arrangement von Dispositionen«. Solche praxeologischen ›Dekonstruktionsversuche‹ stellen nicht allein unkritisch akzeptierte moderne Fortschrittsphantasien in Frage, sie entlarven das Subjekt als hybride Konstruktion und indizieren zusätzlich die Entstehung reaktionärer populistischer Gegenbewegungen, die die Kernbotschaften der klassischen Moderne zynisch ignorieren.8 Die Pädagogik in spätmodernen Gesellschaften ist also wirklich herausgefordert. Vielleicht hat der 2022 verstorbene Tübinger Nestor der deutschen Weiterbildungsszene, Günther Dohmen, Recht, wenn er provozierend formuliert, wir müssten »das Lernen neu denken«9. Nicht nur anhaltend negative OECD-Zahlen zum internationalen Kohortenvergleich zumal der deutschen Absolventinnen10 weiterführender Bildungsabschlüsse,11 nicht nur zunehmende soziale Ausgrenzung von Menschen mit geringer Bildung weltweit, auch die Erkenntnisse etwa der Neurobiologie, ganz besonders der Gehirnforschung, in den letzten vier Jahrzehnten zwingen uns dazu. Wir sind auf sehr viel grundsätzlichere Weise »lebenslang Lernende«, als der politische Diskurs uns glauben machen will.12 Es geht eigentlich nicht um Fort- und Weiterbildung bis ins hohe Alter – sozusagen um die kontinuierliche Ausdehnung individueller Beschulung und Qualifikation. Es geht vielmehr um die Respektierung und Nutzung unserer kollektiven Lernfähigkeit, die brach liegt oder durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen blockiert wird. Mit Blick auf naturwissenschaftliche Befunde: Es scheint, zumal angesichts der drohenden Klimakatastrophe und verstörender Kriegsereignisse weltweit, um die zivile Nutzung der extremen Plastizität unserer Gehirne zu gehen, gerade für soziale Überlebensprozesse13 – weit jenseits der institutionalisierten Lernperioden im Lebenslauf. Forschungsethisch gewendet: um mehr oder minder bewusste, mehr oder weniger informelle, intuitiv oder strategisch selbst zu verantwortende Lernprozesse, die uns die Chance bieten, gemeinsam mit anderen auf qualitativ neue Weise an der kreativen Bewältigung der bedrohlichen Krisen der späten Moderne mitzuwirken. »Das Lernen neu denken«, gewiss. Bedeutet es aber nicht sehr viel dringlicher auch: das Lehren neu denken? Zur Entmythologisierung der Idee, ein strikter Wissenskanon sei die Voraussetzung guten Lehrens, haben neben einer Fülle von überzeugenden empirischen Forschungen14 nicht zuletzt die ungewollt komischen Geschichten beigetragen, die der österreichische Kybernetiker und Konstruktivist Heinz von Foerster erinnert: Er berichtet voller Ironie von seinem alten Geschichtslehrer, der auf die Frage »Was waren die Griechen für ein Volk?« immer nur die eine Antwort zuließ: »Herr Lehrer, die Griechen waren ein heiteres Volk.«15 Oder von jenem Grundschüler, der auf die Frage der Lehrerin, wieviel 2 x 3 sei, geantwortet hatte: 3 x 2, und dafür nachsitzen musste, weil er die Standardantwort »6« zumindest nicht spontan präsentieren wollte. Der Junge hatte aber seine Antwort ganz ernst gemeint und von Foerster später die Richtigkeit sogar nachweisen können: Er hatte entdeckt, dass der Zahlentausch das Ergebnis nicht verändert. Eigentlich hatte er auf seine Weise das Kommutativgesetz der Multiplikation bewiesen: A x B gleich B x A.16 Von Foerster spricht bei dieser Art bornierten Lehrens von einer »Trivialisierung der Lernenden«.17 Das Lehren wird vom Denken und der Erfahrung der Schüler abgespalten. Es ist sich selbst genug. Die nie aufgeklärte Umkehr jenes berühmten und zumeist falsch verstandenen Seneca-Satzes »non scholae sed vitae discimus« (›nicht für die Schule, sondern für’s Leben lernen wir‹) sollte auf moderne Weise wieder ernst genommen werden. Seneca hatte mit der ursprünglichen Formulierung »non vitae sed scholae discimus«18 eine scharfe Kritik der ›Mode‹ verbunden, Lernen eben nicht für das praktische Leben, sondern nur für die lebensferne Institution Schule zu belohnen. Mein alter, ein wenig skurriler Lateinlehrer betonte deshalb immer wieder, um seine Pointe wirklich zu verstehen, sei die sinnvollste Übersetzung des verdrehten Seneca-Satzes: »Nicht von der Schule, sondern vom Leben lernen wir«. Damit bin ich bei meinem Thema: Was könnte »vom Leben lernen« heute bedeuten, und welchen Beitrag liefert das merkwürdige Kunstwort »Biographizität«19 dazu? Ich denke darüber, wie eingangs erwähnt, seit vielen Jahren nach und habe meine Gedanken hier einmal vorsichtig zu ordnen versucht. Der vorliegende Essay bezieht sich zum größeren Teil auf bereits in deutscher, englischer, französischer, dänischer oder spanischer Sprache veröffentlichte Arbeiten, die zwischen 1990 und 2022 entstanden sind.20 Dabei kann man die konzeptionelle Entwicklung des Forschungsprogramms »Biographizität« implizit durchaus nachvollziehen. Es wird nicht allein transparent in der zunehmenden Verdichtung des Konzepts durch theoretisches Wissen aus kompatiblen konzeptionellen Traditionen wie der Kritischen Theorie, einer sozialwissenschaftlich aufgeklärten Phänomenologie, dem Symbolischen Interaktionismus, der Figurationstheorie, einer an Bourdieu geschulten Theorie der Praxis, vor allem auch einem neurobiologisch fundierten Konstruktivismus, um nur die wichtigsten zu nennen. Es erhält seinen pointierten Zuschnitt vielmehr durch qualitativ-empirische Studien in unterschiedlichen Kulturen und Milieus. Dabei werden nicht nur neue Einsichten gewonnen in die Art, wie wir in spätmodernen Gesellschaften lernen, sondern auch Perspektiven auf kulturelle Wandlungsprozesse und politische Entwicklungen. Es entsteht eine Vorstellung von der »Biographizität des Sozialen«21, eben der Art und Weise, wie Individuen an der Konstruktion moderner Gesellschaften beteiligt sind, aber zugleich die Einsicht in die praxeologische Grundierung der Subjektivität, in den nur im Kontext konkreter historischer Praktiken vorstellbaren, je einzigartigen Aktionsraum gesellschaftlicher Individuen. Die dialektische Spannung zwischen den Entfaltungsmöglichkeiten und den durch die soziale Praxis historisch gewachsenen Limitierungen subjektiven Handelns steht im Fokus der theoretischen Reflexionen dieses Essays. Die Argumentationsdramaturgie wird sich nach einer programmatischen Einführung (Kapitel 1) zunächst mit der knappen historischen Analyse des Konzepts »Biographie« in der Moderne befassen (Kapitel 2), die dann durch eine kritische Diskussion der theoretischen Fundamente des neu entdeckten und für lebenslanges Lernen so grundlegenden Phänomens »Biographizität« ergänzt wird (Kapitel 3). Im Anschluss werden zum Teil noch unveröffentlichte empirische Forschungsarbeiten zu diesem Thema vorgestellt, und zwar Entdeckungen zu kontrastiven sozialstrukturellen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland, die nachhaltige Brisanz besitzen (Kapitel 4). Den Abschluss bilden kritische Perspektiven auf Risiken und...