E-Book, Deutsch, 448 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
Alkier / Böttrich Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-374-05090-1
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth
E-Book, Deutsch, 448 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
ISBN: 978-3-374-05090-1
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die exegetischen Arbeiten Eckart Reinmuths, von 1995 bis 2016 Professor für Neues Testament an der Universität Rostock, umfassen ein breites Themenspektrum. Dabei steht vor allem das Gespräch mit Philosophie und Kulturwissenschaften im Mittelpunkt. Für Eckart Reinmuth gehört es zu den maßgeblichen Aufgaben der Theologie, sich an der kulturellen und religiösen Welterschließung ihrer Zeit aktiv zu beteiligen. Die politische Dimension biblischer Texte hat deshalb auch für seinen exegetischen Ansatz prägenden Charakter und schlägt sich in verschiedenen interdisziplinären Projekten nieder. Darauf nehmen die Beiträge des vorliegenden Bandes Bezug. Sie treten in das Gespräch mit Eckart Reinmuth ein und führen es auf den Gebieten von Hermeneutik, Exegese, Kulturwissenschaft und Theologie fort. Daraus entsteht eine Band, der die vielfältige Rolle der Theologie in den gesellschaftlichen Diskursen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf kritische und stimulierende Weise widerspiegelt.
Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Walther Bindemann, Lukas Bormann, Christfried Böttrich, Klaus-Michael Bull, Kristina Dronsch, Werner Kahl, Thomas Klie, Martina Kumlehn, Burkhard Liebsch, Karl-Wilhelm Niebuhr, Tobias Nicklas, Michael Rydryck, Michael Schneider, Michael Sommer, Angela Standhartinger, Grit Straßenberger, Christian Strecker und Manuel Vogel.
[New Testament Sciences and Social Responsibility. Studies Following-Up Eckart Reinmuth]
The exegetical works of Eckart Reinmuth, 1995–2016 Professor for New Testament at the University of Rostock, cover a wide range of topics. One of their main focusses is on the conversation with philosophy and the cultural sciences. Eckart Reinmuth sees as one of the most important tasks of theology to participate actively in the contemporary cultural and religious disclosure of the world. Therefore, his exegetical approach concentrates in a great measure on the political dimension of biblical texts, which has led to various interdisciplinary projects. This is the frame of reference for the contributions to the present volume. They enter into a discussion with Eckart Reinmuth and continue it in the fields of hermeneutics, exegesis, cultural sciences and theology. The result is a volume which reflects the multifaceted role of theology in the social discourses at the beginning of the 21th century.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religion & Wissenschaft
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Bibelwissenschaften Neues Testament: Exegese, Geschichte
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Religion & Wissenschaft
Weitere Infos & Material
DAS KREUZ IST KEINE METAPHER Hermeneutische, politische und theologische Verpflichtungen der Jesus-Christus-Geschichte1 Stefan Alkier »Die himmlische Würde des Menschen haben wir heute zu verkünden.
Zu Weihnachten –- und im Alltag der Welt. Mitten im Leben.
Gegen jeden finsteren Unsinn.« (Aus dem Weihnachtsgruß 2016 des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund) JESUS SCHWITZTE VOR ANGST Jesus, ein Mensch aus Galiläa, der vor gut 2000 Jahren lebte, starb zur Amtszeit des Römers Pontius Pilatus (26-36 n. Chr.) in Judäa vor den Toren Jerusalems den Foltertod am Kreuz. Er wird entsetzlich gelitten haben – wie jeder andere auch, der so endete. Die im Neuen Testament gesammelten Evangelien erzählen, dass Jesus mit seiner Verurteilung und Hinrichtung rechnete. So erinnert das Markusevangelium, dass er in Erwartung dessen von Schrecken und Unruhe erfasst wurde, seine engsten Vertrauten um Beistand bat und Gott anflehte, dieses Schicksal nicht erleiden zu müssen (vgl. Mk 14,33-36a). Matthäus verstärkt diese Szene und lässt Jesus in Gethsemane mehrfach Gott darum bitten, verschont zu bleiben (vgl. Mt 26,36-44). Nach Lukas schwitzte Jesus vor Angst »und sein Schweiß war wie Blut« (Lk 22,44). Selbst im Johannesevangelium, das Jesus dezidiert aus der Perspektive seiner Erhöhung darstellt, hat die Angst Jesu ein intertextuelles Echo gefunden. Es bestreitet zwar die in den synoptischen Evangelien formulierte an Gott gerichtete Bitte Jesu, vor der zu befürchtenden Hinrichtung verschont zu bleiben, konstatiert aber die bedrückende Situation Jesu vor seiner Gefangennahme: »Jetzt ist mein Leben erschüttert – und was sollte ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde?«2 (Joh 12,27). Während also Joh 12,27a als Aussagesatz aufzufassen ist, der die Erschütterung des Menschen Jesus von Nazareth erinnert angesichts seines bevorstehenden Leidens, formuliert Joh 12,27b die Bitte aus den synoptischen Evangelien als rhetorische Frage an die Jünger und legt damit den Grund für die Aussage in Joh 16,33b: »In der Welt habt Ihr Angst, aber siehe, ich habe die Welt überwunden.« Auch das Johannesevangelium bewahrt die Erinnerung an die Angst Jesu. Es stellt sie aber aus der Perspektive der durch das Zusammenspiel von Kreuzigung und Auferweckung gewirkten Erhöhung Jesu im Modus ihrer Überwindung dar. Nur dann, wenn Jesus gar nicht mehr als Mensch wahrgenommen, sondern durch eine mythische Figur ohne Fleisch und Blut ersetzt wird, kann ihm auch keine Angst mehr zugeschrieben werden. Aber noch im Modus ihrer Bestreitung bleibt Jesu Angst lesbar, weil wohl die Erinnerung daran so wirksam war, dass sie nicht einfach übergangen werden konnte. Die Johannesakten benötigen daher einigen narrativen und diskursiven Aufwand, um ihren le(i)blos abstrakten »Jesus« aus der menschlichen Sphäre von Angst und Schmerzempfindlichkeit herauszureißen – und erinnern gerade damit wohl eher ungewollt an das konkrete, unverdrängbare Leiden des Menschen Jesus von Nazareth: »Als ich ihn [Jesus] nun leiden sah, hielt ich sein Leiden nicht aus, sondern floh auf den Ölberg und weinte über das Geschehene. Und als er am Freitag zur sechsten Tagesstunde (am Kreuz) aufgehängt wurde, trat Finsternis auf der ganzen Erde ein. Und es stand mein Herr mitten in der Höhle, erleuchtete mich und sagte: ›Johannes, für die Menge unten in Jerusalem werde ich gekreuzigt und mit Lanzen und Rohren gestoßen und mit Essig und Galle getränkt. Mit dir aber rede ich, und was ich rede, höre! Ich habe es dir eingegeben, auf diesen Berg zu gehen, damit du hörst, was ein Jünger vom Meister lernen muß und ein Mensch von Gott‹.« »Und da er das gesagt hatte, zeigte er mir ein zu fester Form gewordenes Lichtkreuz, und um das Kreuz herum eine große Menge, die nicht nur eine Form hatte; und in ihm war eine Form und eine gleichartige Erscheinung. Den Herrn selbst aber sah ich oben über dem Kreuz, und er hatte keine Gestalt, sondern nur eine Stimme, doch nicht die uns gewohnte Stimme, sondern eine liebliche und gütige und wahrhaft Gott (gehörige), die sprach zu mir: ›Johannes, einer muß von mir dieses hören; denn eines bedarf ich, der hören soll. Das Lichtkreuz wird von mir bald Logos genannt, bald Vernunft, bald Christus, bald Tür, bald Weg, bald Brot, bald Same, bald Auferstehung, bald Sohn, bald Vater, bald Geist, bald Leben, bald Wahrheit, bald Glaube, bald Gnade; so (heißt es) für Menschen‹.« »›Was es aber wirklich ist, an und für sich betrachtet und im Blick auf euch genannt -: Es ist Begrenzung aller Dinge und feste Erhebung des aus Unbegründetem Gefestigten und Gleichmaß der Weisheit; während sich die Weisheit aber im Gleichmaß befindet, gibt es Rechte und Linke, Mächte, Gewalten, Herrschaften [und] Dämonen, Wirkkräfte, Drohungen, Zorneswallungen, Verleumdungen, Satan und die untere Wurzel, aus der {die} Natur des Werdenden hervorgegangen ist.‹ ›Dieses Kreuz also, welches durch den Logos das All gefestigt und das aus dem Werden und vom Unteren (Herkommende) abgegrenzt, dann aber in alles sich ergossen (?) hat, ist nicht das hölzerne Kreuz, das du sehen wirst, wenn du von hier hinuntergehst. Auch bin ich nicht der am Kreuz, (ich) den du jetzt nicht siehst, sondern (dessen) Stimme Du nur hörst. Was ich nicht bin, dafür bin ich gehalten worden, der ich nicht bin, was ich für die vielen bin; vielmehr ist, was sie von mir sagen werden, niedrig und meiner nicht würdig‹.«3 Wird das hölzerne Kreuz nicht mehr als das, was es war, wahrgenommen und somit aus der Jesus-Christus-Geschichte verdrängt, so verkommt nicht nur dieses Kreuz, sondern christlicher Glaube als solcher zu einem intellektuellen Metapherngewitter, das vielleicht noch Kirche und kunstbeflissene Bildungsbürger zu interessieren vermag, mit der historischen Erdung dieser Geschichte inmitten der Geschichte der Opfer menschlicher Gewalt und Grausamkeit aber nichts mehr zu tun hat. Hat nicht längst der historistische Relativismus zu einer alltagsfernen4 und politisch desinteressierten Theologie geführt, die den Johannesakten näher steht als den synoptischen Evangelien? DAS HÖLZERNE KREUZ Das hölzerne Kreuz ist der historische Haftpunkt christlichen Glaubens, der ihn davor bewahrt, zu einem intellektuellen Gedankenspiel zu verblassen. Vor der historischen Realität dieser Hinrichtung, dem erlittenen Tod des Menschen Jesus, haben alle mythischen, symbolischen, konstruktivistischen Verflüchtigungen zu schweigen. Weil Jesu Kreuz keine abstrakte Metapher war, verpflichtet es seine Deutungen in hermeneutischer, theologischer und politischer Hinsicht auf Bestimmtheit: Jede Hermeneutik, die die historische Referenz des Kreuzes Jesu nicht voll und ganz anzuerkennen ermöglicht, macht sich der Verhöhnung des Opfers menschlicher Gewalt schuldig. Jede Theologie, die ihren Ausgangspunkt nicht im historischen Ereignis der Kreuzigung Jesu findet, verklebt Augen und Ohren für die Wahrnehmung des ethischen und politischen Imperativs der Jesus-Christus-Geschichte, nämlich umzudenken und aus der Perspektive der Opfer das Weltgeschehen und den eigenen Alltag5 zu bewerten und zu gestalten. Der gekreuzigte Jesus war einer von Vielen. Die von menschlicher Gewalt verursachte Angst und Erschütterung Jesu, die die neutestamentlichen Evangelien erinnern und die Johannesakten verdrängen möchten, reiht sich ein in die unzähligen Ängste und Erschütterungen der vor, mit und nach Jesus Gekreuzigten. Weder das hölzerne Kreuz noch der hingerichtete Galiläer Jesus waren Metaphern. Die Kreuzesstrafe haben nicht erst die Römer erfunden. Alle Regionen und Kulturen, die für die neutestamentlichen Texte relevant sind, kannten die Kreuzigung als besonders grausame Form der Todesstrafe. Griechen, Juden, Römer und vor ihnen bereits Phönizier, Assyrer, Lyder, Perser, Inder, Skythen, Taurer und Kelten töteten in verschiedenen Varianten insbesondere politische Straftäter und Mörder auf diese langsame und qualvolle Art und Weise.6 In aller Regel ging ihr die Folter voraus, so dass die Gekreuzigten nicht erst durch das Annageln von Armen und Beinen, sondern schon durch die Schläge und Peitschenhiebe der Folterknechte blutüberströmt am Kreuz hingen. Allein in den Geschichtswerken des Herodot7 und des Josephus finden sich viele Belege für diese grauenhafte Tötungsart. Josephus erzählt in erschütternder Weise, wie der jüdische König und Hohepriester Alexander Jannai (103-76 v. Chr.), der sich innenpolitisch auf die Sadduzäer stützte, aber immer stärker in einen Konflikt mit den Pharisäern und ihren Sympathisanten geriet, der in einen sechsjährigen, blutigen Bürgerkrieg führte, 800 Pharisäer in Jerusalem kreuzigen ließ. Die Pharisäer hatten ihm das Recht des Hohenpriestertums abgesprochen, was er ihnen nun grausam heimzahlte: »Es steigerte sich nun infolge maßloser Wut seine Rohheit zu widergöttlichem Frevel: er ließ von den Gefangenen 800 mitten in der Stadt ans Kreuz binden und vor deren Augen ihre Frauen und Kinder abschlachten; er sah dabei während eines Trinkgelages mit seinen Kebsweibern zu. Das Volk ergriff solch ein Entsetzen, dass von den Gegnern in der folgenden Nacht 8000 aus ganz Judäa entflohen, für die ein Ende des Flüchtlingsdaseins erst bei Alexanders Tod eintrat.« (Flav.Jos.Bell 1,97f)8 ...