Altenberg | Peter Altenberg. Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Altenberg Peter Altenberg. Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95676-770-8
Verlag: OTB eBook publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-95676-770-8
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Peter Altenberg (* 9. März 1859 in Wien, † 8. Jänner 1919 ebenda, eigentlich Richard Engländer) war ein österreichischer Schriftsteller. Altenberg wurde als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Er studierte erst Jura, dann Medizin, brach die Akademikerlaufbahn aber ab und nahm eine Buchhändlerlehre bei der Hofbuchhandlung Julius Weise in Stuttgart auf. Diese brach er ebenso ab wie einen erneuten Versuch des Jura-Studiums. 1895 verfasste er erste literarische Arbeiten, durch den Kontakt mit Karl Kraus kam es ab 1896 zu Veröffentlichungen wie diesem “Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus”
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Wie ich es sehe
Neun und elf Margueritta stand nahe bei ihm. Sie lehnte sich an ihn. Sie nahm seine Hand in ihre kleinen Hände und hielt sie fest. Manches Mal drückte sie sie sanft an ihre Brust. Und doch war sie erst elf Jahre alt. »Margueritta ist die Menschenfreundin«, sagte die Mutter zu dem jungen Manne, »Rositta ist anders – –. Sie liebt die Einsamkeit, die Natur und die Tiere. Jetzt hat sie ihr Herz einem gelben Dachshund geschenkt, Herrn von Bergmann. Sie hatte das Glück, ihm gestern vorgestellt zu werden. Sie hat heute die Taschen voll Würfelzucker für ihn – – –, aber es ist eine unglückliche Liebe.« »Wieso unglücklich – –?!«, sagte das Kind, »ich liebe ihn ja! Ich denke immer an ihn – –. Das macht mich doch glücklich?!« Rositta war neun Jahre alt, zart und bleich. Margueritta sagte: »O, Rositta ist übertrieben –!« »Wieso?!«, fragte die Schwester und erbleichte –. »Ja, du bist übertrieben – –! Sie will Sennin werden am Patscherkofl und Zither lernen!« Rositta: »Der Wirt in Igls hat so schön Zither gespielt und gesungen! Und er hat gar nicht gewußt, daß er schön singt – –! Er ist dagesessen und hat gesungen – – –.« Margueritta: »Rosie hat eine Altstimme und dichtet sich selber die Lieder. In der Früh singt sie manchmal: ›O, meine Berge, meine Berge – –!‹ Aber übertrieben ist sie doch – – –!« Die Mutter sagte: »Das ist doch kein Lied: ›O meine Berge – –!?‹« Rosie sah ihre Schwester an. Sie war erstaunt, verlegen. Margit sagte: »O ja, das ist ein Lied – –! Mama, das verstehst du nicht, das verstehen nur wir. Ein Lied ist es, nicht wahr, Herr – – –?!« Der junge Mann sagte: »Ja!« Er dachte: »Es ist eine tönende Menschenseele – – ein Lied!« Er blickte in die Welt zweier Kinderseelen. Margueritta war die rosige Morgenröte – – man konnte es nicht anders sagen. Aber die andere, die Sennin am Patscherkofl, die bleiche zarte, die Zither lernen wollte und die mit einer Altstimme sang: »O meine Berge, meine Berge« – –?! Es wurde Abend. Er saß zwischen den beiden Kindern auf einer Bank an der Esplanade. Margueritta legte ihr blondes Köpfchen auf seinen Schoß und schlief ein – –. Rosie saß da und blickte auf den See hinaus – –. Beide weißen süßen Kinderseelen waren ihm zugeflogen. Aber wirklich liebte ihn nur Margueritta und wirklich liebte er nur sie. Was ist das »wirklich«?! Über der anderen schwebte das Schicksal. In ihr sang es: »O, meine Berge – – –«. Und doch küßte sie ihn so sanft und sagte: »Du, Herr Albert – – –« Aber den Herrn von Bergmann mit dem gelben Fellchen und den krummen Beinchen und den riesigen Ohren – – – den liebte sie »wirklich«! Wenn er vorüberwatschelte, hatte sie eine tiefe Sehnsucht – – –. Sie stand da mit ihren verschmähten Zuckerstückchen und warf sie ins Wasser – – Der junge Mann fühlte die Tiefe. Die Mutter sagte einfach: »Rositta ist schwer zu behandeln. Ich sehe darauf, daß sie viel schläft. Ich möchte Aufregungen von ihr ferne halten – – –. Auch das Mutterherz fühlte das »schwebende Schicksal«. Der junge Mann behandelte beide gleich. Beide küßte er, mit beiden ging er Hand in Hand über die Esplanade, mit beiden ruderte er in den Abendstunden langsam auf und ab – – –. Beiden schenkte er zum Abschied, im Herbst, zwei goldene Kuhglöckchen als Brosche, mit dem eingeätzten Worte »See-Ufer«. Rositta sang am nächsten Morgen in der Stadt mit ihrer Altstimme: »O meine Berge, meine Berge –!« Es war doch ein Lied – – ein Lied! Margueritta hörte zu und dachte: »Du Dichterin, du Sängerin – – –!« Dann sagte sie einfach: »Rosie, du bist übertrieben – – –!« Quartett-Soirée Der Saal ist viereckig, schneeweiß, überhaupt wie eine riesige Pappendeckelschachtel. Die durchscheinenden Kugeln aus dickem welligem Glase machen aus dem Bogenlicht im Inneren goldgrüne und weißgrüne Flecken, die wie glänzendes Wasser schimmern oder Öl, wie Milch im Mondschein. Rechts neben ihm saß sein goldblondes Schwesterchen, in Samt maron purée und einer Bluse aus gleichfarbiger Seide. Sie hatte zu Hause gebadet, sich getummelt, häusliche Unannehmlichkeiten gehabt, suchte nun etwas, das entlastete, entfernte, blickte in die riesige Pappendeckelschachtel mit den goldgrünen glänzenden Flecken – – –. »Man bleibt also der, der man ist, überall – –?!«, fühlte sie. Die Instrumente sagten: »Husch aus dem Bade –!« »Marie, bitte, oh Marie.« »Aber Fräulein, machen die Brause zu – –. Wie schön Fräulein sind – –.« »Wo ist mein Seidentuch?! Bitte um Geld für die Garderobe – –.« »So geh schon – –.« »Gibt es einen Frühling – –?! Was ist eigentlich Musik – –?!« Links neben ihm saßen zwei Schwestern, junge Frauen, Bekannte. Die eine hatte eine Pongis-Bluse mit Rubinschmuck und schwarze Augen, Augen wie Mitternacht. Diese Augen sagten: »Ich will brennen! Macht ein Feuer an! Ich will brennen – – –!« Die andere dachte: »Das Leben hat schöne Einzelheiten wie das Quartett. Aber was ist es?! Man zählt und zählt – – –. Anita ist müde, Zählen macht müde, nicht?! Und wenn ich Zehntausend habe?! Dann lege ich es in ein goldenes Kästchen und werfe das Schlüsselchen ins Meer – – –.« Die Violinen sangen. Sie träumte: »Helgoland – – oh meine Sommertage – – ins Meer – –.« Das Fräulein in maron purée dachte: »Die vier Herren da oben sind schwarz und zusammengeduckt, sie müssen sehr unbequem sitzen, und die Fräcke verdrücken sich. Es ist Kammermusik, der edelste Kunstgenuß, ja wirklich. Die Oper hat mehr Farben – –.« »Die Oper hat mehr Farben – – –« dachte sie jetzt endgültig und ihre gebadete Haut begann zu dunsten in der Konzert-Luft. »Habe ich das Eau de Cologne zugestöpselt, habe ich das frische Nachthemd hergerichtet, habe ich Reis herausgegeben – – –?!« dachte sie. Die Dame sagte zu dem Herrn: »Sie müssen Helgoland sehen – –. Ich habe den Tanz getanzt mit den Matrosen – –.« Es hieß: »Jawohl, ob du es glaubst oder nicht, so eine bin ich – – manches Mal.« »Pst – – –«, sagte man. Süße Töne füllten die weiße Pappendeckelschachtel wie mit Bonbons. Da stieg das Cello in ihr Herz – – –. »Was siehst du mich an, Herr?! Höre lieber zu – – –. Pause. »Helgoland – – – ich tanzte mit den Matrosen!« »Zartes feines Geschöpf – –«, denkt der Herr, »haben sie dich nicht zerdrückt?!« »Woher bin ich – –?!«, fühlt sie plötzlich, »wohin gehe ich?! Ich wohne Ebendorferstraße 17, I. Stock, Tür 5. Im Vorzimmer ist ein roter Teppich und Spiegelglas. Wie ein kleiner Kerker ist es – –. Helgoland, ich tanzte mit Matrosen – – –!« Das Fräulein in maron puree denkt: »Ich habe niemand – – –.« Andante. »Wie Schatten – – –«, sagt die junge Frau. »Du bist affektiert – –«, denkt das Fräulein; »wie Schatten – – –?!« Die junge Frau wird rot, weil man es gehört hat. Sie senkt den Kopf, horcht auf die »huschenden Schatten« – – –. Die Violinen machten »ti–ti–tiiiii – – –«, worauf das Cello noch ein bißchen das alte Thema in Erinnerung brachte, aber nur so, husch – – –. Wie Schatten – – –. Alle sagten »bravo«. Wie wenn man sagt: »bravo, ein Kind ist gestorben.« Eigentlich hätte man schluchzen hören sollen. Die junge Frau zieht an ihrem Opernguckersäckchen aus Seide, zu, auf, zu, auf, zu – – –. Das Fräulein denkt: »War es fad oder bloß traurig?!« In der ersten Reihe sitzt Frau P. Sie bekommt alles im Leben aus erster Hand. Sogar die Jacke ist Modellstück, hellgrüne Seide mit opalisierenden Glasperlen. Sie denkt: »Wie angenehm ist das Leben und so einfach und wie schön diese Herren spielen! Wird Herr Max zum Souper mitkommen?!« Die ganze erste Reihe hält sich für König Ludwig, dem man extra vorspielt. Wirklich, die Töne fahren sonst in der Pappendeckelschachtel herum wie feine Schmetterlinge, zerstoßen sich an den goldgrünen Flecken der Lampen – – –. Aber in der ersten Reihe schweben sie über den Cercle-Sitzen wie über Blumen. Der Musikkritiker sitzt ganz rückwärts. Er hat das Ohr mit seinen Labyrinthen. Ein Ariadnefaden führt zum Welt-Geist! Alle sagen: »bravo – – –.« Er fühlt: »Ein Kind ist gestorben – – –.« »Sie müssen Helgoland sehen – – –«, sagt die junge Frau zu dem Herrn, »das wünsche ich Ihnen – –.« »Sie sind wie eine Meermuschel«, sagt er, »in der das Meer noch singt, wenn längst – – –.« Da begann ein neues Musikstück. Das Klavier sagte: »wenn längst, wenn längst – –« und tanzte einen Matrosentanz. Das Cello griff ins Herz hinein, eigentlich drückte es das Herz zusammen und ließ es wieder los. Da wurde es weit oder es schien nur so – – –. »Es ist ein Meerbad – –«, fühlt die Dame, »kurz wie Helgoland und wie der Sommer und wie eine Herde gelber Schafe, die durch ein...



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