Buch, Deutsch, Band 4, 402 Seiten, gebunden, Format (B × H): 139 mm x 213 mm, Gewicht: 547 g
Reihe: Werke
Buch, Deutsch, Band 4, 402 Seiten, gebunden, Format (B × H): 139 mm x 213 mm, Gewicht: 547 g
Reihe: Werke
ISBN: 978-3-608-93564-6
Verlag: Klett-Cotta Verlag
In diesem Dialog mit einer literarischen Figur, dem Ehemann der 'Madame Bovary' von Flaubert, geht es Améry um die soziale und ästhetische Ehrenrettung des verkannten Individuums, des bürgerlichen Subjekts. Es ist eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Sartres Flaubert-Interpretation, wie sie in dem Monumentalwerk 'Der Idiot der Familie ' entwickelt wird - ja mehr noch: Es ist der Versuch der endgültigen Loslösung vom bewunderten intellektuellen Vorbild.
Diese Zusammenhänge, die ins Zentrum des philosophischen und ästhetischen Denkens von Améry führen, werden in diesem Band erstmals eingehend dargestellt. Texte zu Sartre und Flaubert begleiten den Anmerkungsteil. Deutlich wird, welch hohen Anspruch Améry mit diesem Buch (und seinem öffentlichen Erfolg) verband und welchen Stellenwert es für Améry als literarischen Autor hat.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Charles Bovary, Landarzt
Portrat eines einfachen Mannes 7
Aufsätze zu Flaubert und Sartre 187
In die Welt geworfen
Jean-Paul Sartre (1955) 189
Die Wörter Gustave Flauberts
über Jean-Paul Sartres ' L'ldiotdelafamille ' (1971) 198
Die Stunde des Romans
Zum 150. Geburtstag des 'Meisters der Bovary' (1971) 225
Sartre: Größe und Scheitern (1974) 238
Anhang 267
Hanjo Kesting: Nachwort
Entstehung
Charles Bovary, Landarzt ist das letzte von Jean Améry vollendete Buch. Es erschien wenige Wochen vor seinem Tod und stellt so etwas wie die Summe seines Werkes dar. Irene Heidelberger-Leonard, die beste Kennerin Amérys, hat es sein 'Testament' genannt (B S. 303).
Das Exposé des Buches lag dem Verlag im Sommer 1976 vor, die Ausarbeitung wurde Anfang 1977 in Angriff genommen. 'Das Jahr beginnt mit drangvoller Arbeit. [.] für mich [wird es] ein Jahr der Bovary-Passion sein', schrieb Améry am 5. Januar 1977 an Hans Paeschke, den Herausgeber der Zeitschrift Merkur, deren regelmäßiger Mitarbeiter Améry war. Andere Schreibpflichten und eine schwere Grippe verzögerten die Ausführung, so daß im Juni 1977 nur 'knapp das erste' von sechs Kapiteln fertig war (an Ernst Mayer, 20.6.1977). Die übrigen fünf Kapitel, also der weitaus größere Teil des Manuskripts, entstand in der unglaublich kurzen Zeit von vier Wochen während eines Sommerurlaubs, den Améry mit seiner Frau in Tiège in den nördlichen Ardennen verbrachte. Von dort meldete er am 19. Juli den Abschluß des Manuskripts, das danach abgeschrieben, durchgesehen und korrigiert wurde, bis es am 7. Oktober zunächst an die interessierten Rundfunkredaktionen geschickt werden konnte.
Wie bei fast allen früheren Buchprojekten seit Jenseits von Schuld und Sühne gingen auch bei Charles Bovary, Landarzt Sendungen im Rundfunk der Drucklegung voraus. Die Federführung für das zweiteilige Radio-feature, eine Coproduktion des Norddeutschen Rundfunks mit dem Westdeutschen Rundfunk und dem damaligen Südwestfunk, lag bei dem Herausgeber des vorliegenden Bandes der Werkausgabe; sie war begleitet von einem ausführlichen Briefwechsel. Die Sendungen wurden im Februar 1978 ausgestrahlt. Ein Vorabdruck aus Charles Bovary erschien im August-Heft der Zeitschrift Merkur. Ende August 1978, dreizehn Monate nach Abschluß des Manuskripts, lag auch das gedruckte Buch endlich vor, vom Autor mit großen Hoffnungen und seltener Zuversicht begleitet. 'Möge das Schicksal ihm freundlich gesinnt sein', schrieb er an seinen Lektor Hubert Arbogast, 'freundlicher, hoffentlich als meinem Liebling Lefeu. [.] Im Grunde bin ich für diesmal nicht pessimistisch.' (26.6.1978)
Der Erzähler Jean Améry
'Es ist müßig, so scheint mir, weiterhin darüber zu streiten, ob das Werk von Jean Améry dem Bereich der Philosophie zuzurechnen sei oder dem der schönen Literatur. Er selber wollte immer nur eins sein: ein Autor, der diese Abgrenzungen und Facheinteilungen überflüssig machte.'Helmut Heißenbüttel schrieb diese Sätze im Nachwort zu Amérys postum erschienenen Essayband Der integrale Humanismus. In der Tat läßt sich bei Améry der Schriftsteller vom Philosophen, der Denker vom Dichter nicht trennen. Sein Werk wächst aus einer Wurzel, und welche Form auch immer er wählte, stets flossen Erzählung und Reflexion ineinander. Das unterscheidet ihn von seinem Vorbild und Lehrmeister Jean-Paul Sartre, dessenWerk sich einteilen läßt, wie es bei den Autoren der bürgerlichen Zeit üblich war: Philosophie, Theater, erzählende Prosa, Essayistik, Kritik usw. stehen hier unverbunden nebeneinander. Bei Améry dagegen gelingt es nicht leicht, zwischen philosophischer Reflexion, literarischer Fiktion, Erzählung und Essay genau zu unterscheiden. Da es ihm um die Demonstration existentieller Erfahrung geht, treten Begrifflichkeit und Beschreibung, Selbstreflexion und Gesellschaftsanalyse niemals völlig auseinander, sie durchdringen sich vielmehr unaufhörlich, lassen die Beschreibungen reflexiv, die Analyse gegenständlich erscheinen, geben dem Gedanken eine fast körperliche Präsenz und dem Essay die Gespanntheit einer leiblichen Bewegung.
Amérys Essayistik tendiert nicht zur Theorie- oder gar Systembildung, sie vermeidet die hochfliegende Spekulation; bei allem theoretischen Anspruch soll sie empirisch überprüfbar, im Konkreten fundiert, auf ein denkendes Subjekt rückführbar sein. So eignet ihr von Anfang an ein erzählerisches Element. Als Améry Anfang der siebziger Jahre bei Niederschrift des Lefeu den vertrauten Bereich rational kontrollierter Essayistik verließ und sich, zum ersten Mal seit dem Frühwerk Die Schiffbrüchigen, auf den Boden literarischer Fiktion wagte, machte er die Erfahrung, daß er dem Grundimpuls seines Schreibens, der Verbindung von Reflexion und Erzählung, nur einen weiteren Schritt nähergekommen war. 'Jetzt glaube ich nämlich zu wissen', schrieb er an seinen alten Freund Ernst Mayer, 'daß ich wesentlich nicht zum reinen Denker angelegt war, sondern zum denkenden Erzähler.' (16.11.1971, zit. nach B S. 273) [.]