Andina | Tage mit Felice | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: EDITION BLAU

Andina Tage mit Felice


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-85869-879-7
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: EDITION BLAU

ISBN: 978-3-85869-879-7
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Ein Bergdorf im Tessin. Das frisch gestrichene Gemeindehaus, die Bar, wo der Alkohol fließt, der Schulbus aus Acquarossa, der Bauer Sosto, der letzte, der Kühe hat. Das Dorf von Felice. Vor dem ersten Hahnenschrei bricht er auf, der alte Kauz, der meistens barfuß läuft, um in einer Gumpe weit oben hinter dem Kiefernwald zu baden. Auch bei Regen, auch bei Schnee. Danach hackt er Holz, pflückt im Garten Kakis, und wenn er im Wald Pilze findet, kommt er mit Käse zurück. Der junge Mann aus der Stadt, der mit ihm geht, entdeckt eine nie gesehene Dunkelheit, eine Stille, die hörbar, eine Kälte, die Hitze wird - und so manches Geheimnis um den neunzig Jahre alten Mann. Ihm wird klar: Wir dürfen uns Felice als glücklichen Menschen vorstellen. Tage mit Felice ist ein minimalistisch erzählter Roman über die Kunst des einfachen Lebens und zugleich das Porträt eines Dorfs im Bleniotal. Dort oben, den Härten der Jahreszeiten ausgesetzt, wo niemand ein leichtes Auskommen hat, sind die Menschen rau und wortkarg und lieber mit den Tieren zusammen. Und doch ist da eine starke Gemeinschaft, die Leben und Tod und den Einbruch des technischen Zeitalters ganz selbstverständlich teilt. Eine ergreifende, entschleunigende Lektüre.

Fabio Andina, geboren 1972 in Lugano, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er wieder im Tessin, im Malcantone. Tage mit Felice ist sein zweiter Roman und sein erstes Buch in deutscher Übersetzung. Es wurde mit dem Preis Terra Nova 2019 der Schweizerischen Schillerstiftung und dem Premio Gambrinus 2019 ausgezeichnet.

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Eins
Er ist es, der klopft und mich weckt. Es ist noch nicht einmal halb sechs. Ich steige die Treppe hinunter, mache die Tür auf und sehe ihn dort im Dunkeln unter einem Schirm, das Hemd offen, kurze Hose, barfuß. Kalte Luft strömt herein, es regnet. Ich ziehe mich an und gehe hinaus. An einem Nagel in der Hauswand hängt das Thermometer, das Vittorina mir geschenkt hat. Fünf Grad. Ist gar nicht mal so kalt, sage ich mir. Muss wohl daran liegen, dass ich es nicht gewohnt bin, so früh aufzustehen. Gestern hatte ich Felice vor meinem Haus getroffen, es war ein sonniger Nachmittag, um die Berggipfel zogen sich die ersten grauen Wolken zusammen, die den Himmel noch vor Sonnenuntergang verdunkeln sollten. Ich lasierte gerade die Tür des Holzschuppens, er ging vorbei, genauso angezogen, barfuß und mit einer Plastiktüte voller Kakis. Wir wechselten einige Worte, dann fragte ich ihn, ob ich ihn ein paar Tage lang begleiten dürfe. Um ein bisschen so zu leben wie er. Wir gehen die drei Steinstufen hinunter und tauchen schnellen Schrittes in den Nebel ein, in die Nässe und die kopfsteingepflasterte Gasse, die sich zwischen den niedrigen Häusern hindurchschlängelt. Häuser jahrhundertealt und eindrucksvoll wie die Steine ihrer Mauern. Die Dachbalken krumm gebogen unter dem Gewicht der Steinziegel und die kleinen Fenster noch dunkel. Eine von der Gemeinde aufgestellte Straßenlaterne leuchtet uns schwach den Weg. Seit eh und je munkelt man im Dorf, dass Felice sich jeden Morgen noch vor dem ersten Hahnenschrei aufmacht, um splitterfasernackt, weiß der Teufel wo, in einer eiskalten Gumpe in einem Wildbach zu baden. Manche sagen, er habe das schon immer gemacht. Andere, er habe nach seiner Russlandreise in den sechziger Jahren damit angefangen. Wieder andere behaupten, er mache es erst, seit er in Rente ist. Für manche liegt diese Gumpe im Gurundin, nahe dem Selvaccia-Kiefernwald. Für andere im Bach Altaniga, zwischen dem Hof von Celso und den Tognola-Höfen. Wieder anderen zufolge sogar oben bei der Alpe del Gualdo, auf eintausendsechshundert Metern Höhe. Nachdem wir das Dorf hinter uns gelassen haben, biegen wir in die Kantonsstraße ein, die von Leontica hinauf Richtung Nara führt. Das Klatschen von Felices bloßen Füßen auf dem nassen Asphalt und das Wiehern von Vittorinas Maultier in seinem Pferch ein Stück weiter vorn. Dort angekommen, erwartet uns das Muli bereits, und Felice streichelt es. Ich ebenfalls, ausgiebig. Sein grobes, nasses Fell, schon das Winterfell, und das Trommeln des Regens auf dem Blechdach. Wir gehen weiter, er in seinem sommerlichen Aufzug versucht, den Schirm auch über mich zu halten. Wir passieren das Haus von Floro und seinem Kater Rasta. Eine elende Hütte, jetzt im Dunkeln fast unsichtbar, die er vor rund zwanzig Jahren mehr schlecht als recht hergerichtet hat. Eternitdach, kein Strom, eigentlich nicht bewohnbar, der Wasseranschluss ein Gummischlauch von einem Bach ins Haus. Als Toilette der nahe Eschenwald. Die Fenster dunkel, Floro schläft noch, wir gehen weiter. Floro hat mal zu mir gesagt, dass das mit Felices Gumpe totaler Quatsch sei. Ja, es stimme, dass er ständig durch die Gegend laufe wie ein alter herumstreunender Wolf. Vor Jahren, solange er es schaffte, sei er sogar die Berge rauf- und runtergerannt, das sei der einzige Sport, für den man nichts weiter brauche, hätte er gemeint. Er ging aus dem Haus und fing an zu rennen. Oft weiß er aber nicht mal selbst, wohin er läuft, erzählte Floro weiter. Wie damals, als er um neun Uhr abends oben in Cancorì in der Nähe des Genzianella mit einem Beutel in der Hand gesehen wurde. Er würde Wildspargel suchen, hatte er behauptet. Wir verlassen die Kantonsstraße bei der Kehre der Alten Lärche, eines hundertjährigen, allein stehenden Baums, und nehmen die Abkürzung über einen Schotterweg zur Pian di Sella hinauf. Eine viereckige Hochebene von einem Kilometer Seitenlänge, die sich vom oberen Dorfrand bis zum unteren Rand des steil abfallenden Selvaccia-Kiefernwalds erstreckt. Rechts wird sie von der tiefen Schlucht des Gurundin, links von den Serpentinen zum Nara hinauf begrenzt. Eine Ebene mit Viehweiden, ein paar Ställen und zwei, drei Ferienhütten. In der Ferne ist der Stall des Bauern Sosto zu sehen. Ein heller Spot außen an der Fassade führt uns zum Eingang. Man erzählt sich auch, dass Felice im Winter das Eis aufschlagen muss, das sich auf der Gumpe bildet, und dass er eine Seife mitnimmt, um sich zu waschen, und dass er früher oder später dort drin bleiben wird, in dieser eisigen Wanne, klapperdürr wie er ist. Und wer soll ihn dann finden, die Füchse werden ihn auffressen. Sosto, fünfundvierzig Jahre alt, Statur eines Bauern, Bart und Haare ungepflegt und eine Parisienne im Mund, hantiert mit dem Melkapparat herum und grunzt Flüche ohne Ende, weil sich die Schläuche verwickelt haben und es nicht richtig saugt. Also grüßen wir ihn nur und machen uns wieder auf den Weg. Wir gehen im ersten Morgengrauen voran und lauschen dem Geräusch unserer Schritte im Matsch. Das gelbe Licht einer Straßenlaterne beleuchtet die kleine Holzbrücke über den Altaniga. Ich frage mich, wo diese Gumpe bloß sein kann, ob wir jetzt an diesem Wasserlauf entlang bergauf steigen, doch wir gehen geradeaus weiter. Vorn kommt der andere Steg, der über den Gurundin führt. Wir überqueren ihn. Hier endet der Schotterweg in einem Wendeplatz, und das trübe Licht der letzten Straßenlaterne spiegelt sich in den schwarzen, zitternden Pfützen. Vor uns der dunkle Kiefernwald. Felice klappt den Schirm zusammen, schwenkt nach rechts und verschwindet, verschluckt von der Finsternis. Ich will ihn einholen, aber nach ein paar Schritten bleibe ich erschrocken stehen. Ich sehe nichts mehr. Warte darauf, dass meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Fehlanzeige. Ich halte den Atem an und spitze die Ohren. Höre ihn einige Meter weiter vorn. Wenigstens bin ich hier vorm Regen geschützt. In langsamem Tempo steigen wir einen steilen und rutschigen Weg hinauf, von dem ich nichts erkennen kann. Ich versuche, ihn mir vorzustellen. Ich trete auf den Absatzkanten auf und hebe die Knie an, um nicht über einen Stein oder eine Tannenwurzel oder sonst was zu stolpern, und halte die Hände vors Gesicht aus Angst, dass ein Zweig sich mir ins Auge bohrt. Felice, rufe ich. Ho, ertönt seine Antwort aus dem Schwarz. Nichts, ich wollte nur wissen, wo du bist. Es sind die ersten Worte, die wir miteinander wechseln. Nach einer langen Weile sagt er, pass gut auf, dass du nicht auf den Arsch fällst, jedoch leise, vielleicht aus Achtung vor der Stille, die im Wald herrscht. Wie fast alle Bewohner von Leontica spricht Felice nur den Dialekt des Bleniotals, das auch Valle del Sole genannt wird. Felice, rufe ich wieder, ebenfalls gedämpft. Ho. Hast du keine Taschenlampe? Taschenlampe? Hm, kann sein, dass ich eine hab, irgendwo. Wir sind vielleicht eine Viertelstunde bergauf gegangen, als es plötzlich ein lautes Krachen gibt, wie vom Brechen eines Asts, gefolgt von einem Getrappel, das sich schnell entfernt. Überrascht bleibe ich stehen. Hirsch?, frage ich. Aé. Wird schon ein Hirsch gewesen sein. Ist voll von Hirschen hier. Seine Stimme klingt beruhigend. Wir gehen weiter. Es gelingt mir, dicht hinter ihm zu bleiben, indem ich auf seinen Atem und das schwache Geräusch seiner Schritte höre. Minuten später erkenne ich allmählich seine Waden, grau, zwei oder drei Meter vor mir. Und die schwarzen Baumstämme ringsherum. Der dichte Kiefernwald über unseren Köpfen beginnt, sich zu lichten. Wie viel Uhr es wohl ist. Es wird langsam Tag, sage ich mir. Dann ist ein ferner Glockenschlag zu hören, dann noch einer und noch einer. Das Ave-Maria-Läuten der Glocken von Leontica um halb sieben. Eine klare, fröhliche Melodie. Er bleibt stehen, wendet sich dem Talgrund zu und verharrt so, ganz versunken, bis die letzten nachhallenden Töne verklungen sind. Nach dem Kiefernwald wird die Steigung etwas sanfter, und Felice beschleunigt seine Schritte. Wir gehen durch eine Fülle von Heidelbeersträuchern und Alpenrosen und vielleicht auch Alpenazaleen hindurch. Im Dunkeln sehen sie alle gleich aus. Hier und da sind die schwarzen niedrigen Umrisse von Latschenkiefern zu erkennen und die hohen schlanken einzeln stehender Tannen. Es regnet immer noch, und der fast unerträglich raue Wind peitscht mir ins Gesicht. Meine Nase läuft, und ich wische sie mit dem nassen, kalten Ärmel meines Wollpullovers ab. Mein übriger Körper ist erhitzt. Inzwischen ist der Pfad unter meinen Füßen halbwegs sichtbar. Eine Furche von einer Handbreit Tiefe und dreimal so breit. Wie sie die Kühe auf den Alpen treten. Rechts von mir höre ich den Gurundin raunen, kann ihn aber nicht sehen. Grob geschätzt müssten wir jetzt etwa auf fünfzehnhundert Metern Höhe sein. Sicher bin ich allerdings nicht, weil ich mich immer noch nicht orientieren kann und das Zeitgefühl verloren habe. Ich trage keine Uhr, und...


Fabio Andina, geboren 1972 in Lugano, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er wieder im Tessin, im Malcantone. Tage mit Felice ist sein zweiter Roman und sein erstes Buch in deutscher Übersetzung. Es wurde mit dem Preis Terra Nova 2019 der Schweizerischen Schillerstiftung und dem Premio Gambrinus 2019 ausgezeichnet.



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