E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Anselm / Jähnichen / Wirth Profile evangelischer Ethik
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-30764-6
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
30 Konzepte aus 100 Jahren
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-30764-6
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
H. RICHARD NIEBUHR
(1894–1962)
Von Christian Polke †
Nicht immer stehen in der Geistesgeschichte intellektuelle Wirkung und allgemeine Bekanntheit eines Autors in einem angemessenen Zusammenhang. Im Fall von H. Richard Niebuhr, dem jüngeren Bruder des weitaus bekannteren Reinhold Niebuhr, darf man jedenfalls konstatieren, dass sein Einfluss auf die Theologiegeschichte in den USA weitaus größer war und (noch) ist, als man dies für seine eigene Person sagen könnte; von der mangelnden Rezeption hierzulande einmal ganz zu schweigen. Dabei darf er zu Recht als ein Klassiker der theologischen Ethik im 20. Jahrhundert gelten. Von seinem Bruder ist die Anekdote überliefert, wonach die Auswahl der Musikinstrumente, welche die beiden Geschwister in ihrer Kindheit zu treffen hatten, symptomatisch für ihren weiteren Lebenslauf (und Charakter?) sei: Er, Reinhold, wählte die Trompete, H. Richard hingegen die Flöte. Vom jüngeren Niebuhr-Bruder ist wenig Biographisches übermittelt. Auch sind seine wichtigsten Lebensstationen schnell erzählt: Nach Besuch des Elmhurst College, wo er 1912 graduierte, sowie des Eden Theological Seminary, promovierte er 1924 an der Yale University mit einer (beeindruckenden, leider bis heute nicht publizierten) Arbeit über die Religionsphilosophie des ein Jahr zuvor verstorbenen Ernst Troeltsch. Danach kehrte er an seine ersten Ausbildungsstätten in unterschiedlicher Funktion zurück: Am Eden Seminary lehrte er von 1919 bis 1924 und dann nochmals von 1927 bis 1933. Zwischenzeitlich stand er in Elmhurst der Einrichtung als Präsident vor. Von 1931 bis zu seiner Emeritierung lehrte er dann wiederum als Sterling Professor of Theology and Christian Ethics an der Divinity School in Yale. Kurz nach Ende seiner Lehrtätigkeit starb er im August 1962, noch bevor er sein lang geplantes Werk zur christlichen Ethik, das er sich für den Ruhestand vorgenommen hatte, ausarbeiten konnte. Schon diese wenigen Stationen belegen immerhin, wie wichtig Niebuhr, auch nach Auskunft vieler seiner Schülerinnen und Schüler, die akademische Lehre und Nachwuchsförderung waren. In den 1950er-Jahren fand unter seiner Federführung eine umfassende Evaluierung des theologischen Ausbildungswesens in Nordamerika (The Study of Theological Education in the United States and Canada) statt. In diesem Sinne war er, der 1916 als Pfarrer der Evangelical Synod, später United Church of Christ ordiniert wurde, ganz und gar ein Mann der christlichen und theologischen Unterweisung. Seinem eher als schüchtern zu bezeichnenden Wesen, das die breitere Öffentlichkeit scheute – auch darin ganz anders als Reinhold, dem er zeitlebens über alle Kontroversen eng verbunden blieb – kam dies entgegen. Gleichwohl, blickt man von heute auf das Wirken dieses Mannes, so kann man nur erstaunt sein, welch breite Schülerschaft daraus hervorging: James F. Gustafson, Gordon D. Kaufmann, Hans W. Frei und Sallie McFague sollten ebenso prägenden Einfluss auf die nachfolgenden Generationen entfalten, wie die ebenfalls von ihm beeinflussten (jüngeren) James W. Fowler, George H. Lindbeck und Robert N. Bellah. Niebuhrs eigene Prägungen, die für das Profil seiner Theologie ausschlaggebend wurden, verweisen ebenfalls auf einen ungewöhnlichen Denker. Schon früh kritisierte er deutlich den religiösen Liberalismus als auch die Social Gospel-Bewegung. Beißend heißt es dazu noch in seinem späterhin bekannten Werk The Kingdom of God in America (1937): »Ein Gott ohne Zorn brachte Menschen ohne Sünde in ein Reich ohne Gericht durch den Priesterdienst eines Christus ohne Kreuz.« (dt. 140) In diesem, und nur in diesem Sinne, blieb er dem dialektischen Erbe des frühen Barth verpflichtet. Gleichwohl bedeutete dies nicht, dass er die berechtigten Anliegen einer Vermittlung von Religion und Kultur sowie die Frage nach dem Weltgestaltungsauftrag des Christentums vernachlässigte. Er stellte sie aber auf eine andere theologische Grundlage. Fast schon einzigartig sind darüber hinaus seine Bemühungen, die Einsichten aus Historismus und Pragmatismus für Theologie und Ethik fruchtbar zu machen. Niemand verband in dieser Zeit so produktiv Ideen eines Ernst Troeltsch mit denen eines George Herbert Mead und eines Josiah Royce. Daraus resultierte im Grunde, dass er zur gewichtigsten Alternative zum amerikanischen Paul Tillich werden konnte. Wo Letzterer bewusstseinstheoretische Sinntheorie mit Existentialismus, Psychoanalyse und Seinsontologie paarte, bemühte sich Ersterer darum, Handlungs- und Sozialtheorie mit einer historistischen Hermeneutik in ethischer Absicht zu verbinden. Bei ähnlicher Zeitdiagnose lautete die Devise somit nicht »Sein und Sinn«, sondern »power and value«. Niebuhr hat selbst keine dicken Bücher verfasst. Seine Schriften bilden allesamt eher kleine, aber feine Kabinettstücke theologischer Reflexions- und Urteilskraft. Sein Interesse an der Verbindung von Soziologie und Geschichte kommt schon in seinen beiden ersten Werken zur Geltung. Sowohl The Social Sources of Denominationalism (1929) als auch die bereits erwähnte Schrift The Kingdom of God stellen Versuche einer historischen Soziologie der Gestalten des amerikanischen Christentums dar. Vor allem in Ersterer wird mit Hilfe soziologischer Typologien im Anschluss an Max Weber der enge, theologisch betrachtet allerdings problematische Konnex von Klassenzugehörigkeit, ethnischer Herkunft und Denomination analysiert. Der dabei geprägte Begriff der »Denomination«, der noch heute in Gebrauch steht, geht maßgeblich auf Niebuhr zurück. Wie sehr Niebuhr als Troeltschs eigentlicher Erbe angesehen werden kann, zeigen dann auch die Schriften der 1940er- und 1950er-Jahre. Darin stehen Fragen um die Zusammenhänge und wechselseitigen Einflüsse von Glaube und Kultur im Zentrum, und dies aus einer dezidiert ethisch-theologischen Perspektive. Ausgangspunkt ist die tiefe (reformierte) Überzeugung, dass Gott in der Geschichte stets handelnd präsent ist, und zwar auch dann, wenn dies vordergründig ganz und gar abwegig erscheint; wenn seine Güte gegenüber dem Bösen scheinbar machtlos zu scheitern droht. War as Crucifixion (1943) heißt nicht umsonst ein berühmter Artikel aus seiner Feder. Niebuhrs »radikaler Monotheismus« ist Quelle und Fluchtpunkt all seines Denkens und Glaubens. Er ist die Basis sowohl für seine Kritik an moralistisch oder christlich imprägnierten Weltverbesserungsphantasmen als auch seine stets mit Selbstkritik einhergehende Sensibilität für die Widersprüchlichkeiten unseres Lebens. Dabei liegt ihm sehr daran, die transformative Kraft des christlichen Glaubens in der Geschichte wie für die Gegenwart herauszustellen. Das ist u.?a. das Anliegen seines zweiten Klassikers, Christ and Culture, von 1951, in dem er in Anlehnung an Troeltschs Soziallehren in wiederum idealtypischer Hinsicht fünf verschiedene, in der Geschichte wirksam gewordene Modelle christlicher Welt- und Kulturverantwortung analysiert: Christ against Culture, Christ of Culture, Christ above Culture, Christ and Culture in Paradox sowie Christ Transforming Culture. In keinem dieser Modelle lässt sich die Spannung zwischen universalem Glaubensanspruch und partikularen Kultur- als Wertgebilden auflösen. Dennoch unterscheiden sie sich wesentlich in der Art und Weise, wie sie die wechselseitigen Prägeprozesse deuten und bearbeiten. Obgleich Niebuhrs eigenes Denken dem letzten Modell am nächsten steht, so lautet die primäre Botschaft dieser Rekonstruktion doch, dass alle kulturellen und auch alle religiösen Wertgebilde sich selbst nicht verabsolutieren dürfen. Nur wenn Gott, der gerade keinen höchsten Wert darstellt, sondern als »Center of Value« (D. Grant) der Ursprung und das Ziel alles Wirklichen darstellt, als von der Welt unterschieden anerkannt bleibt, lässt sich an der Vielgestaltigkeit unserer kulturellen Lebenswelten und ihren Wertidealen festhalten. Anders gesagt: Wertepluralismus und radikaler Monotheismus bedürfen und bedingen einander. Dabei sind Werte für Niebuhr keine ontologischen Eigengrößen, sondern stellen vielmehr Qualitäten (Ideale) sozialer Relationen dar. Dies gilt für zwischenmenschliche Beziehungen nicht weniger als für Gemeinschaften oder die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Für deren Gelingen allerdings bedarf es stets eines Glaubens (faith), dessen wesentliche Komponenten Vertrauen (trust) und Treue (loyalty) darstellen. Vor diesem Hintergrund versteht Niebuhr in seiner 1963 posthum erschienenen Skizze für eine christliche Moralphilosophie The Responsible Self – aus den Earl Lectures hervorgegangen – den Menschen als ein »verantwortliches Selbst«. Im Unterschied zu teleologischen wie zu deontologischen Ethiken mit ihren Leitmetaphern vom Menschen als Macher (»man-the-maker«) und Bürger (»man-as-citizen«) erblickt eine »Ethik des responsible self« im Menschen ein primär sozial konstituiertes und geschichtlich bedingtes Beziehungswesen: »The idea of responsibility […] may abstractly […] be defined as the idea of an agent’s action as response to an action upon him in accordance with his interpretation of the latter action and with his expectation of response to his response; and all of this is in a continuing community of agents.« (The Responsible Self, 65) Die Einflüsse von Pragmatismus und symbolischem Interaktionismus, aber auch von Martin Bubers Dialogismus sind deutlich erkennbar. Die Pointe...