E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Ansen Das Recht auf Unterstützung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-036702-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sozialanwaltschaft als Auftrag der Sozialen Arbeit
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-17-036702-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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3 Infragestellung des Rechts auf Unterstützung im aktivierenden Sozialstaat
Das Recht auf Unterstützung sollte in einer sozial und sozialstaatlich organisierten Gesellschaft selbstverständlich sein, doch davon kann man gegenwärtig nicht mehr in jedem Fall ausgehen, zumindest wenn man ein breites Unterstützungsverständnis, wie es ausgeführt wurde ( Kap. 2), zugrunde legt. Unterstützung gerät immer stärker in den Sog einer Verwertungslogik. Gefragt wird, ob der Aufwand ökonomisch lohnt, etwa für Jugendliche in Schwierigkeiten oder für Erwerbslose. Die Infragestellung des Rechts auf Unterstützung erfolgt aus verschiedenen Richtungen, die hier auf drei zentrale Bereiche bezogen werden. Kapitelüberblick
Zunächst geht es um die Implikationen des sogenannten aktivierenden Sozialstaates, in dem Eigenverantwortung und die bedingungslose Bereitschaft zur Arbeit gefordert werden ( Kap. 3.1). Neben der Problematisierung des Rechts auf Unterstützung in der sozialpolitischen Agenda tragen auch bestimmte Lesarten des Empowerments dazu bei, Unterstützung infrage zu stellen ( Kap. 3.2). Schließlich wirken sich auch Ambivalenzen des Hilfeverständnisses teilweise negativ auf das Recht auf Unterstützung aus, besonders dann, wenn private Hilfen idealisiert und sozialstaatliche Hilfen problematisiert werden ( Kap. 3.3). 3.1 Das Recht auf Unterstützung im aktivierenden Sozialstaat
Die Strukturprinzipien des sogenannten aktivierenden Sozialstaates haben das Recht auf Unterstützung verändert. Die Rahmenbedingungen dieses Sozialstaatsmodells strahlen unmittelbar auf die Soziale Arbeit aus. An die Soziale Arbeit wird vermehrt die Aufgabe delegiert, individuelle Reproduktionsprobleme der Adressat:innen zu bearbeiten, sie steht insofern unter wachsendem ökonomischen Legitimationsdruck. Eine kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgt hingegen immer seltener, stattdessen kommt es zu einer Durchsetzung von Normalitätsvorstellungen, in denen der Verwertungsgedanke dominiert (vgl. Dahme & Wohlfahrt 2017, 118f.). Im Wesentlichen werden hier wegen der paradigmatischen Bedeutung die Regelungen des SGB II, bekannt als Hartz-IV-System, ins Visier genommen, das 2005 in Kraft getreten ist – auch wenn unmittelbar einsichtig ist, dass die Vermeidung und Überwindung sozial und wirtschaftlich prekärer Lebensumstände weitere sozialstaatliche Leistungen erfordern. Das SGB II repräsentiert ein umfassendes sozialpolitisches Gesetzeswerk hinsichtlich der Sicherung der Existenzgrundlagen von derzeit rund sechs Millionen Menschen. Hiervon sind nur rund 28 Prozent arbeitslos, zu den Leistungsberechtigten zählen darüber hinaus Kinder und Jugendliche, Personen in Ausbildung und Arbeitsförderungsmaßnahmen sowie Erwerbstätige, die auf aufstockende Leistungen angewiesen sind (vgl. Bäcker 2019a, 42). Am Beispiel des SGB II wird die sozialpolitische Idee des aktivierenden Sozialstaates der Agenda 2010 dahingehend analysiert, inwieweit das Recht auf Unterstützung in sozial und wirtschaftlich prekären Lebenslagen infrage gestellt und damit auch die Arbeitsgrundlage der Sozialen Arbeit hinsichtlich eines breiteren Unterstützungsverständnisses problematisch wird. Das SGB II steht wie das SGB XII in der Tradition des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), das 1961 verabschiedet wurde und 1962 in Kraft getreten ist. Das BSHG wurde 2005 durch das SGB II und XII abgelöst. Seine für die Auseinandersetzung mit dem Recht auf Unterstützung überragende Bedeutung als soziales Reformwerk liegt darin, dass hier zum ersten Mal ein einklagbarer Rechtsanspruch auf materielle und persönliche Unterstützung für ein menschenwürdiges Leben gesetzlich verankert wurde (vgl. Föcking 2010, 103). Ein wesentlicher Impuls für das BSHG ging von einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.06.1954 unter dem Aktenzeichen V C 78.54 aus. Ohne auf den strittigen Sachverhalt einzugehen, der hier vernachlässigt werden kann, stellte das Bundesverwaltungsgericht ein Recht auf Fürsorge, verbunden mit einklagbaren Ansprüchen, fest. Das Gericht beruft sich in seiner Begründung auf die Wertvorstellungen des Grundgesetzes, die es verbieten, um Fürsorge nachsuchende Menschen weiterhin wie in der alten Armenordnung als Objekte zu betrachten, denen im Interesse der öffentlichen Ordnung Hilfe gewährt wird. Fürsorgeberechtigte sind mit ihren Rechten und Pflichten als Bürger:innen anzusehen, die bei einer Verletzung ihrer Rechte die Gerichte anrufen können. Die maßstabsetzende Bedeutung dieses Urteils ordnet Hinrichs wie folgt ein: »Der durch die Gewährung von Rechtsansprüchen markierte Perspektivwechsel gilt als historische Errungenschaft und Gütesiegel jedweder sozialen Leistung, sei es der ärztlichen Versorgung bei Krankheit, der Leistungen zur Existenzsicherung oder der Hilfen zur Erziehung in der Jugendhilfe« (Hinrichs 2020, 164). Hinsichtlich des Rechts auf Unterstützung ist heute darauf zu achten, dass aus Rechten nicht nach und nach in Teilbereichen freiwillige, auf Zuwendungen basierende Leistungen werden, die nicht eingeklagt werden können. Die Reformen der letzten 20 Jahre weisen genau in diese Richtung, der Rechtsanspruch auf Sozialleistungen wird immer wieder infrage gestellt (vgl. ebd., 170). Den Rahmen dafür liefert der sogenannte aktivierende Sozialstaat. Die Idee des aktivierenden Sozialstaates wurde maßgeblich von dem britischen Soziologen Anthony Giddens geprägt. In seinen Überlegungen zum »dritten Weg« sind die zentralen Vokabeln und Ansätze angelegt, die bis heute die Diskussion prägen. Der »dritte Weg«
Der »dritte Weg« als Reformvorschlag für den Sozialstaat steht dafür, die Handlungsspielräume der Einzelnen durch unterstützende Angebote bzw. Investitionen in Humankapital und die Infrastruktur, etwa im Bildungssektor, im Interesse von Chancengerechtigkeit zu fördern. Die Verbesserung der Chancen, so die Annahme, trägt dazu bei, eine nachträgliche Umverteilung so weit wie möglich zu vermeiden. Kommt es dennoch zu Leistungsansprüchen, gilt das Motto, dass es keine Rechte ohne Verpflichtungen geben soll, mithin geht es darum, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft durch eine Balance von Rechten und Pflichten neu zu justieren. Allen Bürger:innen soll im »dritten Weg« eine Beteiligung an der Gesellschaft ermöglicht werden, sie erhalten Ressourcen, die es ihnen erlauben, auch Risiken einzugehen, und nur dann, wenn sie nicht arbeiten können, werden ihre Grundbedürfnisse mit öffentlichen Mitteln befriedigt. Der »dritte Weg« steht nach Giddens durch die Bereitstellung von Ressourcen für eine Stärkung der Bürger:innenrechte, verbunden mit einer umfassenden Beteiligung an der Gesellschaft mit ihren ganz unterschiedlichen Errungenschaften (vgl. Giddens 1999, 81f.). In der Quintessenz steht der aktivierende Sozialstaat in seiner aktuellen politischen Gestalt dafür, dass jede:r Einzelne Verantwortung für ihr bzw. sein Leben zu übernehmen hat und nur in anerkannten Notlagen auf sozialstaatliche Unterstützung zurückgegriffen werden darf. Was als Notlage anerkannt wird, unterliegt einem Wandel sozialpolitischer Vorstellungen. Die Hinwendung zum Primat der Eigenverantwortung und Selbstentfaltung steht für einen kulturellen Wertewandel, in dem Solidarität auf dem Rückzug ist, Singularität und das subjektive Erleben hingegen im Mittelpunkt stehen (vgl. Reckwitz 2019, 83f.). In diesem Zusammenhang kommt es zu einer immer weiter voranschreitenden ökonomischen Betrachtung des Sozialen und darin eingelassen zur Problematisierung des Rechts auf Unterstützung. Von der überhöhten Ausrichtung auf Eigenverantwortung und Selbstentfaltung ist der Weg nicht weit zu einer marktwirtschaftlichen Gestaltung des Systems der sozialen Sicherung, verbunden mit dem Risiko der Überforderung von Individuen, die nicht Schritt halten können, sei es aus Krankheitsgründen, wegen familiärer Probleme oder Zufällen des Marktes (vgl. ebd., 193f. und 233). Die ökonomische Ausrichtung im Sozialstaat geht u. a. mit einer Deregulierung von Sozialleistungen einher, verbunden mit dem Glauben, eine marktorientierte Ausrichtung würde Effektivitätsprobleme lösen und unterstellte Abhängigkeiten vom Sozialstaat verringern (ebd., 263). In einer dichotomen Betrachtung von Markt und Staat werden staatliche Sozialleistungen viel zu schnell als ineffektiv und ineffizient diffamiert, gleichzeitig werden die Grenzen des Marktes nicht gesehen, wenn es um ganz unterschiedlich bedingte Vulnerabilitäten von Menschen geht, die ein Recht auf Unterstützung erfordern. Wegen der prominenten Bedeutung, die das Thema Verantwortung und Eigenverantwortung im aktivierenden Sozialstaat genießt, lohnt an...