Arendt / Knott / Ludz | Wir Juden | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Arendt / Knott / Ludz Wir Juden

Schriften 1932 bis 1966
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99504-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Schriften 1932 bis 1966

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-492-99504-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Jude sein gehört zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens.« - Hannah Arendt beginnt mit ihrer Arbeit zu Rahel Varnhagen, sich mit der jüdischen Geschichte in Deutschland zu beschäftigen, aber erst nachdem sie Deutschland 1933 verlassen hatte, setzte sie sich verstärkt mit ihrer Identität als Jüdin und der »jüdischen Frage« auseinander. Dieses Buch versammelt chronologisch alle zu Lebzeiten veröffentlichten Aufsätze Arendts zum Thema und zeigt so auch ihre Entwicklung in den diskutierten Fragen, beispielsweise ihre teilweise sehr wechselnde Haltung zu Israel und dem Zionismus. Herausgegeben, zum Teil neu übersetzt und eingeordnet von Marie Luise Knott und Ursula Ludz schließt der Band eine wichtige Lücke in der Arendt-Literatur.
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3  
Wir Flüchtlinge
Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns »Flüchtlinge« nennt. Wir selbst bezeichnen uns als »Neuankömmlinge« oder »Einwanderer«. Unsere Nachrichtenblätter sind Zeitungen für »Amerikaner deutscher Sprache«, und so weit mir bekannt, trägt und trug keiner der hier gegründeten Clubs der Hitler-Verfolgten einen Namen, der darauf hinweist, dass seine Mitglieder Flüchtlinge sind. Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir waren gezwungen, Zuflucht zu suchen, aber wir hatten vorher nichts getan, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Anschauungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs »Flüchtling« gewandelt. Von nun an sind »Flüchtlinge« Menschen, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen zu sein. Bevor dieser Krieg ausbrach, waren wir sogar noch empfindlicher gegen die Bezeichnung »Flüchtlinge«. Wir setzten alles daran, den anderen Leuten zu beweisen, dass wir ganz gewöhnliche Einwanderer seien. Wir erklärten, dass wir aus freien Stücken in das Land unserer Wahl gegangen wären, und bestritten, dass unsere Lage irgendetwas mit »sogenannten jüdischen Problemen« zu tun hätte. Ja, wir waren »Einwanderer« oder auch »Neuankömmlinge«, die eines schönen Tages ihr Land verlassen hatten – sei es, weil es uns dort nicht mehr gepasst hatte, sei es aus rein wirtschaftlichen Erwägungen. Wir wollten uns eine neue Existenzgrundlage schaffen, das war alles. Wer eine neue Existenz aufbauen möchte, muss stark sein und ein Optimist dazu. Folglich legen wir großen Optimismus an den Tag. Unser Optimismus ist in der Tat bewundernswert, auch wenn diese Feststellung von uns selbst kommt. Unsere leidvolle Geschichte ist inzwischen bekannt. Wir haben unser Zuhause verloren und damit die Vertrautheit des Alltags. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Ursprünglichkeit der Reaktionen, die Einfachheit der Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck von Gefühlen. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in Konzentrationslägern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt. Aber dennoch haben wir sofort nach unserer Rettung – und die meisten von uns mussten mehrmals gerettet werden – ein neues Leben angefangen und versucht, all die guten Ratschläge, die unsere Retter für uns bereithielten, so genau wie möglich zu befolgen. Man sagte uns, wir sollten vergessen; und wir vergaßen schneller, als es sich irgendjemand vorstellen konnte. Auf freundliche Weise wurde uns klargemacht, dass das neue Land unsere neue Heimat werden würde; und nach vier Wochen in Frankreich oder sechs Wochen in Amerika taten wir bereits so, als ob wir Franzosen oder Amerikaner seien. Die größeren Optimisten unter uns gingen sogar so weit zu behaupten, sie hätten ihr gesamtes bisheriges Leben in einer Art unbewusstem Exil verbracht und erst von ihrem neuen Land gelernt, wie ein richtiges Zuhause überhaupt aussieht. Es stimmt, dass wir manchmal Einwände erheben gegen den wohlgemeinten Rat, unsere einstige Tätigkeit zu vergessen; auch unsere einstigen Ideale werfen wir in der Regel nur schweren Herzens über Bord, wenn unsere gesellschaftlichen Maßstäbe auf dem Spiel stehen. Mit der Sprache allerdings haben wir keine Schwierigkeiten: Die Optimisten sind schon nach einem Jahr bereits der festen Überzeugung, sie sprächen Englisch so gut wie ihre Muttersprache; und nach zwei Jahren schwören sie feierlich, dass sie Englisch besser beherrschten als irgendeine andere Sprache – an ihr Deutsch erinnern sie sich kaum noch. Um gründlicher zu vergessen, vermeiden wir alle Anspielungen auf Konzentrations- und Internierungsläger, die wir fast überall in Europa kennengelernt haben; denn das könnte man uns als Pessimismus oder als mangelndes Vertrauen in die neue Heimstätte auslegen. Überdies: Wie oft hat man uns zu verstehen gegeben, dass niemand das alles hören möchte: Die Hölle ist keine religiöse Vorstellung und kein Fantasiegebilde mehr, sondern so wirklich wie Häuser, Steine und Bäume. Offensichtlich will niemand wissen, dass die Zeitgeschichte einen neuen Menschentyp hervorgebracht hat – Menschen, die von ihren Feinden in Konzentrationsläger und von ihren Freunden in Internierungsläger gesteckt werden. Selbst untereinander sprechen wir nicht über diese Vergangenheit. Stattdessen haben wir einen eigenen Weg gefunden, wie wir die ungewisse Zukunft meistern können. Da alle Welt plant und wünscht und hofft, tun wir das auch. Von diesen allgemein menschlichen Verhaltensweisen abgesehen, versuchen wir jedoch, die Zukunft wissenschaftlicher anzugehen. Nach so viel Unglück wollen wir, dass es künftig bombensicher läuft. Deshalb lassen wir die Erde mit all ihren Ungewissheiten hinter uns und richten unsere Augen gen Himmel. In den Sternen nämlich – und kaum in den Zeitungen – steht geschrieben, wann Hitler besiegt sein wird und wann wir amerikanische Staatsbürger werden. Wir halten die Sterne für Ratgeber, die vertrauenswürdiger sind als alle unsere Freunde; sie teilen uns mit, wann es angebracht ist, mit unseren Wohltätern essen zu gehen, oder an welchem Tag wir am besten einen der zahllosen Fragebogen ausfüllen, die gegenwärtig unser Leben begleiten. Mitunter vertrauen wir nicht einmal den Sternen, sondern verlassen uns lieber aufs Handlesen oder auf die Deutung der Handschrift. Auf diese Art erfahren wir weniger über das politische Geschehen, aber mehr über unser eigenes geliebtes Selbst, auch wenn die Psychoanalyse irgendwie aus der Mode gekommen ist. Vorbei jene glücklicheren Zeiten, in denen gelangweilte Damen und Herren der höheren Gesellschaft über die genialen Ungezogenheiten ihrer frühen Kindheit plauderten. Sie haben kein Interesse mehr an Gespenstergeschichten, wenn die tatsächlichen Erfahrungen sie das Gruseln lehren. Es gibt keinen Bedarf mehr, die Vergangenheit zu verhexen, die Gegenwart ist gebannt genug. Und so greifen wir, trotz unseres erklärten Optimismus, zu allen möglichen Tricks, um die Geister der Zukunft heraufzubeschwören. Ich weiß nicht, welche Erfahrungen und Gedanken uns des Nachts in unseren Träumen heimsuchen. Ich wage nicht, danach zu fragen, denn auch ich wäre lieber optimistisch. Doch manchmal stelle ich mir vor, dass wir zumindest nachts an unsere Toten denken oder uns an die einst geliebten Gedichte erinnern. Ich könnte sogar verstehen, dass unsere Freunde an der Westküste während der Ausgangssperre auf den komischen Gedanken kommen, wir seien nur »künftige Staatsbürger«, doch gegenwärtig »feindliche Ausländer«. Am helllichten Tag sind wir natürlich bloß »der Form nach« feindliche Ausländer – das wissen alle Flüchtlinge. Doch wenn man sich dann dieser »Form« wegen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus traute, konnte man sich nicht immer finsterer Gedanken über das Verhältnis von Formalität und Wirklichkeit erwehren. Nein, mit unserem Optimismus stimmt etwas nicht. Es gibt unter uns jene seltsamen Optimisten, die wortreich ihre Zuversicht kundtun und dann nach Hause gehen und den Gashahn aufdrehen oder auf äußerst unerwartete Weise von einem Wolkenkratzer Gebrauch machen. Anscheinend beweisen sie, dass unser erklärter Frohsinn auf einer gefährlichen Todesbereitschaft gründet. Aufgewachsen in der Überzeugung, dass das Leben der Güter höchstes[8] und der Tod das größte Schrecknis sei, wurden wir Zeugen und Opfer von Terrorakten, die schlimmer sind als der Tod – ohne dass wir in der Lage gewesen wären, ein höheres Ideal als das Leben zu entdecken. Auch wenn der Tod also seine Schreckensherrschaft verloren hatte, so waren wir noch lange nicht willens oder fähig, unser Leben für eine Sache aufs Spiel zu setzen. Anstatt den Kampf zu wählen – oder sich Gedanken darüber zu machen, wie man sich zur Wehr setzen kann, gewöhnten wir Flüchtlinge uns daran, Freunden oder Verwandten den Tod zu wünschen; wenn jemand stirbt, führen wir uns frohgemut den ganzen Ärger vor Augen, der ihm erspart geblieben ist. Schließlich landen viele von uns bei dem Wunsch, es möge auch ihnen einiger Ärger erspart bleiben, und handeln entsprechend. Seit Hitlers Einmarsch in Österreich 1938 haben wir beobachtet, wie rasch sich beredter Optimismus in sprachlosen Pessimismus verwandeln kann. Im Lauf der Zeit verschlimmerte sich unser Zustand – wir wurden immer optimistischer und neigten immer mehr zum Selbstmord. Die österreichischen Juden unter Schuschnigg waren solch ein frohgemutes Volk – alle unvoreingenommenen Beobachter bewunderten sie. Es war wirklich wundervoll, wie tief sie davon überzeugt waren, ihnen könne nichts passieren. Aber als die deutschen Truppen einmarschierten und die nichtjüdischen Nachbarn anfingen, jüdische Wohnungen zu überfallen, da begannen österreichische Juden Selbstmord zu verüben. Im Unterschied zu anderen Selbstmördern hinterlassen unsere Freunde keine Erklärungen für ihre Tat, keine Beschuldigungen, keine Anklagen gegen diese Welt, die einen verzweifelten Menschen gezwungen hatte, bis zuletzt ein fröhliches Verhalten an den Tag zu legen. Ihre Abschiedsbriefe sind ganz gewöhnliche Dokumente. Folglich sind auch unsere Reden am offenen Grabe kurz, verlegen und voller Hoffnung. Niemand schert sich um die allzu offensichtlichen Beweggründe.   Ich spreche hier von unliebsamen Tatsachen, und zu allem Übel verfüge ich, um meine Sicht der Dinge zu untermauern, nicht einmal über die einzigen...


Arendt, Hannah
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Sie war Professorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York. Zuletzt erschien bei Piper "Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?".

Ludz, Ursula
Ursula Ludz, Diplomsoziologin, seit 1980 als Herausgeberin und Übersetzerin mit dem Werk Hannah Arendts befaßt. Lebt in Tutzing.

Knott, Marie Luise
Marie Luise Knott lebt als freie Journalistin, Übersetzerin und Publizistin in Berlin. Unter ihrer Herausgeberschaft erschienen bei Piper "Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher" und "Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?".



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