E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Armstrong Davonfliegen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20945-2
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-20945-2
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Annas ruhiges Leben ändert sich schlagartig, als eine neue Familie in ihr Nachbarhaus zieht. Nur zwei Tage dauert es, bis sie merkt, dass nebenan etwas schiefläuft. Sie hört die fünfjährige Charlie weinen, dann entdeckt sie Verletzungen an dem kleinen Mädchen, die sie nicht ignorieren kann. Anna informiert die Polizei, doch nichts passiert. Eines Tages steht Charlie vor ihrer Tür und bittet sie um Hilfe. Anna findet auf die Schnelle nur eine Lösung: das Mädchen zu packen und so weit wie möglich wegzulaufen. Sie flieht mit ihm in eine abgelegene Hütte in einem Regenwaldtal. Erst später wird ihr klar, dass es sich dabei um Kindesentführung handelt. Doch hatte sie eine Wahl?
Sarah Armstrong wurde in Australien geboren und studierte Journalismus. Danach arbeitete sie beim Radio und gewann den renommierten 'Walkley Award'. Zusammen mit ihrem Mann, der ebenso Schriftsteller ist, unterrichtet sie Kreatives Schreiben. Die Autorin hat eine kleine Tochter und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Sydney.
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2 als sie am Morgen aufwachte, war es fast noch dunkel. Sie wollte unbedingt wieder einschlafen, aber nebenan trampelten kleine Füße durch den Flur. Durchs Fenster sah sie, dass der Karton auf dem Gartenweg durchweicht war und sich allmählich auflöste, der Beton auf der Auffahrt war dunkel und nass. Den Regen hatte sie gar nicht gehört. Sie musste tiefer als angenommen geschlafen haben. In der Küche schob sie die Hintertür auf und bückte sich zu dem Terrakottatopf auf der obersten Stufe. Endlich waren die Schnittlauchsamen aufgegangen. Ein Dutzend grüne Stängel lugte durch die Pflanzenerde, manche etwas gebeugt unter der Last des winzigen schwarzen Samens, der wie ein Hut an ihrer Spitze steckte. Sie kochte eine Kanne Tee und setzte sich auf die Hintertreppe in die ersten Sonnenstrahlen. Zwei winzige graue Skinke huschten in das Beet zu ihren Füßen. Luke und sie hatten diese Tiere früher oft beobachtet. Eine Zeit lang war sie als Kind auf den Umstand fixiert gewesen, dass sie den Schwanz bei Gefahr abwerfen und sich einfach einen neuen wachsen lassen konnten. Einer der Skinke verharrte in einem Sonnenfleck, und Anna konnte den Puls an seinem Hals schlagen sehen. Sie wollte wirklich, dass die Sache mit Dave funktionierte, und verstand nicht, warum er es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass sie seine Kinder schon jetzt kennenlernte. Vielleicht um die Kinder zu beruhigen? Oder sich selbst? Doch sie wusste, dass es zu früh war. Dave und sie waren noch nicht lange genug zusammen, um es zu verkraften, falls seine Kinder sie nicht mochten. Ein ungutes Treffen könnte ihre Beziehung leicht zum Scheitern verurteilen. Sie goss ihre Topfpflanzen – der Regen hatte nur den ersten Zentimeter Erde durchtränkt – und zupfte etwas Unkraut aus. Löwenzahnsamen waren durch den Garten geschwebt und hatten überall gekeimt. Kurz nach sieben schwang Helens Hintertür krachend auf, und ein Kind – vielleicht vier Jahre alt – schoss die Hintertreppe hinunter, ließ sich auf das hohe Gras fallen und zerrte schreiend an den Beinen seiner grünen Hose. Anna wusste nicht zu sagen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Eine Frau erschien, jung und spindeldürr, in einem übergroßen weißen T-Shirt. Sie bückte sich langsam und hob ein gewaltiges Stück orangefarbenen Stoff vom Boden auf – vielleicht ein Laken oder ein Bettbezug – und trug es zur Wäscheleine, wo sie es mit Klammern befestigte. Das Kind warf sich nach hinten ins Gras, und das Geschrei wurde immer lauter. Die Frau achtete nicht auf das Kind, sondern hängte weiter das Laken auf. Anna zwang sich, wegzusehen und ins Haus zu gehen. Sie steckte zwei Scheiben in den Toaster und schnitt eine Avocado auf. Sie würde sich einen Vorhang zulegen müssen oder einfach aufhören, in den Nachbargarten zu schauen. Wenigstens hatte das Kind zu schreien aufgehört. »Hallo?«, erklang eine Stimme von draußen. Es war die junge Mutter. Sie sah über den Zaun und lächelte zu Anna hoch. Anna trat nach draußen und war schon auf dem Weg die Treppe hinunter, als sie bemerkte, dass sie immer noch eine Avocadohälfte in der Hand hielt. Sie lächelte. »Hallo.« Jetzt erkannte Anna, dass die Frau ein hübsches, herzförmiges Gesicht hatte. Doch ihre Haut war aschfahl. Ihre langen, dunklen Haare waren auf einer Seite mit einem Dutzend schief sitzender Haarklammern hochgesteckt. »Willkommen in der Nachbarschaft«, sagte Anna. Zigarettenrauch stieg über den Zaun nach oben. »Danke.« Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte zittrig. »Entschuldigen Sie, aber haben Sie vielleicht ein Glas Milch? Ich habe heute Vormittag kein Auto, und sie will unbedingt Milch haben.« Das Kind saß mit gegrätschten Beinen im Gras und beobachtete die Frauen. Es hatte ungepflegte blonde Haare, die in alle Richtungen abstanden. »Deshalb der Tobsuchtsanfall.« Die Stimme der Frau war hoch und ein wenig rau. »Ja, natürlich. Einen Moment.« Im Haus holte Anna die Milch in der Plastikflasche aus der Innenseite der Kühlschranktür. Sie war mehr als halb voll. Anna goss sich etwas davon für ihren Tee in eine Tasse ab und eilte dann die Treppe hinunter. Während sie die Flasche über den morschen Lattenzaun reichte, bereitete ihr dieser Akt der Hilfsbereitschaft ein wohliges Gefühl, auch wenn sie sich andererseits Sorgen machte, dass die Frau sich nun vielleicht ermuntert fühlen würde, ständig um Dinge zu bitten. »Danke. So viel brauche ich aber gar nicht.« Die Frau lächelte weiter und zog an ihrer Zigarette. Die Vorstellung, dass in ihrem vogelhaften Körper ein Kind herangewachsen sein sollte, fand Anna unglaublich. »Behalten Sie den Rest«, sagte Anna. »Ist schon gut.« Sie hörte, wie der Toast im Toaster hochsprang. Ihr blieb genau noch eine halbe Stunde, um sich fertig zu machen und zur Bushaltestelle zu kommen. »Haben Sie sie gekannt?«, fragte die andere. »Die alte Frau, die gestorben ist?« »Helen? Ja, habe ich.« Anna sah zu dem Kind, das sie immer noch beobachtete und Gras auszupfte. »Haben Sie auch noch ein Baby?« Die Frau hustete. »Herrgott, nein.« »Oh. Ich dachte, ich hätte nachts ein Baby gehört.« »Nein, das war die da. Wie immer, verdammt noch mal.« Das Mädchen erschien neben der Mutter und zerrte heftig an ihrem T-Shirt, sodass es der Frau von der mageren Schulter rutschte. »Ich will fernsehen«, jammerte die Kleine. »Warte doch!«, fuhr die Frau sie an und zog sich das T-Shirt wieder über die Schulter. Ihre schmalen Fingerspitzen waren bläulich verfärbt, als wäre ihr kalt. »Hallo«, begrüßte Anna das kleine Mädchen. »Ich heiße Anna.« Das Kind blickte aus hellen Augen starr empor, die abstehenden Ohren mit giftgrünen Steckern geschmückt. An den kurzen Haaren war unbeholfen herumgeschnippelt worden. »Wie heißt du?«, erkundigte sich Anna. Als das Mädchen nichts erwiderte, nahm die Mutter die Zigarette in die Hand, mit der sie die Milch hielt, und gab der Kleinen einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. »Sei doch nicht schüchtern.« Die Worte der Mutter schienen nicht bis zu dem Mädchen durchzudringen, und Anna fragte sich schon, ob es ein wenig zurückgeblieben war. Die Stimme und das Weinen in der Nacht hatten sehr babyhaft geklungen. Doch da machte das Mädchen den Mund auf, und seine Stimme war klar. »Ich heiße Charlie.« Ihr Blick war so direkt, dass Anna das Gefühl hatte, ebenso unverblümt gemustert zu werden, wie sie es selbst bei dem Mädchen und der Mutter getan hatte. Jegliches kindliche Gespräch, das Anna im Sinn gehabt hatte, war wie weggeblasen. Das Mädchen streckte die Hand aus, um den alten, rauen Lattenzaun zwischen ihnen zu berühren. »Haben Sie einen Hund?« »Nein. Jetzt nicht mehr. Früher schon, als ich noch klein war.« Anna stellte sich Splitter vor, die sich in weiche Haut bohrten. Fass den Zaun nicht an, wollte sie sagen. »Er hieß Buddy.« »Was für ein Hund war er?« Die schmalen Schultern des Mädchens waren knallrot von zu viel Sonne und schälten sich. »Eine Promenadenmischung«, erwiderte Anna. »Weißt du, eine Mischung aus verschiedenen Hunderassen. Er ist weggelaufen, als ich zehn war. Und ich habe ihn schrecklich vermisst.« Zu ihrem Entsetzen spürte sie einen Kloß im Hals. Sie sah kurz zu Boden und blinzelte Tränen zurück. Mist. »Wir schaffen uns auf keinen Fall einen Hund an«, erklärte die Mutter. »Sie hat keinen blassen Schimmer, wie viel Arbeit die verdammten Drecksviecher machen.« Sie zog an ihrer Zigarette und drehte den Kopf, um den Rauch nach hinten zu blasen. Ihre Hand zitterte ein wenig, und Anna fragte sich, ob sie krank war. War sie deshalb so dünn? Oder konnten es Drogen sein? Was für Leute hatte Oliver da nebenan einquartiert? Das Mädchen blickte zu Anna auf. »Buddy …«, sagte es, als spürte es, dass Anna mittlerweile ganz anderen Gedanken nachhing. »Ja. Deine Mum hat recht. Hunde machen viel Arbeit. Ich musste jeden Tag mit Buddy Gassi gehen und seine Wasserschüssel reinigen …« Das Mädchen blickte weg, in den Garten, und zupfte an der einen Schulter an den sich schälenden Hautfetzen. Anna konnte seine Gedanken erraten: dass Anna eine typische Erwachsene war und Partei für ihre Mutter ergriff. Die Mutter sah Anna mit hochgezogenen Augenbrauen an. Das Mädchen drehte sich wieder zu ihr. »Nella hatte ihren Hund Percy.« »Oh«, sagte Anna. »Wer ist Nella?« Die Mutter schüttelte den Kopf. »Wirst du endlich mit dieser verfluchten Nella aufhören?« Charlie marschierte zur Wäscheleine und verschwand hinter dem Laken, das ihre Mutter aufgehängt hatte. »Tja, dann.« Lächelnd trat Anna einen Schritt zurück. »Ich muss mich für die Arbeit fertig machen.« Jetzt würde ihr nicht genug Zeit zum Duschen bleiben. Warum um alles in der Welt verbrachte sie den halben Morgen auf der Hintertreppe? »Was arbeiten Sie?«, fragte die Mutter. »Ich bin Grafikdesignerin.« »Oh. Schön. Dann waren Sie in der Schule wohl gut in Kunst?« »Ja, genau.« Das Mädchen zog an dem Laken. Eine Wäscheklammer fiel herunter. »Und Sie gehen jeden Tag in die Arbeit, oder?«, fragte die Mutter. Warum wollte sie das wissen? »Manchmal arbeite ich von zu Hause.« »Ich heiße übrigens Gabby. Haben Sie zufälligerweise einen Rasensprenger, Anna?« »Nein. Ich habe eigentlich keinen Rasen.« In der Mitte von Annas Garten befand...