E-Book, Deutsch, 96 Seiten
Reihe: TEXT + KRITIK
Arnold / Bertschik / Frank Vicki Baum
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96707-696-7
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 96 Seiten
Reihe: TEXT + KRITIK
ISBN: 978-3-96707-696-7
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Internationale Bestsellerautorin des 20. Jahrhunderts – Vicki Baum (1888–1960)
Die auflagenstärkste und meistgelesene österreichische Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts avancierte im Berlin der Weimarer Republik zur internationalen 'Star-Autorin' und blieb selbst im US-amerikanischen Exil, auch dank zahlreicher Verfilmungen, weiterhin erfolgreich.
Das Heft ergründet und kontextualisiert die unterschiedlichen Facetten ihres umfangreichen Werks: von den frühen Novellen, den Kinder- und Jugendbüchern über Zeitungsbeiträge und die zentralen Zeitromane
(wie "Menschen im Hotel" von 1929) mit ihren filmischen Adaptionen bis hin zu den auf Englisch verfassten Romanen, die hellsichtig die weltpolitische Situation sowie den Zusammenhang von Kapitalismus und Kolonialismus reflektieren. Aufgedeckt wird damit das poetologische Programm, mit dem sich Vicki Baum als versierte und populäre Erzählerin in die literarische Moderne einschreibt.
Mit Beiträgen von Julia Bertschik, Susanne Blumesberger, Andrea Capovilla, Gustav Frank und Stefan Scherer, Veronika Hofeneder, Werner Jung und Pascal Löffler, Madleen Podewski, Liane Schüller, Nicole Streitler-Kastberger.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
- Madleen Podewski: Vor dem Durchbruch. Vicki Baums frühe Erzähltexte
- Susanne Blumesberger: Vicki Baums Werke für Kinder und Jugendliche. Eine facettenreiche Reise
- Veronika Hofeneder: Die Medienarbeiterin – Vicki Baum und die Presse
- Liane Schüller: "Flirrende Insektenexistenzen". Zur Anatomie von Klassikern des Middlebrow-Genres
- Nicole Streitler-Kastberger: Geschlechter, Waren, Räume. Vicki Baum, die Neue Frau und der Neue Mann in Hotel, Schönheitssalon und Warenhaus
- Andrea Capovilla: Vicki Baum und der Film
- Werner Jung / Pascal Löffler: Von der Dialektik des Fortschritts. Vicki Baums 'Cahuchu'
- Julia Bertschik: "Theme for Ballet". Performativität als Kunst- und Lebenskonzept Vicki Baums
- Gustav Frank / Stefan Scherer: Umrisse einer Poetik der Globalen Synthese
- Veronika Hofeneder: Chronik Vicki Baum
- Bibliografie
- Notizen
Madleen Podewski Vor dem Durchbruch
Vicki Baums frühe Erzähltexte
Vicki Baum veröffentlicht zwischen 1908 und 1920 gut zwei Dutzend zumeist kleinere Texte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, hauptsächlich in jüngeren Illustriertenformaten und in modernisierten, revueartigen Literatur- und Kulturzeitschriften. Einige davon erscheinen, ganz gemäß den fest etablierten Publikationsroutinen für Erzählliteratur, auch im Buchdruck: so der Roman »Der Eingang zur Bühne«,1 vorher in 70 Folgen von April bis Juli 1920 in der »Vossischen Zeitung« abgedruckt, und ebenso die meisten der hier untersuchten Erzählungen (zum Teil in abweichender Titelschreibung) in den beiden Sammelbänden »Schloßtheater«2 und »Die andern Tage«.3 Bei »Frühe Schatten. Das Ende einer Kindheit«4 bleibt es allein bei der Buchpublikation.5 All diese bislang kaum erforschten Texte, die hier, soweit möglich, in der Form ihrer Erstveröffentlichungen betrachtet werden, gestalten auf ihre eigene Weise die Verschiebungsprozesse mit, die die Literaturgeschichte der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts prägen. Sie halten dabei engen Kontakt zu den thematischen und formalen Errungenschaften vor allem ästhetizistischer, naturalistischer und expressionistischer Strömungen und verknüpfen sie unauffällig und flexibel mit überkommener realistischer Erzählprogrammatik. Die dargestellten Weltausschnitte etwa richten sich hauptsächlich auf ein Halbweltmilieu im Umfeld von Theater, Oper und Varieté. Das entsprechende Figurenarsenal besteht aus mehr oder weniger berühmten Schauspieler*innen, Sänger*innen und deren (wechselnden) Verehrer*innen, aus stadtbekannten Dichtern, Halbweltdamen, untreuen Ehemännern und -frauen und aus verkannten Musikern, die sich an den Unterhaltungsbetrieb verkaufen müssen. Handlungsräume sind großstädtische Cafés und Restaurants und deren Séparées, diverse Boudoirs, adelige Salons, Theaterlogen, Parks und Promenaden. Einige Texte thematisieren zudem Krankheit, Armut und Verbrechen: Zwei Ghettoerzählungen (»Rafael Gutmann« und »Im alten Haus«)6 beschäftigen sich mit der Randgruppe der orthodoxen Juden, eine historische Erzählung mit dem von Pontius Pilatus begnadigten Mörder Barabbas,7 der autobiografisch orientierte Roman »Frühe Schatten« lässt sich ausführlich auf Fieberträume und eine neurasthenische Mutter ein. Erzählenswert und ereignisträchtig sind unter anderem lebensideologisch getönte Ausbrüche aus dem Herkunftsmilieu oder auch nur aus der grauen Welt des Berufsalltags. Solche Ausbruchsversuche können, wie in der Ghettoerzählung »Rafael Gutmann«, existenzielle Dimensionen erhalten und für den Protagonisten tödlich enden. Sie lassen sich aber auch leichtgängiger gestalten wie in »Das Postamt und der Schmetterling«, wo ein verirrter Schmetterling nacheinander die gesamte Belegschaft zum »[L]achen und [S]chreien« bringt und alle Angestellten für zehn Minuten zu »empfindenden Wesen« macht.8 Häufig sind mit solchen kleinen und großen Grenzüberschreitungen verschiedenartige Entdeckungs- und Erkenntnisprozesse verbunden – ins Heitere gespielt etwa bei der Aufdeckung ineinander verketteter Betrügereien zwischen einem Liebespaar in »Muschis Perlen«,9 dramatischer gehalten in der Wiederbegegnung eines Verführten mit seiner Verführerin, die Schuld hat an seiner prekären Existenz als Gasthausmusiker in »Die Chiaconne«,10 oder in der direkten Konfrontation mit dem Tod (ein alter Mann stirbt plötzlich beim Spazierengehen im Park), die bei einer der Figuren einen entschiedenen Lebenswillen auslöst (in »Die Bank«).11 Einige Erzählungen verlegen solche Erkenntnisprozesse an den erzählten Figuren vorbei auch auf die Textebene: etwa indem sie die schematisierte Verführungsroutine eines ›Dichters‹ vorführen, die bei einem ›Mädel‹ scheitert und bei einer ›Dame‹ gelingt (in »Diskretion«);12 in der Montage gegensätzlicher Figurengedanken, die pseudoromantische Vorstellungen von Liebe und Ehe vor allem eines jungen Mädchens desillusioniert (in »Die Bank«); und – leicht ins Kriminalgenre hineinragend – im Aufzeichnen des aufgeregten Treibens, mit dem Dienstpersonal versucht, einen Selbstmord vor den Liebespaaren in den Separees eines Hotels zu verbergen (in »Der Klavierspieler«).13 Dazu kommen schließlich noch Texte, die dem Leben der Figuren gewissermaßen seinen Lauf lassen, das heißt, die verschiedenen Momente und Abschnitte ohne starke Pointe aneinanderreihen: in »Schloßtheater«14 die sich über einige Wochen erstreckenden erotischen Launen einer Gräfin; in »Abend in Zelesz«15 einen Nachmittag und einen Abend, den Franz Schubert auf Schloss Zelesz verbringt; in »Der kleine Page«16 die schmerzliche Liebe, die ein Knabe zu einer schönen Frau mit wechselnden Liebhabern empfindet; in »Frühe Schatten« einige Monate im Leben eines Mädchens, die von Krankheit und wechselnden Lebensumständen geprägt sind; und in »Der Eingang zur Bühne« verschiedene Karrierestufen und erotische Verwicklungen im Opernmilieu. Charakteristisch für die Darstellungsweisen ist eine hohe Biegsamkeit bei den Fokalisierungsverfahren und bei der Ausgestaltung des Modus. Damit können im Spannungsfeld zwischen figuraler Bindung und Erzählauktorialität die Weltwahrnehmung und Weltbeurteilung der Texte flexibel reguliert werden. So spielen, was die Fokalisierung betrifft, personale Perspektiven, das heißt deutlich an eine Figur gebundene Wahrnehmungen, zwar immer wieder eine Rolle. Das gilt etwa für den ersten Teil von »Frühe Schatten«, wo sich besonders zu Beginn lange Passagen ausführlich auf die Fieberfantasien der kleinen Martha konzentrieren und sie nur ganz punktuell mit der Rede anderer Figuren unterbrechen. Vor allem in den kürzeren Texten sind sie aber durchweg ergänzt – häufiger sogar noch durchsetzt – von einer Wahrnehmungsinstanz, die Teil der erzählten Welt zu sein scheint, dabei aber keiner Figur angehört, die sich also gewissermaßen in die Wahrnehmungs- und Wissensmöglichkeiten der erzählten Welten hineinprojiziert, ohne konkrete Gestalt anzunehmen. »Barabbas« etwa beginnt mit der Schilderung akustischer Eindrücke, deren Wahrnehmung deutlich an einen Standpunkt innerhalb der erzählten Welt gebunden ist und die in ihrer sprachlichen Formung zugleich auch ein Wahrnehmungssubjekt implizieren, für das die gehörten Stimmen ein Eigenleben haben: »Irgendwo flog ein Lachen auf, erschrak vor seinem eigenen Klang und zerbrach. Dann griffen andere Stimmen nach dem Namen und warfen ihn hoch in die Luft: Barabbas.«17 Ob das die Eindrücke von Kaiphas sind, der im nächsten Satz – gleichfalls von einem schwer zurechenbaren Standpunkt aus – als Beobachter der Massen vorgestellt wird, bleibt dabei offen. In »Das Postamt und der Schmetterling« sind es Anthropomorphisierungen und eine dezidierte Aufmerksamkeit auf Licht- und Farbeffekte, die eine abendliche Stadtszenerie zu einem Stadteindruck machen, der sich von urbaner Blickführung geschult zeigt und zugleich poetisch fantasievolle Dimensionen besitzt: »Zwischen fünf und sechs Uhr abends. Vom Himmel schlappen feuchte Nebeltücher in die Straßen herab, die Laternen stellen trübgelbe Kreise in das Dunkelgraue. Streifige Autos vor dem Bahnhof, glotzende Tiere werfen Schatten in den Nebel.«18 Gerade diese quasi figuralisierte Instanz bietet hier auch wichtige, für die Gesamthaltung des Textes entscheidende Deutungen der Geschehnisse an: Dem Flug des Schmetterlings durch das Postamt folgend, verknüpft sie die Schmetterlingsbegegnungen verschiedener Figuren miteinander, modelliert dabei deren diffuse Erregungen mit und akkumuliert sie in einer Kette aus Variationen zu einem lebensideologisch geprägten Erlebnis. Das deutet sie dann, zwischendurch und am Schluss, mit nur kleinen Schwenks aus dieser Einbindung heraus, aus leicht vergrößerter Distanz: »[…] und alle die Maschinenmenschen hinter den Schaltern erleiden einen Knacks an ihrer Mechanik, schnurren ab und verlieren, angenehm erleichtert, die Disziplin.«19 Bei der Wiedergabe von Reden und Gedanken, das heißt in der Frage, wie stark die Texte ihre Weltzugriffe an Wissen und Haltungen der Figuren binden, werden unterschiedliche Gewichtungen erprobt. Dabei zieht sich die Erzählinstanz nie gänzlich hinter ihre Figuren zurück. So ist »Die Chiaconne« zwar, als Bericht eines Grafen Andres, bis auf die Incipit-Formel zu Beginn des Textes ausschließlich Figurenrede. Die distanzierende und ordnende Funktion des Erzählens ist hier gleichwohl nur – mit Anklängen an die im Realismus beliebten Rahmenstrukturen – auf eine nicht weiter ausgearbeitete, nur indirekt durch ihr Erzählen charakterisierte Figur verlagert. Auch »Muschis Perlen«, »Die Bank« und »Der Dichter« sind von Dialog- und Gedankenpassagen bestimmt, die aber immer wieder von Deutungsangeboten der Erzählinstanz gerahmt werden. Am auffälligsten geschieht das in knapp zwischen die Redepassagen gesetzten Figurenbeschreibungen, die, wie zum Beispiel in »Muschis Perlen«, rollenhaftes Agieren aufdecken und dabei zugleich die milieusensible Kennerschaft der Erzählinstanz einspielen: »Sie [Muschi] ist auf Klimt stilisiert, aber sie sieht nur wie von Rafael Kirchner aus.«20 Subtiler noch werden Reden und Gedanken über ihr Arrangement eingeschätzt: In »Die Bank« etwa zeitigt der schnelle Wechsel zwischen den Worten und Gedanken von als Typen gefassten Figuren bestätigende, ironisierende und relativierende Effekte. So werden die Selbstmordgedanken...