Arnold / Sucker Gabriele Tergit
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96707-117-7
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 105 Seiten
Reihe: TEXT + KRITIK
ISBN: 978-3-96707-117-7
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Tanz auf dem Vulkan in den 1920er Jahren, von Flucht und Vertreibung und dem Leben im Exil erzählt Bestsellerautorin Gabriele Tergit.
Sie war eine der ersten Gerichtsreporterinnen der Weimarer Republik, P.E.N.-Sekretärin, verfolgte Jüdin und Emigrantin. Gabriele Tergit (1894–1982) hat den Grenzbereich von Fakt und Fiktion ihrer Zeit vermessen: politisch, kulturell und historisch, dabei immer die Gesellschaft im Blick, in der sie lebte.
Das Heft wirft ein Schlaglicht auf ihr von Brüchen und Zäsuren geprägtes Leben und zeigt die ganze Breite ihrer schriftstellerischen und publizistischen Produktion: von der Weimarer Republik über das Exil bis in die Nachkriegszeit. Neben einer unveröffentlichten Reportage aus dem "Palästina-Konvolut" präsentiert das Heft Beiträge, die u. a. Tergits Feuilletons und Reportagen der 1920er Jahre und ihren Debütroman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" in den Blick nehmen. Ergänzt durch Analysen, die sich anhand bisher weitgehend unbekannten Archivmaterials ihrer Fluchtroute und den facettenreichen im Exil entstandenen Arbeiten – auch im konfliktgeladenen Austausch mit Zeitgenossen – widmen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
- Erhard Schütz: "Heimat war das Tier, das sie die täglichen Berufswege führte". Gabriele Tergits Feuilletons über Berlin, seine Menschen und seine Zustände
- Liane Schüller: "Der Menschheit anderer Teil, die Frau". Gabriele Tergit und die Neue Frau in der Weimarer Republik
- Nicole Henneberg: Der Historie zusehen. Gabriele Tergit als Chronistin und Feldforscherin
- Elke-Vera Kotowski: "Im Schnellzug nach Haifa" und "Der erste Zug nach Berlin". Gabriele Tergits Reisepässe als Dokumente ihrer Exilerfahrung
- Gabriele Tergit: Umschichtung
- Juliane Sucker: "Keinerlei europäische Geistigkeit". Gabriele Tergits literarisch-journalistische Streifzüge durch Palästina
- Joachim Schlör: Gabriele Tergit: Mit und ohne Berlin im Exil
- Risa Tamaru: Kampf einer Literatin für den "anonymen Heroismus". Zu Gabriele Tergits "Der Engel aus New York"
- Reinhold Lütgemeier-Davin: Als Feuilletonistin auf wackligem Parkett. Konsequenzen eines historischen Analyseversuchs: Gabriele Tergit und Kurt Hiller
- Juliane Sucker: Biografische Notiz
- Juliane Sucker: Bibliografie
- Notizen
Erhard Schütz »Heimat war das Tier, das sie die täglichen Berufswege führte«
Gabriele Tergits Feuilletons über Berlin, seine Menschen und seine Zustände
1
Gabriele Tergits Romane stammen von Texten ab, die den größeren Anteil ihres Werks ausmachen: Texte fürs Feuilleton. Diese prägten nicht nur das zeitgenössische Bild der Autorin, sondern vom Gegenstand und der Schreibweise her ihre Romane. Bei »Käsebier erobert den Kurfürstendamm« liegt es auf der Hand, handelt der Roman doch weitgehend im ureigensten Pressemilieu. Zudem hat sie zahlreiche ihrer journalistischen Texte mehr oder weniger direkt in ihn integriert. Selbst ihr großer, Jahrzehnte, Familien und Orte überspannender Roman »Effingers« lebt von wesentlichen Elementen ihres journalistischen Schreibens: Kürze der Kapitel, dialogische Präsenz und pointierte Situationsschilderungen. Mit diesen Bezügen sind die Reichhaltigkeit und Reichweite ihrer journalistischen Texte bei weitem nicht erschöpft. Allein das Spektrum der Formen: nebeneinander stehen Aufsätze und Gerichtsreportagen, Porträts oder eben klassische Feuilletons. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sie über alles schrieb, was ihr begegnete, jederzeit bereit und in der Lage war, ihre Umwelt in Text zu verwandeln. Sie schrieb vom Urlaub, ob Ostsee oder Griechenland,1 sie schrieb über, von und aus Berlin, über Menschen, Orte, Eigenheiten, Geschehnisse, Institutionen, Figuren. Ihr Schreiben war eine ständige Interaktion mit der Stadt, mit dem, was sie für sich und für die Zeitgenossen charakterisierte. Ähnlich wie Joseph Roth qua »Frankfurter Zeitung« und »Münchner Neueste Nachrichten«, vielleicht mehr noch als dieser, prägte sie über das in der gesamten Republik wahrgenommene »Berliner Tageblatt« das Bild, das die Berliner und die Deutschen von der Hauptstadt und ihren Bewohnern hatten. Wie neben ihr etwa Walther Kiaulehn, Fred Hildenbrandt oder Hermann Sinsheimer. Anders als Ruth Landshoff-Yorck, Christa Winsloe oder auch Vicki Baum agierte sie dabei in einem unmittelbar von Männern geprägten Umfeld, ohne daraus grundsätzliche Differenzen abzuleiten. Sie schrieb sehr häufig, doch nicht nur, über Frauen und deren Situationen; reklamierte aber weder eine Sonderstellung noch einen genuin weiblichen Blick. 2
Tergit schrieb in einer Zeit, in der das Feuilleton expandierte, im »Berliner Tageblatt« zum Beispiel in den Lokalteil einwanderte, wie überhaupt vom Feuilleton ein starkes journalistisches Selbstbewusstsein ausging. Zugleich bewegte sich das Feuilleton in seinem Fokus weg von der ihm genuin bis dato zugeschriebenen und zugestandenen spielerischen Unterhaltsamkeit, originellen Plauderei und versöhnlichen Heiterkeit, die so oft an ihm moniert worden war, hin zur engagierten Aufmerksamkeit auf soziale Verhältnisse und Auswirkungen der Politik. Signifikant für solche Verschiebungen war, dass die Reportage Einzug in die Sparte Feuilleton hielt. Programmatisch führend war dabei die »Frankfurter Zeitung«. In der hatte Joseph Roth schon intern selbstbewusst für sich reklamiert: »Die moderne Zeitung braucht den Reporter nötiger, als den Leitartikler. (…) Ich zeichne das Gesicht der Zeit.«2 Neben Roth waren es in der »Frankfurter Zeitung« vor allem Heinrich Hauser und Erik Reger, die aus der industriell geprägten Arbeits- und Lebenswelt berichteten, Siegfried Kracauer über die neue Schicht der Angestellten, freilich selbst kritisch dem Format der Reportage gegenüber, aber deren Techniken für seine Essays nutzend. Auch das »Berliner Tageblatt« pflegte ausgiebig die Berichterstattung qua Reportage. Die wurde freilich selbst im feuilletonistischen Diskurs in Geschlechterzuschreibungen hineingezogen. Die Reportage galt als männlich, das Feuilleton und sein Publikum als weiblich oder effeminiert.3 Von Programmatiken unbeeindruckt, schrieb Gabriele Tergit – und sie schrieb dabei durchaus über das Greifbare und Wirkliche, unpathetisch, sachlich, knapp. Zugleich voller Witz, Ironie und Sarkasmus. Aus einer Haltung heraus, die damals als typisch Berlinisch angesehen wurde und bis heute als Gerücht über die Stadt kolportiert wird, in der das längst zu Aversion und Grobheit heruntergekommen ist: Nüchternheit und Pointiertheit. Die industriegeprägte, weithin geschichtslos scheinende, als genuin modern verstandene Stadt, die man zuvor mit Chicago verglichen hatte und die sich an New York zu messen begann, war das Experimentier- und Exerzierfeld aller wesentlichen neuen sozialen und kulturellen Erscheinungen, einmal ganz abgesehen von ihrer Rolle als Reichshauptstadt. Der tourismuswirtschaftliche Slogan »Jeder einmal in Berlin« hatte sein Pendant in der Presse: Jeder und jede musste einmal über Berlin schreiben. Von »Heuschreckenschwärme(n) von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern«,4 hatte Walter Benjamin in seiner »Einbahnstraße« geschrieben, die nicht zum wenigsten auf Berlin rekurrierte. Das Eigentümliche dieser tatsächlich immensen Textproduktion Tag für Tag war, dass die je einzelnen Autoren zwar unter dem Druck der konkurrenzialistischen Aufmerksamkeitsökonomie auf Erkennbarkeit, Originalität und Besonderheit fixiert waren, in toto sich aber eine relative Gleichförmigkeit ergab: Stereotypen, Konfigurationen oder Muster, durchaus signifikante Zeichen zur Orientierung – immer wiederkehrende Themen, Bilder, Argumentationsfiguren. Indem sie konkurrierend, arbeitsteilig, vereinzelt schrieben, erzeugten sie doch, was man Textmuster5 nennen könnte, Akkumulationspunkte der Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit, Topoi der Orientierung, deren Moirées, Interferenzen, Konfigurationen, die sich zu Stereotypen und Klischees verfestigten, gegen die man dann wiederum anschrieb. Auffällig dicht gemustert ist zum Beispiel eine Linie vom Kurfürstendamm zum Alexanderplatz, die über Potsdamer Platz, Friedrichstraße und Unter den Linden führte.6 Nun war Gabriele Tergit eine sozialisierte Berlinerin. Für sie waren Ankünfte in der Stadt allenfalls Rückkünfte aus temporärer Abwesenheit, so wie bei Walter Benjamin in der »Berliner Kindheit«. Wenn sie zum Kurfürstendamm, dem Signalort ihres Romans, im Feuilleton schrieb, dann nicht, wie Kracauer, Polgar, Roth oder Sinsheimer Begegnungen von Zugezogenen, sondern übers Abseits der Straße, aus dem Planetarium, das 1926 gleich neben dem Ufa-Palast errichtet worden war:7 »Fünf Minuten vom Kurfürstendamm für 80 Pfennig Viertelstunde Ewigkeit. Vier Schritte von der zitternden Stadt, von den Leuchtraketen der Zeitungsdepeschen, vom Geheul der Steuerbomben, vom Platzen der Bankgranaten, von den Minenwerfern der Entlassung stilles Wort von Winkelgraden und Entfernung von Sonne, Mond und Sternen, eine Viertelstunde Ewigkeit.«8 Was freilich implizit wiederum auf das Übliche replizierte … Nur einmal – soweit zu sehen – hat Gabriele Tergit sich zu einem programmatischen Grundsatzbeitrag zur Stadt hinreißen lassen. Zu Beginn des Krisenjahrs 1932. Und zwar aus Anlass des Korruptionsskandals um die Brüder Sklarek, der die Stadt Millionen kostete, und in dessen Folge Oberbürgermeister Böß zurücktreten musste. Der Skandal führte zwischen 1929 und 1933 zu einer starken Vertrauenskrise um die Stadtverwaltung und die regierenden demokratischen Parteien. Nationalisten, Royalisten und insbesondere die Nationalsozialisten profitierten davon. Tergit tritt nun in einem langen Artikel dem Eindruck entgegen, »dass aus einer in jeder Hinsicht vorzüglich verwalteten (…) Gemeinde ein gemeiner Interessentenhaufen geworden sei, von Kaviar sich nährend und (…) Millionen Steuergelder aufs Spiel setzend«. Sie, die in ihrem Roman ja nicht zum wenigsten ähnliche Machenschaften dargestellt hatte, insistiert darauf, »dass trotz aller politischen Zerklüftung in diesem armseligen Nachkriegs-Berlin mehr für das Menschenglück geschehen ist als in fünfundsiebzig Jahren Grossstadtentwicklung vorher.« Die Wirtschaftskrise lasse alles vergessen, was in der Vorkriegszeit den Menschen in Berlin angetan wurde. Sie bezieht sich dabei vor allem auf die Wohnungspolitik, verweist mit Zahlen auf die menschenunwürdigen, krankmachenden und kriminalitätsfördernden Wohnverhältnisse, insbesondere prangert sie »die Verquickung von Hausbesitzerinteressen und denen von Stadtverordneten« an, die zu den berüchtigten Mietskasernen geführt hätten, wie die Stadt bei der Neuerschließung einer privaten Gesellschaft ausgeliefert gewesen sei, wie allein beim Bau der Straßenbahnlinien durch Korruption den Steuerzahlern ca. 100 Millionen Mark Schaden entstanden waren, reiht skandalöse Grundstücks- und Immobilienskandale aneinander, die im Grunewald und mit dem Bau des Teltowkanals weitere zig Millionen Einbußen verursachten. Dagegen setzt sie die 22 Millionen, die zwischen 1922 und 1928 in den Bau von Spiel- und Sportplätzen sowie in Grünanlagen investiert wurden, die Hälfte aus privaten Mitteln, die als Verschwendung angeprangert worden seien. »Alles, aber auch alles, was in fünfzig Jahren von Volksfreunden gefordert wurde, Grüngürtel, gesunde Kleinwohnungen und Spielplätze konnte, nachdem eine höchst komplizierte Form von Korruption es bisher gehindert hatte, erst durchgesetzt werden, als das alte Regime gestürzt wurde.« Ihr Fazit: »Alles, was die in ihren entsetzlichen Wohnungen eingepferchten Berliner 75 Jahre forderten und nicht durchsetzen konnten, ist in den letzten Jahren erfüllt worden.«9 3
Ansonsten schrieb sie selten so über soziale Verhältnisse, wie man es von anderen und vorzugsweise in Reportagen lesen konnte....