E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Atwood Hexensaat
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-16143-9
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-641-16143-9
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rache ist zeitlos: Booker-Preisträgerin Margaret Atwoods Verneigung vor dem großen Bühnenmagier William Shakespeare.
Felix ist ein begnadeter Theatermacher, ein Star. Seine Inszenierungen sind herausfordernd, aufregend, legendär. Nun will er Shakespeares »Der Sturm« auf die Bühne bringen. Dies soll ihn noch berühmter machen - und ihm helfen, eine private Tragödie zu vergessen. Doch nach einer eiskalten Intrige seiner engsten Mitarbeiter zieht sich Felix zurück, verliert sich in Erinnerungen und sinnt auf Rache. Die perfekte Gelegenheit kommt zwölf Jahre später, als ein Zufall die Verräter in seine Nähe bringt ...
Margaret Atwood, geboren 1939, ist unbestritten eine der wichtigsten Autorinnen Nordamerikas. Ihre national wie international vielfach ausgezeichneten Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. »Der Report der Magd«, das Kultbuch einer ganzen Generation, wurde preisgekrönt als Serie verfilmt. 2017 erhielt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und für ihren Roman »Die Zeuginnen« wurde sie 2019 bereits zum zweiten Mal mit dem Booker-Preis für den besten englischsprachigen Roman ausgezeichnet. Atwood lebt in Toronto.
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2. Meine Zauber wirken Dieser heimtückische, hinterhältige Scheißkerl Tony ist Felix’ eigene Schuld. Oder größtenteils seine Schuld. Im Laufe der letzten zwölf Jahre hat er sich häufig selbst kasteit: Er hat Tony zu viel Spielraum gelassen, er hat ihn nicht kontrolliert, hat ihm nicht über die geschniegelte, gepolsterte, nadelstreifengewandete Schulter geschaut. Er hat nicht auf die Warnzeichen geachtet, wie jeder andere halbwegs klar denkende Mensch es vielleicht getan hätte. Schlimmer noch: Er hat diesem bösartigen Aufsteiger, diesem machiavellistischen Speichellecker vertraut. War auf ihn hereingefallen: Lass mich das für dich erledigen, delegier das, schick mich stattdessen. Was für ein Idiot er gewesen war. Seine einzige Entschuldigung war, dass seine Trauer ihn damals abgelenkt hatte. Kurz zuvor hatte er sein einziges Kind verloren, und das auf so schreckliche Weise. Hätte er nur, hätte er nur nicht, wenn er nur darauf geachtet hätte … Nein, es war immer noch zu schmerzhaft. Denk nicht darüber nach, sagt er sich, als er sein Hemd zuknöpft. Verdräng es, so gut du kannst. Tu so, als wäre es nur ein Film. Selbst wenn es dieses mit einem Nachdenkverbot belegte Ereignis nicht gegeben hätte, er wäre höchstwahrscheinlich dennoch in die Falle getappt. Er hatte sich angewöhnt, Tony das Kommando über den prosaischen Teil der Veranstaltung zu überlassen, denn schließlich war Felix der künstlerische Leiter, wie Tony ihm immer wieder ins Gedächtnis rief, und auf dem Gipfel seiner Möglichkeiten, zumindest wurde das von den Kritikern immer wieder behauptet; deshalb sollte er sich höheren Zielen widmen. Und das hatte er auch getan. Um die prächtigste, schönste, ehrfurchtgebietendste, einfallsreichste, numinoseste Theatererfahrung aller Zeiten zu schaffen. Um die Messlatte bis zum Mond hochzusetzen. Um jede Inszenierung zu einem Erlebnis zu machen, das kein Zuschauer jemals vergessen würde. Um das kollektive Atemanhalten, den kollektiven Seufzer zu beschwören, und ein Publikum, das später, beim Hinausgehen, ein wenig schwankte, als hätte es zu viel getrunken. Um das Makeshiweg-Festival zum Maß all dessen zu machen, woran mindere Theaterfestivals gemessen würden. Das waren hochgesteckte Ziele. Um sie zu erreichen, hatte Felix die fähigsten Helferteams zusammengestellt, die er durch gutes Zureden gewinnen konnte. Er hatte die Besten angeheuert, hatte die Besten inspiriert – beziehungsweise die Besten, die er sich leisten konnte. Er hatte die Technikgnome und -kobolde, die Beleuchter, die Tontechniker handverlesen. Er hatte die meistbewunderten Bühnen- und Kostümbildner seiner Zeit abgeworben, zumindest die, die sich hatten abwerben lassen. Jeder von ihnen musste ein Meister seiner Zunft sein oder noch besser. Wenn möglich. Dafür hatte er Geld gebraucht. Das Geld aufzutreiben war Tonys Aufgabe gewesen. Eine Handlangerarbeit: Das Geld war nur Mittel zum Zweck, der Zweck Transzendenz. Das hatten sie beide verstanden. Felix, der Zauberer und Wolkenkutscher, und Tony, das erdenschwere Faktotum, der Goldschürfer. Das war ihnen angesichts ihrer jeweiligen Talente als die angemessene Aufgabenteilung erschienen. Wie Tony selbst es ausgedrückt hatte, sollte jeder das tun, was er am besten konnte. Idiot, schimpft Felix sich selbst. Er hatte nichts verstanden. Und was den Gipfel seiner Möglichkeiten anbetraf: Der Gipfel ist immer gefährlich. Vom Gipfel aus kann der Weg nur abwärtsführen. Tony war allzu sehr darauf erpicht gewesen, Felix von den verhassten Ritualen zu befreien, wie zum Beispiel Cocktailpartys zu besuchen, Sponsoren und Förderern Honig um den Mund zu schmieren, freundschaftlichen Kontakt mit dem Präsidium zu pflegen und auf diversen Regierungsebenen Subventionen zu beschaffen und effektive Berichte zu schreiben. Somit – sagte Tony – konnte Felix sich den Dingen widmen, die wirklich zählten, wie zum Beispiel seinen scharfsichtigen Textanmerkungen, der avantgardistischen Lichtregie und dem exakten Einsatz der Glitzerkonfettischauer, für die er berühmt war. Und seiner Regiearbeit natürlich. Felix hatte pro Saison immer ein oder zwei Stücke eingeschoben, bei denen er persönlich Regie führte. Hin und wieder übernahm er auch eine Hauptrolle, wenn es etwas war, das ihn faszinierte. Julius Cäsar. Oder der Schottenkönig. Lear. Titus Andronicus. Jede einzelne dieser Rollen war ein Triumph für ihn! Genau wie jede einzelne seiner Inszenierungen! Zumindest ein Triumph bei der Kritik, auch wenn die Theaterbesucher und sogar die Förderer gelegentlich murrten. Die fast nackte, freizügig blutende Lavinia im Titus sei allzu anschaulich und verstörend, hatten sie gejammert, wenn auch, wie Felix betonte, durch den Text mehr als gerechtfertigt. Warum musste Perikles mit Raumschiffen und Außerirdischen inszeniert werden, statt mit Segelschiffen und fremden Ländern, und warum wurde die Mondgöttin Artemis mit dem Kopf einer Gottesanbeterin dargestellt? Selbst wenn es – wie Felix dem Präsidium zu seiner Verteidigung auseinandersetzte – absolut passte, sobald man nur genau genug darüber nachdachte. Und Hermiones Rückkehr ins Leben als Vampir in Ein Wintermärchen: Dafür hatte es tatsächlich Buhrufe gegeben. Felix war darüber hocherfreut: Was für ein Effekt! Wer sonst hatte das je getan? Wo Buhrufe sind, da ist Leben! Diese Eskapaden, diese Höhenflüge der Fantasie, diese Triumphe waren Geistesprodukte eines früheren Felix. Es waren Akte des Jubels, des glücklichen Überschwangs. In der Zeit kurz vor Tonys Coup hatten sich die Dinge verändert. Waren düsterer geworden, und das so plötzlich. Heul, heul, heul … Aber er konnte nicht heulen. Seine Frau Nadia verließ ihn als Erste, kaum ein Jahr nach ihrer Hochzeit. Für ihn eine späte und unerwartete Ehe: Er hatte nicht gewusst, dass er zu solcher Liebe fähig war. Er entdeckte gerade erst ihre Vorzüge, lernte sie gerade erst richtig kennen, als Nadia unmittelbar nach der Geburt ihrer Tochter an einer schnell fortschreitenden Staphylokokken-Infektion erkrankte. Solche Dinge passierten trotz moderner Medizin. Er versucht noch immer, sich ihr Bild vor Augen zu rufen, sie noch einmal lebendig werden zu lassen, aber im Laufe der Jahre hat sie sich sachte von ihm zurückgezogen, ist verblasst wie ein altes Polaroidfoto. Jetzt ist sie wenig mehr als ein Schattenriss; ein Schattenriss, den er mit Trauer füllt. Und so war er mit seiner neugeborenen Tochter Miranda allein. Miranda: Wie sonst hätte er, ein vernarrter Vater mittleren Alters, ein mutterloses kleines Mädchen nennen können? Sie war es, die ihn davon abgehalten hatte, im Chaos zu versinken. Er hatte sich zusammengerissen, so gut es ging, was nicht allzu gut war; dennoch, er war zurechtgekommen. Natürlich hatte er Hilfe angeheuert – er brauchte ein paar Frauen, da er von der praktischen Seite der Kinderpflege keine Ahnung hatte, und weil er wegen seiner Arbeit nicht die ganze Zeit bei Miranda sein konnte. Doch er hatte jede freie Minute mit ihr verbracht. Auch wenn es nicht viele freie Minuten gab. Er war von Anfang an von ihr hingerissen gewesen. Er wachte, er staunte. So vollkommen, ihre Finger, ihre Zehen, ihre Augen! So eine Freude! Als sie sprechen konnte, nahm er sie sogar mit ins Theater; sie war so klug. Sie saß da und sog alles in sich auf, zappelte nicht gelangweilt herum, wie eine unbedeutendere Zweijährige das vielleicht getan hätte. Er schmiedete so viele Pläne: Sobald sie älter war, würden sie miteinander reisen, er würde ihr die Welt zeigen, er konnte ihr so vieles beibringen. Doch dann, im Alter von drei Jahren … Hohes Fieber. Meningitis. Sie hatten versucht, ihn zu erreichen, die Frauen, doch er war in der Probe und hatte strikte Order erlassen, ihn nicht zu stören, und sie hatten nicht gewusst, was sie tun sollten. Als er schließlich nach Hause kam, flossen verzweifelte Tränen, dann die Fahrt zum Krankenhaus, doch es war zu spät, zu spät. Die Ärzte taten, was sie konnten: Jede Plattitüde wurde aufgefahren, jede Entschuldigung aufgeboten. Doch nichts half, und dann war sie nicht mehr da. Dahingerafft, wie sie gewöhnlich sagten. Doch wohin? Sie konnte nicht einfach aus dem Universum verschwunden sein. Er weigerte sich, das zu glauben. Lavinia, Julia, Cordelia, Perdita, Marina. All die verlorenen Töchter. Einige von ihnen wurden wiedergefunden. Warum nicht auch seine Miranda? Was machte man mit solchem Kummer? Er war wie eine gewaltige schwarze Wolke, die sich jenseits des Horizonts zusammenbraute. Nein: wie ein Schneesturm. Nein: Er konnte es nicht in Worte fassen, konnte es nicht direkt damit aufnehmen. Er musste diesen Kummer umformen, ihn zumindest verkapseln. Unmittelbar nach dem Begräbnis mit dem mitleiderregend kleinen Sarg hatte er sich in den Sturm gestürzt. Eine Ausweichstrategie, sogar damals schon besaß er so viel Selbsterkenntnis, doch auch so etwas wie eine Wiederauferstehung. Miranda sollte zu der Tochter werden, die nicht verloren war; ein Schutzengel, der dem ins Exil getriebenen Vater beistand, während sie in einem leckgeschlagenen Boot gemeinsam über das dunkle Meer trieben. Sie wäre nicht gestorben, sondern zu einem hübschen Mädchen herangewachsen. Was er im Leben nicht haben konnte, dessen konnte er durch seine Kunst vielleicht noch ansichtig werden: nur ein kurzer Blick aus dem Augenwinkel. Er würde dieser wiedergeborenen Miranda, die er durch seinen Willen zum Leben erweckte, ein unvergleichliches...