Aubenque Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2007
ISBN: 978-3-7873-2006-6
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 287 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-2006-6
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AUSLEGUNG DER TEXTE
1. Kapitel Die Klugheit
»Wer sich mit den Griechen abgibt, soll sich immer Vorhalten, daß der ungebändigte Wissenstrieb an sich zu allen Zeiten ebenso barbarisiert als der Wissenshaß und daß die Griechen durch die Rücksicht auf das Leben [...] ihren an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben.« Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen § 1 Definition und Existenz Die aristotelische Definition der Klugheit hat in der moralischen Tradition des Abendlandes kaum Spuren hinterlassen. Während die stoischen Definitionen der phronesis als »Wissenschaft von den Dingen, die zu tun und zu lassen sind« oder als »Wissenschaft vom Guten und Schlechten wie vom Gleichgültigen«1 sich bei der Nachwelt leicht durchgesetzt haben,2 hat die Definition, die Aristoteles im Buch VI der Nikomachischen Ethik vorlegt, einen zu schwerfälligen oder, wenn man will, zu technischen Charakter, als dass ihr dasselbe Glück hätte zuteil werden können. Die Klugheit wird dort bestimmt als ein »mit einer richtigen Regel verbundener, zur Grundhaltung verfestigter praktischer Habitus im Bereich der Dinge, die für den Menschen Güter und Übel sind.«3 Diese Definition wird gemäß einer Aristoteles geläufigen Methode als Ergebnis eines zugleich induktiven und regressiven Vorgehens präsentiert. Ausgegangen wird vom gewöhnlichen Sprachgebrauch4 und festgestellt wird, dass jemand als phronimos bezeichnet wird, wenn er die Fähigkeit zur Erwägung hat;5 daran erinnert, dass die Erwägung nur das Kontingente betrifft, während Gegenstand der Wissenschaft das Notwendige ist: also ist die Klugheit keine Wissenschaft. Handelt es sich bei ihr also um eine Kunst? Nein, denn die Klugheit zielt auf das Handeln ab und die Kunst auf das Herstellen : Die Klugheit ist also auch keine Kunst. Wenn sie aber weder eine Wissenschaft noch eine Kunst ist, so bleibt nur , dass sie ein praktischer Habitus ist, wobei sie praktisch im Unterschied zur Kunst und ein Habitus im Unterschied zur Wissenschaft ist. Doch damit ist nicht mehr gesagt, als dass sie eine Tugend darstellt. Um sie von den anderen Tugenden zu unterscheiden, bedarf es einer anderen spezifischen Differenz: Während die moralische Tugend ein (praktischer) Habitus im Hinblick auf die Entscheidung ist,6 handelt es sich bei der Klugheit um einen praktischen Habitus im Hinblick auf die Regel der Entscheidung. Es geht hier nicht um die Richtigkeit der Handlung, sondern um die Angemessenheit des Kriteriums; aus diesem Grunde ist die Klugheit ein praktischer Habitus, der mit einer richtigen Regel verbunden ist. Doch diese Definition ist immer noch zu weit, da sie sich auf jede Verstandestugend beziehen könnte. Die Klugheit wird deshalb von der Weisheit, jener anderen Verstandestugend, unterschieden, indem präzisiert wird, dass das Feld der ersteren nicht das Gute und das Übel im Allgemeinen ist, sondern das, was für den Menschen gut und von Übel ist.7 In diesem Vorgehen, das weniger durch positive Bestimmungen vorankommt als durch das fortschreitende Ausschließen dessen, was die Klugheit nicht ist, könnte man die berühmte platonische Methode der Unterteilung wiedererkennen. Es gibt zwei grundsätzliche Haltungen des Menschen: das Wissen, dem es um das Notwendige geht, und das Tun, welches sich auf das Kontingente bezieht. Der Bereich des Tuns im weiten Sinne (für den es übrigens im Griechischen keine Bezeichnung gibt) enthält zwei verschiedene Arten von Habitus: praktische oder poetische. Der praktische Habitus betrifft die Absicht oder die Regel der Entscheidung; die Norm der letzteren ist entweder das absolute oder das menschliche Gute. Mittels einer Folge von Ausschließungen gelangt man zur gesuchten Definition, deren Formulierung dem klassischen Schema der Unterteilung einer Gattung in Arten durch Angabe der spezifischen Differenz entspricht. Aber dem ist nur äußerlich so. Denn in Wirklichkeit geht Aristoteles nicht von der Gattung aus, um über eine Reihe von Unterteilungen zum Definiendum hinabzusteigen. Sein Ausgangspunkt ist kein Wesen, dessen verschiedene Bestimmungen zu analysieren wären, sondern ein Wort – phronimos –, das einen bestimmten Menschentyp bezeichnet, den wir alle zu erkennen vermögen, den wir von verwandten und dennoch verschiedenen Figuren unterscheiden können und mit dessen Modell wir aus Geschichte, Legende und Literatur vertraut sind. Alle Welt kennt den phronimos, obgleich niemand die phronesis zu definieren weiß. Indem der Philosoph die phronesis von der Wissenschaft, der Kunst, der moralischen Tugend und der Weisheit unterscheidet, tut er nichts anderes, als auf wissenschaftliche Weise eine semantische Einheit abzugrenzen, welche ihm als Ausdruck der volkstümlichen moralischen Erfahrung von der Alltagssprache geliefert wird. So wird verständlich, dass die Suche nach der Definition der Klugheit mit folgendem Satz beginnt: »Was ferner die Klugheit sei, können wir daraus lernen, dass wir zusehen, welche Menschen wir klug nennen.«8 Die Existenz des Klugen – so wie sie durch die Alltagssprache bezeugt wird – geht der Bestimmung des Wesens der Klugheit voraus. Diese Vorgehensweise könnte als ein ganz gewöhnliches Untersuchungs- oder jedenfalls Darstellungsverfahren erscheinen, stünde sie nicht relativ isoliert in der Geschichte der Spekulation über die Tugenden da. Betrachtet man die platonische Einteilung der Tugenden, die über Ambrosius zu den Kardinaltugenden werden,9 so wird man feststellen, dass sie ebenso wie die Definition jeder einzelnen Tugend auf einer vorangehenden Unterteilung der Seele beruht. Diese besteht aus drei Teilen: der Begierde , dem Mut und dem Verstand , welche jeweils mit den drei Tugenden der Mäßigung , der Tapferkeit und der Weisheit oder korrespondieren,10 wobei die vierte Tugend, die Gerechtigkeit , für die Harmonie des Ganzen zu sorgen hat.11 Was die Stoiker anbelangt – oder zumindest diejenigen unter ihnen, die nicht mit Ariston die absolute Einheit der Tugend behaupteten – so behalten sie dieselbe Klassifikation der vier grundlegenden Tugenden bei (mit dem einen Unterschied, dass sie die endgültig an die Stelle der setzen) und gründen sie diesmal auf eine Unterteilung ihrer Gegenstände: Die Klugheit betrifft das zu Tuende, die Tapferkeit das zu Ertragende, die Mäßigung das zu Wollende und die Gerechtigkeit das Zuzuteilende.12 Ob es sich nun um eine subjektive oder objektive Klassifikation handelt, die Theorie der Klugheit geht in beiden Fällen von einer in ihre natürlichen Gliederungen einzuteilenden Ganzheit aus und zielt auf ein erschöpfendes System ab. Demgegenüber ist der nichtsystematische Charakter der aristotelischen Beschreibung der Tugenden oft betont worden, sei es nun bedauernd13 oder lobend.14 Aristoteles beschränkt sich hier wie auch im Zusammenhang mit der Auflistung der Kategorien auf eine empirische Aufzählung wahrscheinlich volkstümlichen Ursprungs,15 die eine Reihe von Figuren vorführt, welche die Alltagssprache zu Typen stilisiert hat. Und es ist eine Beschreibung dieser Typen, d. h. eine Galerie von Porträts, auf welche sich die aristotelische Analyse der ethischen Tugenden im dritten und vierten Buch der Nikomachischen Ethik in der Tat zurückführen lässt. Einige dieser Porträts erreichen eine literarische Vollendung, die dazu beigetragen hat, ihren typenhaften Charakter zu akzentuieren: Dazu zählen etwa die berühmte Beschreibung des Großgesinnten, in der manche das idealisierte Porträt16 oder im Gegenteil die Karikatur17 des griechischen Menschen erblickten, oder sogar Aristoteles’ Selbstporträt bzw. das Porträt seines idealen Selbst.18 Mit dieser Typengalerie wird Aristoteles wenigstens ebenso sehr zum Wegbereiter eines von seinem Schüler Theophrast ausgestalteten literarischen Genres, nämlich dem der Charaktere, oder zum ersten Vertreter einer »phänomenologischen« und deskriptiven Ethik, wie zum Begründer eines moralphilosophischen Systems. Doch wenn man genau hinschaut, so wird man sich davon überzeugen, dass dieses »porträtierende« Vorgehen in der Beschreibung der ethischen Tugenden, wie sie sich im dritten und vierten Buch der Nikomachischen Ethik findet, kein Selbstzweck ist, sondern als Zugang zur Bestimmung des Wesens der jeweils behandelten Tugend verwendet wird. Darüber hinaus leitet Aristoteles im Allgemeinen seine Darstellung mit einer vorläufigen Skizze der Definition der untersuchten Tugend ein. So beginnt etwa das Kapitel über die Freigiebigkeit mit den Worten: »Sie erscheint als die Mitte in Bezug auf Vermögensobjekte.«19 Hier wird der gattungsmäßige Charakter der Tugend aufgenommen und dann mittels der spezifischen Differenz bestimmt, welche in der besonderen Beziehung zu einem bestimmten Bereich menschlicher Aktivität besteht. Es ist richtig, dass Aristoteles sich nicht lange an diesen logischen Grundriss der Wesensdefinition hält und sie kurz darauf nicht durch eine apriorische Einteilung der Bereiche menschlicher Aktivität rechtfertigt, sondern indem er auf eine zugleich phänomenologische und axiologische...