E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Avino Jung und Unsichtbar
2. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7578-5590-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-7578-5590-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chris ist 13 und lebt schon jetzt mit dem Gefühl, keine Zukunft zu haben. Eine zerrüttete Familie, ein Leben am Existenzminimum und die Perspektivlosigkeit in der berüchtigten Hugo-Luther-Straße haben sein Aufwachsen geprägt. Doch Chris ist schlau und erhält so die Chance, auf das örtliche Gymnasium zu gehen. Begleitet vom Mobbing durch seine Mitschüler*innen und Lehrer*innen, erkämpft er sich seinen Platz, bis plötzlich ein einziger Tag alles verändert. Mit 13 wird Chris erwachsen: Aus einer kindlichen Idee wird eine Kette aus Ereignissen, die sein Leben für immer prägen wird. Immer an seiner Seite steht dabei sein behinderter Freund Ro. Zwischen Coming of Age und Spannung treffen in Federico Avinos autobiografisch inspiriertem Debütroman Jung und unsichtbar kindliche Naivität und knallharte Realität aufeinander.
Federico Avino, geb. in Braunschweig. Nach dem Tod des Vaters Schulabbruch, wechselnde Jobs und Auslandsaufenthalte in England und Italien. Dann der Zweite Bildungsweg und ein Geschichts- und Filmstudium. Federico Avino lebt und arbeitet in Berlin.
Autoren/Hrsg.
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1
Als ich an dem Morgen die Augen aufschlug, dachte ich zuerst, dass ich zum Sterben gerne so ein Typ wie Sylvester Stallone wäre und dass ich einen Walkman haben musste. Wenn ihr es wissen wollt: Sylvester Stallone war in meinen Augen ein richtig harter Hund und hatte in Rambo gegen die ganze Polizei gekämpft. Das hatte er aber nur getan, weil sie auf ihm rumgehackt hatten und ihn fertigmachen wollten. Dabei wollte er doch nur aus der Stadt raus. So wie ich unbedingt aus der Hugo-Luther rauswollte. Nicht, dass ich Rambo gesehen hätte, nee, ich war doch viel zu jung. Noch nicht mal 14 und fürs Kino hatte ich erst recht kein Geld, dafür aber ein blaues Auge von meiner neuen Schule, aber ich wusste eben auch, dass ich da nicht bleiben konnte. Es ging nicht. Wir waren einfach zu verschieden. Die Straße und ich. Seit ich denken konnte, wollte ich da raus. Seit dem Schwedenheim, nein, eher seitdem ich lesen konnte. Natürlich dachte ich nicht den ganzen Tag daran, wie ich das genau anstellen konnte. Das wäre auch zu blöde gewesen. Ich dachte auch an andere Sachen. An Schimpfwörter, Gewalt und auch an Quatsch und Nebensächlichkeiten und an dem Tag wollte ich eben wie Rambo sein. Nur war ich ja eher klein und leider ziemlich schmächtig, aber ich war auch ein ganz guter Sportler. Ich will ja nicht angeben, aber das war ich wirklich und einen Walkman brauchte ich auch. Der Walkman musste aber kein Sony sein. Hauptsache, ich bräuchte nicht mehr das Gequatsche und Gelaber in meiner neuen Kackschule mitbekommen, dachte ich bei mir, während ich langsam wach wurde, meine Decke betrachtete und dann aufstand, um zum Fenster zu gehen. Nicht, dass es da draußen wer weiß was für schöne Dinge zu sehen gab, ganz im Gegenteil, aber ich kam immer gut in die Gänge, wenn ich eine Zeit lang auf die Autobahn gegenüber schaute und mir überlegte, wohin die ganzen Laster wohl fuhren. Von dort aus ging’s nämlich einerseits Richtung Westen und das klang gut. Nach Frankreich an die Küste. Le Havre, Rouen oder auch nach Holland, Amsterdam, Rotterdam und dann immer weiter über die Atlantikroute nach Amerika. Runter bis nach Brasilien, Argentinien oder Patagonien, weit weg von uns. Oder nach Osten. Das war auch nicht schlecht. Vielleicht sogar noch besser. Berlin und weiter, Richtung Prag, Budapest, Athen oder auch nach Moskau, dachte ich und mir fielen automatisch Bilder ein. Von tollen Ländern und lebendigen Städten, wo die Menschen einfach glücklich waren und gut lebten. Bei dem Gedanken bekam ich aber gleich schlechte Laune. Als ich nämlich da stand, fiel mein Blick als Nächstes auf die wunderschönen Wasserflecken an meiner Wand. Die kamen daher, dass der Trinker über uns irgendwann weg war. Während er das Wasser laufen ließ und weil das keiner gemerkt hatte, lief das eben eine Woche oder zwei, vielleicht aber auch richtig lange. Das Wasser sprang dabei über seine volle Spüle, pladderte auf den Boden, wurde höher, suchte sich Löcher und irgendwann sickerte es endlich in den Boden rein. Dann zu uns runter und weiter. So dachte ich mir das jedenfalls. Wenn ihr das jetzt nicht checkt, fragt bitte euren Klempner, der erklärt euch das besser. Deshalb war unsere Wohnung auch feucht und schimmelte an der Wand. Nicht nur bei mir, sondern überall, aber der Vermieter unternahm nichts, weil sich das bei uns nicht lohnen würde, meinte er mal. Aber egal, der Mieter über uns war eh einer vom Alki und Irren Kiosk gewesen und hatte ständig aus dem Fenster „Ruhe“ gerufen. Ruhe? Bei einer vierspurigen Autobahn gegenüber? Na danke, da konnte jeder gleich mal sehen, was für einen Humor die bei uns hatten. Manchmal dachte ich, der hatte das bei seinem Humor bestimmt extra gemacht. Also mit Wasser zu sterben. Wer machte denn sowas außer einem Komiker vom Kiosk? Na, der über uns war jedenfalls gestorben, aber damit hatte ich noch lange nichts zu hören und schon gar keinen Walkman. Ich hätte ja fast alles gehört, am liebsten aber „Let there be Rock“ von AC/DC. Hauptsache kein Chris Norman. Ihr fragt euch jetzt bestimmt, warum ich so ein Japp nach Ruhe und so einen Hass auf Chris Norman und meine Schule hatte? Okay, vielleicht erklär´s euch später, wenn ich Lust hab, aber als Erstes: Könnt ihr euch vorstellen, in einem Zimmer zu leben, in dem man nur zwei, drei Schritte bis zur Wand hatte und an der Seite auch nur zwei? Bei dem die Wände dünn wie Pappe waren? Bei dem man jeden Schritt hörte? Deshalb machte ich meine Hausarbeiten am liebsten in der Bücherei und auch weil Rene immer bei uns rumlief. Rene? Ja, Rene. Der Bruder von meinem Vater. Der wohnte doch quasi bei uns, er war nämlich mit meiner Mutter zusammen. Hauptberuflich will ich das mal nennen, weil er sonst nie arbeitete. Meine Mutter arbeitete manchmal als Aushilfe in der Papierfabrik um die Ecke. Meistens saß sie aber nur unten im Hof und machte irgendwas vor sich hin. Keine Ahnung was, fragt nicht, die saß dann halt da. Ja, den ganzen Tag. Ich hab sie mal gefragt, warum sie da sitzen würde und sie meinte nur, dass das wegen mir sei. Weil ich doch so einen Riesenschädel hätte. Wer sollte das denn verstehen? Ich hatte doch einen ganz normalen Kopf. Vielleicht dachte sie mal lieber drüber nach, warum sie ausgerechnet mit Rene zusammen war? Aber was gab es da nachzudenken? Rene war genauso blank wie wir und trampelte immer durch unsere Wohnung. Dazu rauchte er Kette, und wenn er kein Geld mehr hatte, um zu paffen, ging er zu sich in den Keller, schloss sich ein und baute an seinen Modellkutschen rum. Sagenhaft erfolgreich. Wenn er von denen wirklich eine auf dem Flohmarkt verkauft hatte, ging’s ab in die Spielothek ums Eck oder zum Kiosk gegenüber. Da wo der tote Komiker herkam. Sonst machte er nichts. Da rumhängen, paffen und oben Sprüche labern, und das konnte er echt zum Sterben gut. Darin war Rene der inoffizielle Weltmeister. Auch wenn die anderen beim Alki und Irren Kiosk darin auch nicht übel waren. Wenn er aber damit anfing, dauerte es ewig, bis er wieder aufhörte, und ständig kam da nur Müll raus. Richtiger Rene-Schwachsinn, den keiner lange ertragen konnte. Am besten kannte er sich übrigens in seinem Fachgebiet Politik aus, obwohl er noch nicht mal richtig lesen konnte und lange dachte, Helmut Schmidt sei bei der FDP. Dem musste ich das erst mal erklären, aber hat er es geglaubt? Nein. Natürlich nicht. Warum auch? Ging doch auch ohne. Ich weiß bis heut nicht, was meine Mutter an dem fand, aber so war das wohl mit der Liebe. Was Gutes hatte es aber doch, dass Rene immer bei uns rumhing. Als ich ihn mir ansah, lernte ich noch dreimal mehr, um bei uns rauszukommen. Richtig abschreckend war der für mich. Nur bei uns kam man nicht schnell raus, das war das Problem. Sie kamen in der Regel alle wieder. Meist betrunken. Vom Arbeitsamt. Von der Klippschule. Aus dem Gefängnis. Der Entgiftung. Nur der tote Komiker blieb verschwunden. Gut, ich wollte ja gern weg, aber das war mir dann für den Anfang doch zu heftig. Ich horchte an meiner Tür. Am Morgen war es aber zum Glück ruhig in unserer Wohnung. Ich bin vorsichtig auf unseren Miniflur raus und war super gut darin, leise da rumzulaufen. Warum? Na ihr seid gut, dann musste ich nicht immer für meine Mutter und Rene zum Kiosk laufen, darum. Die beiden rauchten und tankten nämlich ganz gut was weg, brüllten dann auch wer weiß nicht wie rum, hatten aber nie Lust, selbst runterzugehen, wenn sie mal „saßen“. Um nicht ständig geschickt zu werden, wusste ich schon früh richtig gut, wo es überall auf dem Flur quietschte und da ich zufälligerweise ein gutes Gedächtnis hatte, war der Flur wie ’ne Landkarte für mich. Nur dass immer was Neues irgendwo rumlag. Also war ich ganz gut darin geworden, den Flur ständig aufzuräumen. Egal, ich musste also unbedingt einen Walkman haben, aber das Kaufhaus hatte die eben unter Verschluss und da konntest du machen, was du wolltest – du hast die nicht aufbekommen. Das meinten auf jeden Fall einige der Jungs, die echt gut klauen konnten. Es gab einige bei uns, die gut klauen konnten, und es gab auch welche, die gut zuschlagen konnten, und dann auch welche, die echt gut klauen und echt gut zuschlagen konnten. Ich war ja wie erwähnt ganz gut im Sport, aber natürlich lang nicht echt gut. Echt gut im Zuschlagen war ich leider auch nicht. Ich schätze, ich war nur echt gut in der Schule und genau deshalb brauchte ich auch unbedingt den Walkman. Er lag da unten in der Karstadt Vitrine wie ich auf meinem alten Schlafsofa. Oben funkelten die Dinger mit den Marken drauf. Die riefen „Chris, komm kauf mich, gib alles aus, mach dich arm“, aber ich hatte eh nichts und je weiter du nach unten rutschtest, umso billiger und blasser wurden die. Mir hat das aber nichts ausgemacht. Ich wollte den unten haben, der passte zu mir. Er war grau matt silbern und hatte einen roten Zickzack Streifen an der Seite und wenn man ihn öffnete, lief er weiter. Mann, wenn ich nur daran dachte, konnte ich schon fast Musik hören. Ich wünschte mir einen Walkman mehr als neue Schuhe und auch mehr als ein richtiges Fahrrad. Dann hätte ich nicht immer hören müssen, wie sie mir auf meiner neuen Schule in hundert Versionen „Assi“ hinterherriefen. Ich wusste...