Axat Die Verwandlung des Schmetterlings
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7844-8254-5
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8254-5
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine große Freundschaft und ein noch größeres Geheimnis. Sam und Billy freuen sich auf den langen Sommer: Der Bau ihres Baumhauses und ausgedehnte Fahrradtouren stehen auf dem Plan. Doch plötzlich zieht ein neues Mädchen in die Nachbarschaft und mischt ihre Freundschaft gehörig auf - aus dem Duo wird ein Trio. Gemeinsam wollen sie nicht nur die Ferien genießen, sondern auch Abenteuer erleben und ein großes Geheimnis aufdecken: Was geschah vor über zehn Jahren, als Sams Mutter nach einem Autounfall spurlos verschwand? Für Sam, Miranda und Billy ist es der Sommer ihres Lebens und das Ende ihrer Kindheit.
Federico Axat wurde 1975 in Buenos Aires geboren. Seine Bücher wurden in mehr als 20 Länder verkauft; 'Die Verwandlung des Schmetterlings' ist sein erstes Werk, das in Deutschland erscheint. Spannung, überraschende Wendungen und ein unerwartetes Ende - das ist Federico Axat. Seine Romane spielen vornehmlich in den USA, die für mehrere Jahre seine Wahlheimat waren. Heute lebt er wieder in Argentinien.
Weitere Infos & Material
Prolog 1974 Meine Hände recken sich wie zwei weiße Blüten empor und spielen mit der süßlichen Luft, die vom Geruch der Ledersitze durchtränkt und durch die Heizung angenehm temperiert ist. Mama fährt, von Zeit zu Zeit dreht sie sich zu mir um und wirft mir ein Lächeln zu. Sie redet über den Regen, der auf das Autodach trommelt, über ein kaum sichtbares Schild und Dinge, die ich nicht verstehe. Die meiste Zeit jedoch erzählt sie vom Pinto, ein Wort, das ich schnell gelernt habe und begeistert wiederhole. »Pinto!« »Ja!«, antwortet Mama. »Er gehört jetzt uns. Ist er nicht schön? Wir müssen nie wieder den Bus nehmen.« »Bus.« Noch ein Wort, das ich schon verstehe, auch wenn ich es nicht richtig aussprechen kann. Deshalb reiße ich nur die Augen auf und beobachte Mama im Rückspiegel, der so eingestellt ist, dass sie mich jederzeit sehen kann. Daran baumelt ein hölzerner Rosenkranz. Einen Moment lang zieht er mich in seinen Bann. »Pinto!«, rufe ich erneut. Wabernde Dunkelheit hält uns fest umschlossen. Die Scheibenwischer laufen bereits auf Hochtouren, können den sintflutartigen Wassermassen jedoch kaum standhalten. Als plötzlich ein Lichtstrahl die Nacht zerreißt, ragt eine Krone aus blauschwarzen Ästen an unser Auto heran. Blitze jagen mir Angst ein, und dieser erschreckt mich so sehr, dass ich zusammenzucke. Dabei fällt Boo, mein Kuschelbär, der mich überallhin begleitet, vom Rücksitz. Ich warte den Donnerschlag ab, dann versuche ich, mich zu bücken. Von Boo ist nur ein unförmiger, grauer Umriss zu erkennen. Die Gurte von meinem Kindersitz halten mich zurück. Verzweifelt und dem Weinen nahe beobachte ich Mama, die leicht nach vorne gebeugt das Lenkrad umklammert hält und versucht, der kaum erkennbaren Straßenführung zu folgen. Ich habe das Gefühl, dass ich sie jetzt besser nicht stören sollte. Ich bin gerade mal ein Jahr alt, trotzdem nehme ich solche Dinge bereits wahr. Ich schaue mich im Auto um. Aus dem Augenwinkel erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild rechts auf der beschlagenen Fensterscheibe. Meine weiße Wollmütze sieht aus wie das Segel eines Schiffes, das durch den dunklen Wald da draußen fährt. Ich strecke meinen Arm aus, aber trotz aller Bemühungen reichen meine Finger nicht bis ans Fenster heran. Stattdessen stelle ich fest, dass ich in der Lage bin, dieses gespenstische Dreieck aus der Ferne zu beherrschen. Heftig schüttele ich den Kopf, und das Segel des imaginären Schiffes tut es mir gleich, es weicht geschickt den schwarzen und heimtückischen Wellen der Nacht aus. Immer und immer wieder lasse ich es sich bewegen und perfektioniere mit jedem Versuch meine Kommandogewalt. »Da hinten scheint sich ja jemand großartig zu amüsieren.« Ich halte in meinem wilden Schütteln inne. Mamas Stimme hat diese Wirkung. Wenn sie beginnt zu sprechen, scheint die Welt stillzustehen. Über die Schulter hinweg lächelt Mama mir liebevoll zu. Mein Wortschatz ist noch recht klein, er reicht nicht aus, um zu erklären, dass ich mir ein Segelschiff vorgestellt habe, das uns begleitet, und noch viel weniger, um auszudrücken, dass ich es durch die Bewegungen meines Kopfes selbst steuern kann. Deshalb antworte ich mit einem Lächeln. Dann zucke ich zusammen. Boo fällt mir wieder ein, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegt. »Boo«, bringe ich heraus. »Was ist passiert?«, fragt Mama, während sie einen Augenblick lang die Straße außer Acht lässt und mich anschaut. Sofort versteht sie, was los ist. Sie guckt wieder nach vorne und greift dabei mit dem rechten Arm zwischen den Vordersitzen durch. Ihre Hand klopft zuerst den Sitz und dann meine Turnschuhe ab. Ich lächele, als ihre Finger sachte meinen kleinen Fuß umfassen. »Boo, bist du das?«, fragt sie verschmitzt. Ich gluckse fröhlich und versuche, meinen Fuß durch einen ungelenken Tritt aus ihrem sanften Griff zu befreien. Soweit es die Anschnallgurte erlauben, beuge ich mich nach vorne und beobachte Mamas Hand – noch weit von Boo entfernt –, die den Fußraum abtastet. Ich würde ihr gerne helfen, aber die Suche zieht mich zu sehr in ihren Bann. Mamas Finger sehen aus wie eine riesige weiße Spinne. Wie schon das Spiegelbild meiner Mütze kurz zuvor, weckt sie in mir eine unbekannte Neugierde. Als sie endlich den richtigen Weg einschlägt, freue ich mich. Die große Spinne bewegt sich langsamen, aber bestimmten Schrittes auf ihre Beute zu. Mama muss sich noch etwas weiter nach hinten verrenken und verlangsamt die Geschwindigkeit des Wagens, um weiterhin über das Armaturenbrett hinweg die Sicht auf die Straße zu behalten. Sie stöhnt ein wenig, als sie sich immer weiter streckt und schließlich mit einem Daumen das Ohr von Boo erreicht. Das ist jedoch noch nicht genug, so viel verstehe auch ich schon. Mamas Daumen kratzt über den Boden und versucht dabei, das Stück Stoff mit sich zu ziehen, bekommt es jedoch nicht richtig zu fassen. »Boo«, murmele ich erneut mit erstickter Stimme. Gerne würde ich Mama sagen, dass ich ihn nicht brauche und ruhig bis zu Hause auf ihn warten kann. Doch mir bleibt nichts anderes übrig, als seinen Namen zu wiederholen. Dann geschieht etwas, das in mir einen instinktiven Mechanismus in Gang setzt. Eine irrationale Angst überkommt mich und lässt meinen kleinen, robusten Körper wie Herbstlaub bei einem eisigen Windstoß erzittern. Ein Gefühl, wie ich es auch bei Dunkelheit oder Einsamkeit empfinde, jedoch diesmal viel stärker. Mama hat sich noch etwas mehr verdreht und hat die Straße nicht mehr im Blick. Ihre Hand sucht nach Boo und kann ihn endlich greifen, wodurch der Pinto gefährlich ins Schlingern gerät. Ich reiße die Augen auf. Mein Blick ist fest auf den Rückspiegel geheftet. Der Rosenkranz schwingt bedrohlich hin und her. Nach einem kurzen Zögern zieht Mama ihre Hand mit Boo rasch wieder nach vorne. Ihr Umriss gewinnt seine ursprüngliche Haltung zurück, und Mama umfasst das Lenkrad mit beiden Händen. Der Pinto nimmt den Kurs wieder auf und beschleunigt. Meine Atmung beruhigt sich. Das Unwetter wird immer heftiger, der Donner grollt in der Ferne und das Autodach erbebt unter dem Prasseln des Regens, doch im Inneren des Pinto verflüchtigt sich langsam das Gefühl von Gefahr. Mama dreht sich mit einem beruhigenden Lächeln um und reicht mir meinen Kuschelbären, den ich fest an mich drücke. Unsere Blicke finden sich. Es ist einer dieser telepathischen Momente zwischen Mutter und Kind, in denen auch ohne Worte alles gesagt ist. Mamas Lächeln wird noch breiter. Sie ist wunderschön, denke ich und mustere ihr glattes Gesicht mit den großen Augen, dem schmalen Kinn und den rosigen Wangen, das von ihren vollen roten Haaren eingerahmt wird. Jede Einzelheit prägt sich tief in mein Gedächtnis ein, um sich später in meinen Träumen zu wiederholen. Und dann passiert es. Die Windschutzscheibe des Pinto verwandelt sich in eine leuchtende Kugel. Ein schwerer Schlag gegen eine der Seitenwände drückt den Wagen gefährlich in eine Richtung, als hätte ihn die unbedachte Handbewegung eines Riesen getroffen. Die Karosserie dreht sich um sich selbst und zerteilt die Nacht beim Überqueren der Fahrbahn in die Gegenrichtung. Das gleißende Licht wird von einer dunklen Masse aus Ästen und Baumstämmen abgelöst, die vor der Windschutzscheibe wirbeln, bis der Wagen für einen kurzen Augenblick kopfüber zum Stehen kommt. Ich spüre den Druck der Anschnallgurte meines Kindersitzes, die meinen Brustkorb zerquetschen. Boo rutscht mir aus der Hand. Mama schreit. Ihr Körper bewegt sich hin und her. Ein Augenblick der Hoffnung, dann durchschneidet der neue Pinto, für den Mama überteuerte Raten bezahlt – eine Herkulesaufgabe für eine alleinerziehende Krankenschwester –, spiralförmig die Luft, prallt gegen eine Eiche und wird wie eine Getränkedose zusammengedrückt. Die Karosserie dreht sich noch ein Stückchen weiter, der Wagen stößt gegen einen anderen Baum und das Dach wird eingedrückt. Innerhalb von Sekunden ist alles vorbei. Es folgt eine unheimliche Stille, in der noch nicht einmal Regen und Donnergrollen zu hören sind. Zuerst ist alles schwarz. Ich blinzele mehrmals und kann trotzdem nichts erkennen. Das Rauschen des Sturmes ist die einzige Verbindung zur Welt. Ich will mich bewegen, aber die Gurte halten mich zurück. Entsetzt stelle ich fest, dass ich noch nicht einmal richtig schreien oder weinen kann, ein stechender Schmerz verhindert das. Ich atme flach, schüttele den Kopf. Die Fröhlichkeit, mit der ich noch kurz zuvor das Segel tanzen ließ, ist vergangen, und ich möchte mich nur aus dieser unerträglichen, alles umschließenden Dunkelheit befreien. Meine Stirn stößt gegen irgendetwas. Ich halte inne, während die Umrisse wieder Form annehmen. Vor mir sehe ich eine Ausbeulung des Daches, die sich wie durch ein Wunder genau um meinen Körper gelegt hat. Mama muss auf der anderen Seite sein, denke ich verzweifelt. Ich kann sie nicht hören, aber sie muss dort sein. Der Wagen ist auf einer Seite liegen geblieben, mein Kindersitz steht jedoch weiterhin fest auf der Rückbank. Ich versuche meinen Hals so weit es geht zu strecken, um einen Blick an dem Autodach vorbei zu erhaschen, und kann die Lücke zwischen den Vordersitzen erkennen. Was ich sehe, lässt mich erstarren. Mamas Gesicht hat sich in eine weiße Scheibe verwandelt, ausdruckslose Augen gefangen in einem roten Spinnennetz. Ihr leerer Blick geht durch mich hindurch. »Mami«, flüstere ich leise. Ich kann nicht aufhören, sie anzusehen. Mein Nacken schmerzt in dieser Position, aber ich kann mich nicht von dem einzigen geliebten Wesen abwenden, das ich auf dieser Welt...