E-Book, Deutsch, 152 Seiten
Baatz Tagungsband zum Symposion Dürnstein 2021
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7439-2514-4
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Lebensmittel Bildung: was wir in unbeständigen Zeiten brauchen
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
ISBN: 978-3-7439-2514-4
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
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MICHAEL KÖHLMEIER „GEBT DER NATUR NUR DAS, WAS NÖTIG IST, SO GILT DES MENSCHEN LEBEN WIE DAS DES TIERS!" (Shakespeare, König Lear) Eröffnungsvortrag vom 4. März 2021 Sehr geehrte Damen und Herren! Wer um Gnade wimmert, das lehrt uns der Wilde Westen, bekommt Gnade nicht gewährt. Gnade gibt es vielleicht im Reich Gottes, und nicht einmal darüber sind sich die irdischen Verwalter desselben einig. Betrachten wir unsre Geschichte und schauen wir in andere Gegenden der Welt, dann werden wir frohen Herzens sagen: Bildung ist nicht Gnade, sie war nie eine Gnade, sie ist nie gewährt worden. Bildung ist vielleicht gefordert worden, was eine gewisse Strahlkraft von Rebellion hatte. Aber Hand aufs Herz: Sind Betteln und Fordern nicht eigentlich unwürdige Haltungen, beim einen den Kopf gesenkt, beim anderen die Faust über dem Kopf, gehören sie nicht einer vordemokratischen Gesellschaft an, einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft? Wer um Bildung bittet und wer Bildung fordert, begibt sich von vornherein in Unterwürfigkeit. Er akzeptiert, dass über ihm jemand steht, der die Bildung verwaltet, der ihre Inhalte bestimmt und der über ihre Verteilung wacht. Eine solche Einstellung ist unwürdig. Wahre Bildung wird weder erfleht noch gefordert. Bildung macht sich, wer Bildung will. Mündigkeit und Bildung gehen in eins. Deshalb – und hier bitte ich die Veranstalter dieses Symposiums um Verzeihung – erschnüffle ich in der Titelwendung von der Bildung als ein Lebensmittel den Weihrauchgeruch der frommen Defensive. Gebt uns Brot, sonst verhungern wir! Gebt uns Bildung, sonst gehen wir ein! – Nein! Daraus wird nichts. Das sehen wir. Dazu hat es nicht erst Corona gebraucht. Das ist der hilflose Versuch, mithilfe der Erzeugung von schlechtem Gewissen bei einer Obrigkeit Gnade zu erwirken. Gibt es ein Beispiel in der Geschichte der Menschheit oder in der Geschichte eines Menschen, wo das über einen illusorischen Augenblick hinaus gewirkt hätte? Ich kenne keines. Wer jammert, bekommt nichts. Höchstens zum Nichts dazu noch einen Tritt. Wer Macht hat, beweist sich diese gern, indem er einen Schwächeren kujoniert. Und dann die Frage: Brauchen wir Bildung? Brauchen wir sie wirklich? Oder sagen wir das wieder nur, weil wir meinen, es sei raffiniert, so zu reden? Was ist mit uns los, wenn wir keine Bildung haben? – Um diese Frage zu beantworten, sollten wir erst versuchen zu definieren – nicht, was Bildung ist, – sondern was wir darunter verstehen, und das heißt: was wir darunter verstehen wollen. Wir haben die Hoheit über die Definition dieses Begriffes. Es ist viele Jahre her, da hörte ich zum ersten Mal Mozarts 40. Symphonie, dirigiert von Karl Böhm – es war eine hoffnungslos zerkratzte Schallplatte. Schon der erste Satz erschien mir wie ein Wunder. Ich galoppierte in die Musik hinein, als säße ich auf einem Pferdchen und hätte nur halb so viel Gewicht. Nach hundertmal Abhören, Auflegen, Abhören, Auflegen war die Platte hin, und ich kaufte mir eine neue, wieder mit Karl Böhm als Dirigenten. Ich lernte das Musikstück bis in jeden Ton hinein kennen, ich konnte alle vier Sätze auswendig – aber ich begriff sie nicht. Diese Musik war das Substrat des Unbegreiflichen, dem wir in aller Kunst begegnen. Und auf einmal war ich von Stolz erfüllt, aber eben nicht von einem heiligen Stolz, der ja, allein des Wortes wegen, auf ein göttliches Wesen hinweisen würde; nein, ich war stolz, derselben Gattung anzugehören, der Mozart angehörte: Ich war stolz, ein Mensch zu sein. Aber spürte ich irgendetwas in mir, dem ich vertrauen durfte, auch ein besserer Mensch geworden zu sein durch diese Musik? Wenn ich ehrlich bin: nein. Hat die 40. Symphonie von Mozart mein Leben verändert? So eine Frage lässt sich nicht beantworten, weil ich ja nicht weiß, wie mein Leben ohne diese Musik aussähe. Halten Sie mich nicht für einen Pessimisten, wenn ich vermute, dass ich ohne Mozart wahrscheinlich ein sehr ähnliches Leben geführt hätte. Ich denke nämlich nicht, dass Musik – und ich werde gleich allgemein –, dass Kunst, dass Kultur – und ich bin so kühn, vor diesem Publikum zu argwöhnen –, dass Bildung den Charakter eines Menschen verändern kann. Wenn einer zu mir sagt, nein, du liegst falsch, Kultur, Bildung, Musik, Literatur, Malerei können sehr wohl einen Menschen neu formen, dann – da werden Sie mir recht geben – meint derjenige doch: Diese schönen Dinge können den Menschen besser machen. Denn wenn sie ihn nur anders machen, dann wären solche Überlegungen uninteressant. Es muss dabei schon etwas Gutes herausspringen, sonst wären die großen Kultur- und Bildungsbemühungen, die mit diesen Argumenten auffahren, für die Katz. Wir sind seit dem 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert Goethes, gewohnt, zwischen dem Wahren, Guten und Schönen Zusammenhänge zu sehen: Je mehr Wahres, desto mehr Gutes und Schönes, je mehr Gutes, desto mehr Schönes und Wahres, je mehr Schönes, desto mehr Wahres und Gutes. – Das 20. Jahrhundert hat diese Hoffnung nicht erfüllt. Ich brauche nicht die Beispiele berühmter Männer und Frauen der Geschichte aufzuzählen, die böse waren und doch die Kunst, die Musik, die Literatur liebten, die gebildet und dennoch Bestien waren. Umgekehrt gibt es jede Menge Männer und Frauen, von der berühmten Billa-Kassiererin bis zum Bundeskanzler, die bildungsfrei und dennoch gute oder zumindest clevere Menschen sind. Ich diskutiere mit einem Freund, er ist Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor. Ich sage, der Mensch muss Literatur, Kunst, Theater, Musik wollen, brauchen tut er dies alles nicht. Er antwortet: Nein, der Mensch braucht Kultur. Und er begründet es damit, dass wir in unserem Dauerkampf gegen die Natur untergehen würden, längst untergegangen wären, spätestens, nachdem uns Nietzsche den Tod Gottes gemeldet hat, wenn wir, die wir allein im Universum sind, nicht das Fähnchen unserer Identität hochgehalten hätten und immer hochhalten, und das könne einzig dadurch geschehen, dass wir stolz darauf sind, Menschen zu sein. Es gebe, so fährt er fort, weiß Gott genug, was wir angerichtet haben und immer noch anrichten, auf das wir – noch einmal: weiß Gott – nicht stolz sein können. Aber wenn uns ein „menschliches Wunder“ begegnet – wie eben Mozarts 40. Symphonie –, dann, so mein Freund, erkennen wir unsere Größe, unsere Einmaligkeit und unsere Freiheit. „Wieso Freiheit?“, frage ich. Er antwortet: „Weil es Freiheit bedeutet, nämlich äußerste Freiheit, wenn uns in solchen Werken der Kunst bewiesen wird, dass wir Menschen keinen Gott, keinen Kaiser, keinen Tribun brauchen, um uns selbst zu erheben. Das können wir nur selber tun!“ Das ist Pathos. Ich habe nichts dagegen. Aber man muss aufpassen. Pathos ist ein Hund. Pathos vereinnahmt ebenso, wie es ausschließt. Und Pathos lügt sehr oft. Oft ist Pathos ein Trick: Es transferiert ein Gefühl von seinem angestammten Adressaten auf ein anderes Feld – Beispiel: Die Liebe zum Vater wird als etwas Gutes, Edles, Schönes empfunden; hänge ich vor die Nation den Begriff Vater, mache sie also zum „Vaterland“, dann übertrage ich dieses Gefühl auf ein historisch politisches Gebilde, das im Ganzen betrachtet nur wenig mit meinen Gefühlen zu tun hat, und es ist durchaus ratsam, sich zu fragen, welchen Zwecken diese Übertragung dient. Ich habe nichts gegen Pathos, wenn es einem wahren Gefühl entspringt – dem Gefühl der Freude über die Großartigkeit des Menschen. Wenn ich Musik höre, wenn ich ein Gemälde betrachte – mir fällt ein, dass ich bei meinem nächsten Wienbesuch unbedingt wieder das Kunsthistorische Museum besuchen muss, um mir die Bilder von Pieter Bruegel anzusehen! -,wenn ich eine Novelle lese, die mich in die innerste Herzkammer eines Menschen führt – zum Beispiel Billy Budd von dem amerikanischen Autor Herman Melville –, oder wenn ich ins Theater gehe, dann kann es sein, dass ich, ohne ihn zu begreifen, ahne, dass unser Leben einen Sinn hat und dass wir es sind, die den Sinn stiften, und dies gerade dann, wenn wir ihn nicht begreifen. Aber das macht uns noch nicht zu besseren Menschen. Und wer keinen Sinn im Leben sieht, ist nicht automatisch ein schlechterer Mensch. Ich kenne Männer und Frauen, die keinen Sinn im Leben und in der Welt sehen und dennoch nicht verzweifeln, nicht eingehen und nicht seelisch verhungern, die ausgeglichen und fröhlich sind. Ich warne davor: Es ist arrogant zu sagen, Bildung sei ein Lebensmittel, also ein Mittel, ohne das wir, und sei es auch nur metaphorisch, verhungern. Denn ohne es auszusprechen, degradieren wir all jene, die ungebildet sind, zu niederrangigen Wesen. Und es zieht nicht, lauthals zu fordern, gebt ihnen Bildung. Der erwachsene Mensch ist in der Lage, sich selbst zu bilden, heute besser denn je. Ich kann mir über gutenberg.de eine riesige Bibliothek gratis herunterladen,...