Buch, Deutsch, Band 128, 207 Seiten, Format (B × H): 149 mm x 213 mm, Gewicht: 350 g
Reihe: Herrenalber Protokolle
Beiträge zu 90 Jahren Weltanschauungsarbeit in der Evangelischen Landeskirche in Baden
Buch, Deutsch, Band 128, 207 Seiten, Format (B × H): 149 mm x 213 mm, Gewicht: 350 g
Reihe: Herrenalber Protokolle
ISBN: 978-3-89674-132-5
Verlag: Evangelische Akademie
Weitere Infos & Material
Vorwort
Ralf Stieber
Von der apologetischen Arbeit zur religionswissenschaftlichen Methodenvielfalt
Aspekte und Zeitzeugnisse zu über 90 Jahren Weltanschauungsarbeit in der Evangelischen Landeskirche in Baden
Jan Badewien
Von landeskirchlicher Hegemonie zum „Markt der Religionen“
Wandlungen in der kirchlichen Apologetik von 1995–2012
Matthias Pöhlmann
Zwischen Konfrontation und Dialog
Zu Auftrag und Geschichte evangelischer Apologetik
Reinhard Hempelmann
Dialog- und Auskunftsfähigkeit stärken
Zu den Aufgaben evangelischer Apologetik im religiösen Pluralismus
Matthias Kreplin
Warum leistet sich die Landeskirche eine Fachstelle für Weltanschauungsfragen?
Katharina Neef / Claudia Wustmann
Vorurteile gegenüber Sekten
Gernot Meier
Von der apologetischen Zentrale über die Sektenjäger und Spezialisten für religiöse Gegenwartskultur zu Analysten fluider Religion in der Zukunft
Verfasser
„Wie, bitte, heißt die Gemeinschaft?“ – unter diesem Titel sollte 2014 90 Jahre Weltanschauungsarbeit in Baden gefeiert werden. Denn im Jahre 1924 war seitens der Badischen Landeskirche eine Arbeitsstelle eingerichtet worden, die sich im weitesten Sinne mit Weltanschauungen befasste. Das Interesse an der Veranstaltung war groß, die Akademietagung musste jedoch wegen eines Streiks bei der Deutschen Bahn abgesagt werden und fand dann erst ein Jahr später statt. Nach weiteren nicht eingeplanten Verzögerungen kann ich nun die Dokumentation der Tagung vorstellen, noch rechtzeitig vor 100 Jahren Weltanschauungsarbeit in Baden.
a) Der Blick zurück mit dem Fernglas
Historiker und Historikerinnen suchen oftmals nach besonderen Papieren und Dokumenten, Gründungsurkunden, zentralen Personen, markanten Daten oder auch maßgeblichen Texten. Diesen Weg wollte ich bei der Aufarbeitung der Geschichte der Weltanschauungsstelle auch gehen und ich wählte zunächst einen diachronen und historisch geprägten Ansatz. Doch nach kurzer Zeit wurde klar, dass dieser Zugang in seiner ganzen Größe zu eindimensional ist. Es würde zwar sicherlich ein gewünschtes „Standard-Mainstream-Ergebnis“ erbracht werden, welches aber mit der vielgestaltigen Arbeit nur noch wenig zu tun hätte. Nicht weil es nicht genug Quellen oder Zeitzeugen gegeben hätte. Der Blick zurück mit dem Fernglas, der punktuell Fernes nah erscheinen lässt, zeigte vor allem immer wieder auf, dass es eben nicht „maßgebliche“ Personen waren, sondern jeweilige weltanschauliche, kirchliche oder gesellschaftliche Diskursformationen brachten die jeweiligen Personen, ihre Positionen und Texte hervor. Dies soll keinesfalls die Arbeit, das Engagement und den Mut der Personen schmälern und die zuweilen z. B. hinsichtlich zukünftiger kirchlicher Strukturen maßgeblichen Innovationen zugunsten eines deterministisch konzipierten Diskurses verkleinern. Das wäre an dieser Stelle ein Kategorienfehler.
So kann die von Ralf Stieber klassisch aufgebaute Dokumentation zwar als „Geschichte“ von Personen und einer Einrichtung gelesen werden. Diachron aufgebaut zeigt sie mit ihren Dokumenten aber immer wieder implizit auf, dass die gesamte weltanschauliche Arbeit ganz nah war an dem was man damals z. B. „außerkirchliche Strömung“, später religiöser Zeitgeist und heute Gegenwartskultur benennt. Dies kann man sehr gut an den Metaphern in den Publikationen der Leiter der Weltanschauungsstelle sehen: Sie operierten mit Zentrum und Peripherie, mit „Außen“ und „Innen“. Sie verteidigten Grenzen und manche sahen sich gleichsam in einem Wächteramt der Kirche. Aber die Akteure repräsentierten gleichsam zeitgebundene Positionen hinsichtlich der Fragen: Was ist eigentlich eine Religion (und eine „Sekte“), was sind „richtige“ Gottesdienste, was sind christliche Kasualien und was sind „nur“ Rituale? Und, darauf weist Dr. Jan Badewien hin: Es ist eine Frage der kirchlichen Identität und Identitätsfindung: Was geht noch und was geht nicht mehr.
Diachron baut auch Dr. Matthias Pöhlmann seinen Vortrag auf und zeigt in anschaulicher Weise durch seinen Blick in die Geschichte der Apologetik die Notwendigkeit einer sehr breiten Öffentlichkeitsarbeit: „Kirchliche Weltanschauungsarbeit ist mitunter der zentralste Bereich kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit.“ [...] Denn „Apologetik und Mission gehören zusammen: Apologetik ist eine Lebensäußerung der Kirche. Sie dient der Kommunikation des Evangeliums und hat daher auch einen missionarischen Auftrag.“
b) Der Blick in die Gegenwart (ohne Fernglas)
„Was glauben die anderen?“ fragt Dr. Reinhard Hempelmann und weist in seinem Artikel auch gleich auf die Rückbezüglichkeit der Frage hin: Was ist christlich und was ist wohl eine christliche Identität? Diese Fragen sind für viele Akteure in der weltanschaulichen Arbeit zentral. Denn in der Konstruktion des Anderen konstruiere ich mich implizit mit. Vor allem hat Dr. Michael Nüchtern diesen Punkt immer stark gemacht und viele seiner bis heute brisanten kirchentheoretischen Reflexionen hat er im Kontext der weltanschaulichen Arbeit geschrieben. Gleichsam in der Kontaktzone zwischen Gesellschaft und Kirche auf dem Feld der Religion(en). Diese Kontaktzonen haben im Laufe der Jahre neue Aushandlungsfelder bekommen, in denen immer neu z. B. um Deutungshoheit, Macht und Geld gerungen wird, analytisch gefasst als soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital. Welche Kapitalsorte lässt sich mit einem Gewinn in eine andere Kapitalsorte transformieren? Für den Bereich der Religionen und Weltanschauungen bedeute das:
„In der Praxis, d. h. innerhalb eines jeweils besonderen Feldes sind inkorporierte (Einstellungen) wie objektivierte Merkmale
der Akteure (ökonomische und kulturelle Güter) nicht allen gemeinsam und gleichzeitig effizient. Vielmehr legt die spezifische Logik eines jeden Feldes fest, was auf diesem Markt Kurs hat, was im betreffenden Spiel relevant und was effizient ist, was in Beziehung auf dieses Feld als spezifisches Kapital und daher als Erklärungsfaktor der Formen von Praxis fungiert.“
Hier machen sich neue Felder in der Weltanschauungsarbeit auf: Im Spiel der Aushandlungsprozesse gibt es neue Regeln, die das Feld bestimmen und diese Aushandlungsprozesse wirken auf den breiten Kontaktzonen in sämtliche Arbeitsbereiche. Dr. Matthias Kreplin hat das in seinem Beitrag sowohl für die Einzelberatung, die „Klärung und Selbstvergewisserung“ als auch als Ort konstuiert, bei dem die Dynamik religiöser Transformationen beobachtet wird. Dies aber nicht nur im Hinblick auf eine Abgrenzung, sondern: Nach meinem Eindruck ganz im Sinne Michael Nüchterns auch in der Frage: Was bedeuteten die unterschiedlichen Formen von Religiosität und z. B. neue Vergemeinschaftungsformen ekklesiologisch für uns als Kirche?
Innerhalb der Akademietagung sollte es gleichsam auch einen Blick von „außen“ geben – wenn dies überhaupt möglich ist. Hier haben Katharina Neef und Claudia Wustmann u. a. am Terminus Sekte, dem Verhältnis von Kirchen und Konfessionen und den jeweiligen Zuschreibungen sehr interessante Fragen aufgezeigt.
c) Der Blick in die Zukunft (mit neuem Fernglas)
Netze, Knoten, Fährten, die kaskadenartige Kommunikation innerhalb fluider Formen von Religion machen es beim Blick in die Zukunft notwendig ein anderes Fernglas zu nehmen. Ein Fernglas, dass nicht nach Gemeindeleitern, maßgeblichen Personen oder „hochkarätigen“ Akteuren sucht, sondern danach, nach welchen Regeln diese gebildet werden, warum eine spezielle Diskursformation diese religiösen Akteure erscheinen lässt. Ein Fernglas, dass fähig ist innerhalb kommunikativer Prozesse (Menschen, Gedanken, Websites, Lieder, materiale Religion usw.) Bedeutungszuschreibungen und Interpretationsmuster wahrzunehmen. Akteure (auch technischer Art) produzieren Sinn- und Deutungszusammenhänge und bieten diese für personale Bewährungsmythen an. Fan-Kulturen sind hier ein gut erforschtes Beispiel.
Apologie wird seine Gestalt oder Textur in gleicher Weise verändern, wie sich die Gesellschaft ändert. Sie kann und sie muss das diagnostische Potential der Kulturwissenschaften und der Theologie besser und virtuoser verbinden und nutzen müssen als das viele andere Disziplinen in den Kirchen tun: Denn die Arbeit befasst sich im Kern mit grundsätzlichen Veränderungen (!) in der religiösen Landschaft, die aber kaum im Mainstream sichtbar sind, obwohl sie genau dort ihre größte Wirksamkeit entfalten. Wer nicht weiß, wie sich Religion und Gesellschaft verändern werden, kann letztlich nicht für die Zukunftsgestaltung der Kirche wirksam sein. Dies ist auch der Punkt, der viele Personen in der Weltanschauungsarbeit über Baden hinaus verbindet, die Ahnung, dass durch Ereignisse, deren Erscheinen oftmals schon lange vorher wahrgenommen und erahnt wird (z. B. durch Veränderung von Zeichen, Spuren, des Sprachduktus usw.), Dispositionen verschwinden, die unser Denken bis ins Innerste bestimmen.
Dr. Gernot Meier