E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Barea Wien
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-99065-065-3
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Legende und Wirklichkeit
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-99065-065-3
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
In ihrer großen Kultur- und Stadtgeschichte beleuchtet Ilsa Barea Wien von allen Zeiten und Himmelsrichtungen. Liebevoll, aber auch kritisch schreibt sie über die großen und kleinen Momente der lebenswertesten Stadt der Welt, über Kunst und Kultur, architektonische und intellektuelle Höchstleistungen, über den Glanz und Verfall der Epochen und immer wieder über die Menschen, die Wien so einmalig gemacht haben. Ilsa Barea war als österreichische Journalistin im Spanischen Bürgerkrieg, emigrierte nach Frankreich und schließlich nach England. In ihrem Herzen ist sie aber immer eine leidenschaftliche Wienerin geblieben. Begleiten Sie Ilsa Barea auf einer unterhaltsamen wie lehrreichen Zeitreise durch Wien.
Ilsa Barea-Kulcsar (1902-1973 in Wien). Studium an der Staats- und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs kam sie im November 1936 nach Madrid, wo sie in der Zensurstelle für die Auslandspresse tätig war. 1938 heiratete sie den spanischen Schriftsteller Arturo Barea und ging mit ihm ins Exil nach Frankreich. In Paris begann sie den Roman 'Telefónica', den sie 1939 in England fertigstellte. Dort arbeitete sie als Übersetzerin, u.?a. für den Abhördienst der BBC. 1965 kehrte sie nach Wien zurück, schrieb für Zeitungen des ÖGB und fungierte als Bildungsfunktionärin der SPÖ.
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KAPITEL I
Die Anfänge Wiens
Der einfachste Weg, ein Verständnis für Wien zu entwickeln, besteht darin, von einem der westlich der Stadt gelegenen Hügel aus den Blick über das Donautal schweifen zu lassen und den so gewonnenen Eindruck der Landschaft in geschichtliche Begriffe zu übersetzen. Der Leopoldsberg eignet sich als Aussichtspunkt. Er ist das letzte Glied der Hügelkette und für seinen steilen, zum Fluss abfallenden Hang, die große Kirche und seine Weinberge bekannt. Auf dem Gipfel erbaute Leopold III., Markgraf aus dem Haus der Babenberger und Herrscher über die Mark Österreich, zu Beginn des 12. Jahrhunderts eine Burg. Wien – einst ein kleiner römischer Außenposten namens Vindobona – war damals nicht mehr als ein Fischer- und Winzerdorf, aber innerhalb von vierzig Jahren verwandelten die Babenberger die Siedlung in eine Grenzfestung und ihren herzoglichen Sitz. So entstand die Stadt Wien. Fünfhundert Jahre später bildete Wien das unüberwindliche Hindernis auf dem Weg der türkischen Invasoren durch Europa. Am 12. September 1683 feierten dreiunddreißig Fürsten und Generäle, die eine internationale Armee befehligten, die Messe vor der Burgruine Leopoldsberg, bevor sie ihre bunt zusammengewürfelten Truppen den Hang hinunterführten und die türkische Belagerung durchbrachen. Die Türken zogen sich nach dieser Niederlage für alle Zeit in Richtung Osten zurück. Wer den Cobenzl besteigt, wird ebenfalls mit einem herrlichen Blick über Wien belohnt. Der Cobenzl ist eine kleinere Erhebung am Hügelrücken und benannt nach Philipp Graf Cobenzl, einem wichtigen Förderer Mozarts. Der Graf kaufte das Anwesen am Cobenzl von den Jesuiten kurz vor der Auflösung ihres Ordens, baute eines ihrer Häuser in ein Château um und legte einen modischen »englischen« Park an. Dort oben verbrachte Mozart seine letzten sorgenfreien Tage im Sommer 1781, nachdem er seine Dienstbarkeit am Hof des Erzbischofs von Salzburg aufgekündigt hatte und sich in das abenteuerliche und glanzvolle Getümmel Wiens stürzen wollte. Viel später wurde das kleine Schloss in ein nicht wiederzuerkennendes Touristenparadies umgebaut. Nur die Hotelterrassen zeugten weiterhin von dem verblichenen Glanz. Unter ihnen breitete sich die Stadt wie ein Teppich aus.1 Kahlenberg und Leopoldsberg im 17. Jahrhundert, Matthäus Merian der Ältere Als weiterer Aussichtspunkt bietet sich der Kahlenberg an, der Hausberg von Wien, ein beinahe so fixer Bestandteil der Wiener Tradition wie der »Stephansturm«, wie ihn Rosa Mayreder in ihrer typisch wienerischen Autobiografie nennt. Der Kahlenberg trägt seinen eigenen zusammengeflickten Mantel der Lokalgeschichte. Das auf seiner Kuppe thronende Kloster wurde 1683 von den Türken niedergebrannt; es wurde restauriert, nur um hundert Jahre später von Kaiser Joseph II. geschlossen und versteigert zu werden. Ein Unternehmer verwandelte die Zellen der kamaldulensischen Mönche in Gästezimmer für Leute von Rang, die ihren Lebensabend in einer gemütlichen Eremitage verbringen und das traditionelle Wiener Picknick unter Buchen genießen wollten. Im Jahr 1795 bezog Madame Vigée-LeBrun ein Zimmer, eine Malerin, die vor der Französischen Revolution und den folgenden Kriegen geflohen war. Sie bewunderte nicht nur die schöne Aussicht auf die Donau, »die von Inseln, deren reicher Pflanzenwuchs sie noch um vieles verschönerte, unterbrochen war«2, sondern war auch entzückt von der »Klugheit« der alten Mönche, »sich stets hochgelegene Wohnsitze auszusuchen«3. Der Kavalier, der ihr diesen idyllischen Rückzugsort empfohlen hatte, war Fürst de Ligne, ein belgischer Wahlwiener und erfolgloser General dreier Generationen von Habsburgern, der all seine Kraft bis zum Vorabend seines Todes darauf verwendete, Bonmots zu prägen, darunter das vielfach zitierte Epigramm des Wiener Kongresses: Le congrès danse, mais il ne marche pas (Der Kongress tanzt, aber er geht nicht weiter). Der Fürst fristete seinen ärmlichen, spröden Lebensabend nahe dem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und Treibens in einem rosafarbenen Rokoko-Bürgerhaus mit Blick über die westlichen Stadtmauern Wiens. Er besaß auch einen kleinen Landstrich – am Hang des Kahlenbergs, war er doch ein wahrer Connaisseur. Eine Generation später schrieb der bedeutendste österreichische Dichter, Franz Grillparzer, einen mittelmäßigen Zweizeiler in das Album eines Freundes, an dem kein Buch über Wien vorbeikommt: »Hast du vom Kahlenberg das Land dir rings besehn, So wirst du, was ich schrieb und was ich bin, verstehn.« Diese Zeilen sind nicht nur die kondensierte Form einer banalen Empfindung oder einer persönlichen Halbwahrheit. Sie erzählen etwas über Wien und die Wiener, das nicht sehr einfach zu vermitteln ist. Niemand war sich der widersprüchlichen Elemente in seiner Stadt und seinem Land schmerzhafter bewusst als Grillparzer. Das zeigen seine verbitterten Tagebucheinträge, die zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieben, und das zeigen seine Stücke, die er in seiner Schreibtischlade unter Verschluss hielt. Er erkannte die Konflikte in seiner eigenen gespaltenen Persönlichkeit, diagnostizierte sie in den Spannungen unter der glatten Oberfläche der Bürokratie und des bürgerlichen Komforts, an dem er selbst Anteil hatte; und er sah, wie sich die Gegensätze in Harmonie auflösten, nach der er sich sehnte, wenn er auf die liebgewonnene Landschaft hinabblickte. Im Süden, am äußersten Rand des flachen Beckens, ragen die Gipfel der letzten Ausläufer der Alpen empor. Sie sind so weit entfernt, dass ihr grauer Kalkstein in rauchblauem Farbton erscheint, und so nah, dass das Glitzern der Sonne in den ewigen Schneefeldern an trockenen, klaren Tagen sichtbar ist. Die antiken Straßen in Richtung Steiermark, Kärnten und Italien führen in diese Richtung. Von dort aus wurde der Sauerteig der mediterranen Zivilisation von italienischen Zuwanderern nach Wien gebracht, der das träge Tempo der Stadt beschleunigte. Doch es gibt noch eine andere, trügerische Botschaft, die der südliche Horizont überbringt: Die hohen, in Sichtweite liegenden Berge erinnern an Abgeschiedenheit und Größe. Ein Blick auf die fernen Alpen hatte die Kraft, die behagliche, selbstgefällige Eingrenzung des Alt-Wien aufzubrechen. In Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer, dessen Schauplatz das Wien der 1830er Jahre am Höhepunkt der bürgerlichen Häuslichkeit ist, lässt der junge Held das Bild der fernen Berge auf sich einwirken, lange bevor er sich auf den Weg macht, die Felsen und schneebedeckten Gipfel zu erobern: »Auf einer Stelle der Basteien unserer Stadt kann man zwischen Häusern und Bäumen ein Fleckchen Blau von diesem Gebirge sehen. Ich ging oft auf jene Bastei, sah oft dieses kleine blaue Fleckchen«4. Viele Generationen von Wiener Kindern bekamen während eines wenig aufregenden Familienausflugs am Kahlenberg ein erstes Gefühl von den großen Bergen – die mehr als »ein Fleckchen Blau« waren! – und verloren nie ihre Sehnsucht nach ihnen. Östlich der Stadt breitet sich eine weite Ebene aus. Jenseits der Donau, ihren Inseln und verschlungenen Uferwäldern, erstreckt sich das Tiefland bis Ungarn und verschwindet in einem Nebel, der sich nie lichtet. Aus diesem strömten Invasoren aus Asien, Hunnen, Awaren, Magyaren, Türken, bis sich die Magyaren in den reichen Ebenen niederließen und die Türken vor den Mauern Wiens zurückgeworfen wurden. Aus Ungarn kamen später fettes Vieh, das weißeste Mehl, starke Weine und unbekannte Fische, roter Paprika, synkopische Rhythmen und östliche Musikinstrumente, edle Pferde und ganze Sippen von magyarischen Adeligen, die den Habsburgern am Hof, in der Armee und in der Verwaltung dienten, aber keine österreichische Identität entwickelten; sie bauten barocke Häuser in Wien und dominierten die feine Gesellschaft, ohne »echte Wiener« zu werden. Die Donau ist Europas traditionelle Handels- und Kriegsroute in den Nahen Osten. Zu Zeiten Metternichs wurde immer noch scherzhaft gesagt, der Orient beginne hinter der letzten Mautstelle Wiens. Nordöstlich der Donau, die sich nach Südosten geradlinig durch die Landschaft gräbt, liegt das Marchfeld, ein landwirtschaftliches Anbaugebiet, das durch die blassblaue Linie der Kleinen Karpaten und der Hügel Mährens begrenzt wird. Graf Rudolf von Habsburg, der von den deutschen Fürsten zum König des Römisch-Deutschen Reiches gewählt worden war, besiegte 1278 am Marchfeld den großen König der Tschechen, Premysl Ottokar II. von Böhmen. Diese Schlacht war von europäischer Bedeutung, denn sie entschied über die Zukunft des Heiligen Römischen Reiches und über die Zugehörigkeit Wiens zum Hause Habsburg. (König Ottokars Glück und Ende war das erste kontroversielle »patriotische«...