E-Book, Deutsch, Band 9, 248 Seiten
Baschera / Berlis / Kunz Gemeinsames Gebet
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-290-17229-9
Verlag: TVZ Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Form und Wirkung des Gottesdienstes
E-Book, Deutsch, Band 9, 248 Seiten
Reihe: Praktische Theologie im reformierten Kontext
ISBN: 978-3-290-17229-9
Verlag: TVZ Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Der Gottesdienst der im Namen Jesu Christi versammelten Gemeinde ist gemeinsames Beten. Dieses gemeinsame Beten hat immer eine Form und entfaltet immer eine Wirkung. Was macht aber die Form der Liturgie aus und worin besteht ihre Wirkung? In welcher Weise ist gemeinsam gefeierter Gottesdienst auf lange Sicht formativ für das Leben des oder der Einzelnen, der Gemeinde, der ganzen Kirche? Diese zentralen Fragen der Liturgik werden in den Beiträgen dieses Bandes im Dialog der verschiedenen konfessionellen Traditionen diskutiert. Vertreten ist unter anderem auch die Anglikanische Kirchengemeinschaft, die 2012 das dreihundertfünfzigste Jubiläum ihrer Agende, des 'Book of Common Prayer', feierte.
Dr. phil., MTh, Jahrgang 1980, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
|39| Der evangelische Gottesdienst als gemeinsames Gebet
Fundamentalliturgische und liturgiepraktische Herausforderungen Alexander Deeg 1. Gottesdienst und gemeinsames Gebet oder: Die grundlegende Aporie des evangelischen Gottesdienstes
1.1 Der Gottesdienst – ein Gebet? Eine gottesdienstliche Situation sei eingangs geschildert. Sie findet statt in der Leipziger Nikolaikirche, die seit den 1980er Jahren bis heute die Kirche der Montagsgebete ist. Nicht selten ist das derzeit meine gottesdienstliche Welt. Es ist Sonntag, später Vormittag. Eine Mischung aus Touristen auf den Spuren der friedlichen Revolution, Studierenden, die teilweise noch ein wenig müde in die Welt schauen, älteren Frauen, Professorenkollegen versammelt sich zum Universitätsgottesdienst. Es schlägt 11.15 Uhr, und nach den Glocken ertönt die Orgel. Schon nach wenigen Takten drehen sich viele um und blicken nach oben. Dort spielt der Universitätsorganist – bezaubernd, furios. In der sich anschließenden Begrüßung durch den Liturgen erfährt man auch, was wir eben gehört haben. Die Angabe ist genau: Komponist, Tonart, Nummer im Werkeverzeichnis werden erwähnt. Dann werden noch einige weitere Details zum musikalischen Programm verlesen. Worum es thematisch in der Predigt gehen wird, wird auch noch gesagt und schon ein wenig ausgeführt. In der zweiten Reihe links sitzt ein Herr, der einen Block auspackt und schon jetzt die ersten Notizen macht (weitere werden während der Predigt folgen). Am Ende der, wie ich nun bemerke, doch recht langen Begrüßung erfährt die Gemeinde dann auch noch, dass dies jetzt alles «im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes» geschieht. So etwa geht es weiter. Erhebende Musik, viele Worte – durchaus kluge – werden geboten, es kommt zu weiteren Notizen des Herren vorne links, manches Gähnen der Studierenden, gelegentlicher kritischer Blick der Professoren. Manche Touristen, denen es dann doch zu lange wird, verlassen die Veranstaltung noch vor der erneut furiosen Schlussmusik wieder. Draußen loben viele den Organisten und andere sagen, dass das doch mal wieder ein «schöner Gottesdienst» gewesen sei. War es das? War diese eigentümliche Mischung aus guter Musik und propositional-argumentativem Diskurs mit einigen Versatzstücken einer traditionellen |40| Liturgie ein schöner Gottesdienst? Wenn das Gottesdienst war, wie weit und dehnbar ist dann unser Begriff davon geworden? Freilich: Weder sind alle Begrüßungen im Leipziger Universitätsgottesdienst so ausführlich, noch ist dieser exemplarisch für den evangelischen Gottesdienst dieser Tage. Aber ich frage, ob sich in dieser Beobachtung nicht zugespitzt ein Problem zeigt, das m. E. als das Problem des evangelischen Gottesdienstes (jedenfalls im deutschsprachigen Bereich und landeskirchlichen Kontext) bezeichnet werden könnte. Ich spreche von der Verdrängung des Gebets und der Homiletisierung der Liturgie.109 1.2 Luthers Predigtbegeisterung als liturgisches Problem Das Book of Common Prayer, das 2012 seinen 350. Geburtstag feierte, ist nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach auf erstaunliche Weise ein Buch des gemeinsamen Gebets. Gebetstexte – biblische wie außerbiblische – prägen die traditionelle Liturgie der anglikanischen Kirche. Vielfach stammen sie unmittelbar aus der Bibel, vielfach sind sie voll mit biblischen Worten und Bildern oder reich an Wendungen, die biblische Sprache aufnehmen. Bei Martin Luther selbst und in der Folge auch in weiteren Kreisen der deutschsprachigen Reformation hat sich ein anderes Paradigma in den evangelischen Gottesdienst eingetragen. Es ist und bleibt ein liturgietheologisch wie liturgiepraktisch bedauerlicher Umstand, dass Luther selbst an keiner Stelle ausführlicher über den Gottesdienst nachgedacht, ihn genauer reflektiert hätte.110 So finden sich vereinzelte Aussagen – von den 1520er Jahren bis in die 1540er Jahre –, die kaum eine Konsistenz aufweisen und dazu führen, dass mit Verweis auf Luther beinahe alles begründet werden kann, was liturgisch möglich scheint – vom Festhalten an der geprägten Messform und einem damit verbundenen liturgischen Traditionalismus bis hin zum engagierten Plädoyer für die Freiheit von allen liturgischen Formen im Sinne der «dritten Gestalt» des evangelischen Gottesdienstes, die Luther in der Vorrede zur «Deutschen Messe» aus dem Jahr 1526 andeutet.111 Die für den evangelischen Gottesdienst nachhaltigste Problematik ergibt sich m. E. aus einer Begeisterung des Reformators: seiner Begeisterung für die Predigt.112 Bereits in einer seiner ersten Überlegungen zum Gottesdienst, seiner Schrift «Von ordenung gottis diensts ynn der gemeine» aus dem Jahr 1523 bemerkt Luther: |41| «Darumb wo nicht gotts wort predigt wirt, ists besser, das man widder singe noch leße, noch zu samen kome.»113 Die bloße Lektüre der Bibel genügt Luther nicht (wobei diese freilich im mittelalterlichen Gottesdienst in der Regel auf Latein erfolgte!). Im Gegenteil bezeichnet er in derselben Schrift das bloße Verlesen des Wortes Gottes als den «erigste[n] mißbrauch», der in den Gottesdienst gefallen sei.114 Von der Predigt erwartet Luther, dass sich das Evangelium verbreite, dass die Eindeutigkeit des Wortes, das die Sünde aufdeckt und die Gnade zuspricht, laut werde. Die Offenheit und Mehrdeutigkeit der liturgischen Vollzüge (auch der Lesung aus der Bibel!) will Luther in die Eindeutigkeit der Zusage verwandeln. Daraus ergibt sich die Bedeutung des Predigtamtes für Luther und für die Reformatoren in seinem Gefolge. Freilich folgt daraus auch eine nicht unwesentliche Verschiebung: Die Predigt wird zum Zentrum, das sich von dem «Rest» des Gottesdienstes abhebt.115 Der Gottesdienst ist – anders formuliert – im Kern Verkündigung. Für Luther heißt dies auch: Lehre. «Weyl alles Gottis diensts das groessist und furnempst stuck ist Gottis wort predigen und leren […]», so schreibt Luther 1526 in der Deutschen Messe.116 Es liegt konsequent auf dieser Linie, wenn Philipp Melanchthon – vier Jahre später – in der Apologie der Confessio Augustana formuliert: «Atque praecipuus cultus Dei est docere evangelium».117 Auch wenn man bedenkt, dass der Begriff «docere» bei Melanchthon keineswegs nur im Sinne des «Belehrens» oder «Unterweisens» verstanden werden kann, sondern auch den Aspekt des «Zeigens» oder «Benachrichtigens» enthält, so wird mit dieser Bestimmung doch eine Tendenz deutlich, die sich vor allem mit Aussagen Luthers in der Deutschen Messe deckt. Hier finden sich Beschreibungen des Gottesdienstes, die diesen – verkürzt gesagt – als bloßes Mittel zum Zweck erscheinen lassen. Der Zweck liegt darin, die «eynfeltigen leyen»118 zu unterrichten mit dem Ziel einer «offentliche[n] reytzung zum glauben und zum Christenthum».119 Obwohl die lutherische Reformation entschieden an der «Messe» als überlieferter Form des Gottesdienstes festgehalten und dadurch gerade auch den Anspruch auf die Apostolizität und Kirchlichkeit des Gottesdienstes untermauert |42| hat,120 ergibt sich durch die Betonung der Predigt doch eine wesentliche und für das Verständnis des Gottesdienstes nachhaltige Verschiebung. Auch wenn Luther selbst darüber nicht eigens reflektiert, war ihm die Tragweite dieser Predigt-Fokussierung im Wechselspiel mit der Beibehaltung der überkommenen Mess-Struktur wohl bewusst. So überlegt Luther noch 1523, ob die Predigt insgesamt vor der Messe gehalten oder als integrierter Bestandteil in die Messe einwandern soll.121 Dass das Ganze der «Messe» einen neuen Akzent durch das Schwergewicht der Predigt erhält, war klar spürbar – und Karl-Heinrich Bieritz spricht zurecht von einem neuen «Vorzeichen», das die Messe/der Gottesdienst durch die Wort-Betonung Luthers erhält.122 In der Confessio Augustana heißt es: «So ist auch in den offentlichen Ceremonien der Messe keine merklich Anderung geschehen, dann daß an etlichen Orten teutsch Gesänge, das Volk damit zu lehren und zu uben, neben lateinischem Gesang gesungen werden, sinetemal alle Ceremonien furnehmlich darzu dienen sollen, daß das Volk daran lerne, was ihm zu wissen von Christo not ist.»123 Inzwischen ist das Problem einer pädagogisch funktionalisierten Liturgie im evangelischen Kontext vielfach beobachtet worden. Joachim Stalmann etwa warnte immer wieder vor dem Missverständnis, «das Fest der Gegenwart des Auferstandenen in der Gemeinde mit der Lehrveranstaltung eines amtierenden Theologen zu verwechseln. Dieses Mißverständnis erreicht in der Aufklärung einen Höhepunkt. Es sitzt aber tief in jedem evangelischen Theologenhirn.»124 Wahrscheinlich ist es nicht falsch, diese Fokussierung auf eine pädagogisch orientierte Liturgie mit einem Wandel der gesellschaftlichen Leitparadigmen in Verbindung zu bringen, wie sie vor allem Hans Ulrich Gumbrecht in seinem kleinen, m. E. aber beeindruckenden Buch «Diesseits der Hermeneutik» benennt. Gumbrecht spricht von dem Umbruch von einer mittelalterlichen Präsenz- zu einer neuzeitlichen Sinnkultur.125 War die mittelalterliche Kultur von der Gegenwart der |43| Dinge und von der Körperlichkeit der Interaktion geprägt, so gehe es neuzeitlich um die geistig-intellektuelle Distanz, um die Entzauberung der Dinge und um das Verstehen. Der Literaturwissenschaftler Gumbrecht erwähnt selbst das Beispiel des Abendmahls: Wurden Leib und Blut Christi im...