E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Baum Stillleben
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99062-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-492-99062-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Mein Freund und ich flogen nach Israel. Wir lagen auf dem Boden eines Airbnb-Appartements, das im Internet viel größer ausgesehen hatte, und schwiegen. Ich hätte gerne etwas gesagt, denn wir schwiegen zu viel in diesem Appartement. Ich hätte gerne etwas gesagt, aber da war nichts. Das Schweigen war wie eine Treppe hoch in den Wahnsinn, und der Rhythmus unseres Atems machte die Stufen. Ich ging auf die Dachterrasse und sah in den Himmel, der rosafarbene Streifen hatte. Es dämmerte. Ich wollte rauchen, Wodka trinken und Drogen nehmen, aber das ging nicht. Das wären unter normalen Umständen die Mittel meiner Wahl gewesen. Oder Kleider kaufen, aber das ging auch nicht, denn ich wusste nicht, für welchen Körper. Ich ging zurück und legte mich wieder neben ihn. Ich hörte den Takt unseres Atems und konnte nicht mehr. Mit einer Stimme, die klang, als würde sie beim Sprechen umknicken, machte ich ihn darauf aufmerksam, dass sich soundso viel Prozent (es war eine recht hohe Zahl) der Paare im ersten Jahr nach der Geburt ihres Kindes trennen würden. Dass man von Kindern erst mal unglücklich wird (auch da gibt es eine Studie). Dass er es vollkommen vergessen könne, intensiv an seiner Kunst zu arbeiten. Dass er keine Ahnung habe, worauf er sich da einlasse, und mit Sicherheit unterschätzte, wie hart es werden würde. Er sagte, dass ihm die Studien egal seien. Und seit wann interessierst du dich überhaupt für Studien? Seit wir nicht mehr wissen, was uns erwartet. Seit ich weiß, dass wir unser Leben bald nicht mehr im Griff haben werden. Er sagte, er unterstütze mich, egal, wie ich mich entscheiden würde, und nannte das, was in meinem Bauch war, den kleinen Flips. Ich erschreckte mich, war aber auch froh darum, denn ich hatte gehört, dass Babys schlechte Vibes schon im Mutterleib mitbekommen. Wir gingen zum Strand und schwiegen weiter. Das Schweigen wurde immer lauter, und ich schämte mich dafür. Das Schweigen erzählte klagend, aber ganz ohne sich zu schämen, von meiner Not und seiner Ratlosigkeit. Warum war das Problem bei mir (das heißt literally in mir) und er nur derjenige, der mich »unterstützen« wollte? Ich fragte ihn, warum das so sei, und er antwortete: »Wenn ich sage, ich will, hast du Angst, nicht mehr frei entscheiden zu können. Das heißt: Ich will, aber wenn du nicht willst, bin ich bei dir.« Ich hasste, dass ich panisch war und er ruhig, genau so, wie es im Drehbuch stand. Warum war das so? Warum glaubte ich trotz der Worte meines Freundes, es sei allein meine Aufgabe zu entscheiden? Weil ich davon überzeugt war, dass ich, im Gegensatz zu ihm, nicht gehen konnte? Ging jetzt das, was man so häufig mit Biologie begründete, los, diese geheime Macht, die Frauen und Männer teilte und von der ich mich immer versucht hatte fernzuhalten, der ich geglaubt hatte, längst entkommen zu sein? Vorher war diese Teilung stärker spürbar gewesen. Als Mädchen hatte ich es gehasst, dass es die Jungs waren, die um mich werben sollten. Dass ich mir das stumm, heilig und lange ansehen sollte. Wichtig war es gewesen, möglichst oft Nein zu sagen. Die von der zweiten feministischen Bewegung inspirierten Frauen, mit denen ich als Teenager zu tun hatte, sagten, dass Mädchen sich nehmen konnten, was sie wollten. Sie sagten, dass wir genauso sein könnten wie Jungs. Das heißt Jungs, nicht Mädchen waren die Bezugsgröße. Besonders glücklich machte es sie, wenn wir Dinge taten, die typischerweise Jungs taten (Lager bauen, ruppig sein, sich für Technik interessieren). Auch wenn ich glaube, dass die Antwort auf Geschlechterungerechtigkeit nicht ist, dass sich alle verhalten, wie Männer sich angeblich verhalten, hatten diese Impulse bestimmt etwas Gutes, weil sie Bewegung in alte Strukturen brachten. Praktisch funktionierten die Ratschläge allerdings nicht, weil sie die Regeln des Spiels zwischen Jungs und Mädchen durcheinanderbrachten, was besonders im Teenageralter deutlich wurde. Ein starkes Mädchen irritierte die Jungs, was man ihnen gar nicht übel nehmen konnte. Sie identifizierten einfach einen Systemfehler, nämlich ein Mädchen, das sich nicht mädchenhaft verhielt. Ich wollte rauchen, kiffen, Musik hören und mit dem Auto herumfahren, aber das ging in der Jungs-Crew, mit der ich damals zusammen war, nur, wenn ich die Freundin von jemandem war. Ich wollte aber nicht die Freundin von jemandem sein, ich wollte von selber dazugehören. Von kleinen, unverbindlichen Intimgeschichten mit den Jungs sah ich von vorneherein völlig ab, weil ich wusste, wie schnell man dann eine Schlampe war, und eine Schlampe war draußen. Eine Schlampe fiel negativ auf denjenigen zurück, der sich mit ihr abgab. Insofern empfand ich die Möglichkeiten des Seins (Schlampe oder Freundin) als sehr eingeschränkt, und die Tipps der feminismusinteressierten Lehrerinnen oder Autorinnen der Bücher, die mir meine Mutter schenkte, waren zwar richtig und gut gemeint, aber sie führten auch dazu, dass ich umso genauer verstand, wer ich sein sollte, wenn ich dabei sein wollte. Ich verstand, dass die Jungs, für die ich mich interessierte, zarte, süße Girls wollten, die eindeutig als solche erkennbar waren, damit sie sich ihrerseits sicher sein konnten, dass sie auf jeden Fall Jungs waren. Jungs, die ein zartes, süßes Girl ihre Freundin nennen konnten. Ich litt darunter, machte aber schnell, was von mir verlangt wurde (wohl eines der Top-Skills, die man Mädchen vermittelt), und versuchte also, ebenfalls zart und süß zu sein. Mal gelang es mir, mal nicht. Das waren erste Erfahrungen, durch die ich merkte, dass ich ein Mädchen war (denn meine Eltern machten zwischen mir und meinen Brüdern tatsächlich keinen Unterschied). Ich merkte es, als zwei Jungs darum wetteten, wer mich rumkriegt. Ich verstand, dass mein Ansehen als Mädchen stieg, wenn ich mich nicht rumkriegen ließ. Ich verstand, dass ich ein Mädchen war, als ich irgendwann trotzdem als Schlampe beschimpft wurde. Ich verstand es, als mein Körper auf dem Schulhof diskutiert wurde wie ein Gerät. Ich merkte es außerdem an der panischen Schwangerschaftsangst der Eltern (nicht so sehr meiner, sondern der meiner Freundinnen) und Lehrer. Als Mädchen warst du gefährdet. In dir steckte ein beträchtliches Problempotenzial. Du konntest schnell zu einem peinlichen, schambesetzten Fall werden. Wenn du dich rumkriegen ließest, wenn das Sperma von irgendeinem Jungen in dir zurückblieb und du keine Vorkehrungen getroffen hattest – wenn all das mit dir passiert war, obwohl man dich immer gewarnt hatte, und du warst davon schwanger geworden, dann warst du etwas Peinliches, das man diskret zum Arzt bringen musste, damit das Problem entfernt werden und du weiter zur Schule gehen konntest, um Abitur zu machen und dann zu studieren. Jene Schwangerschaftspanik muss vor allem etwas mit der Angst davor zu tun gehabt haben, dass das gesellschaftliche Ansehen eines Mädchens beschmutzt werden, dass Schande über sie kommen könnte, was sehr alt, archaisch und unzeitgemäß klingt. Um eine ernsthafte Sorge um die Zukunft jenes Mädchens kann es jedenfalls nicht so sehr gegangen sein. Denn dieses Mädchen von damals verdient – bleibt man in der Eltern-Zukunfts-Logik – heute weniger und ist nicht so weit oben angekommen wie ein Mann. Falls sie Kinder hat, wird sie irgendwo auf mittlerer Ebene in Teilzeit arbeiten, was aber kaum jemanden so peinlich berührt, wie es seinerzeit die Eltern eines Mädchens von deren Schwangerschaft gewesen wären. Als anständiges Mädchen, das sich erst spät hatte herumkriegen lassen, fand ich Sex lächerlich und vollkommen albern. Meine Reaktion war allerdings nicht nur diese überlegene Geste des Lachens, ich litt auch darunter. Die jungen Männer, mit denen ich Sex hatte, spielten, so stellte ich rückblickend fest, Pornos nach, die ich nicht kannte. Es war allerdings nicht schwer zu begreifen, dass der Sex dirty und hart sein sollte. Der Imperativ, der sich für mich daraus ableitete, war: »Sei unverklemmt! Hab Spaß!« Der Spaß orientierte sich an in den Pornos behaupteten männlichen Bedürfnissen, die offensichtlich darin bestanden, Frauen zu unterwerfen und ein bisschen beim Sex fertigzumachen. Ich versuchte, dem irgendwie zu entsprechen (Top-Skills), dachte aber auch regelmäßig während des Unterworfenwerdens, dass das hier überhaupt nicht mit dem zusammenpasste, was die Frauen-Power-Autorinnen der Bücher schrieben, die ich zum Geburtstag geschenkt bekam. Ich sah, dass es mir auf keinen Fall so viel Spaß machte wie dem Jungen und seinem soldatischen Sex-Soll-Erfüllungswillen (wobei ich heute denke, dass ich mich da auch getäuscht haben kann). Ich sah das und fragte mich, was das soll, wenn es lächerlich aussieht, keinen Spaß macht und ich, nicht er, danach zwischen meinen Beinen erst mal seinen Matsch aufräumen muss und darüber auch noch Gefahr laufe, zu einer Schlampe, wenn nicht gar zu einem peinlichen Problem zu werden. Obwohl ich Sex als Teenager dumm und überflüssig fand, hatte ich ihn. Mal aus Gewohnheit, mal aus Höflichkeit, aber auch, weil ich nicht verlassen werden wollte, was insofern einer superklassischen Mädchenkonditionierung entspricht, als es das zentrale Anliegen dieses Verhaltens ist, eine Bindung aufrechtzuerhalten, und es ist genau dieses Anliegen, das einen Dinge tun lässt, die man eigentlich nicht tun will. Die Momente, in denen ich gemerkt hatte, dass ich ein Mädchen bin, wurden immer weniger, als ich die Provinz verlassen und in den Großstädten verschwinden konnte. Die Momente waren fast weg, weil ich mir meine Leute aussuchen und anderen aus dem Weg gehen konnte. Eine Schwangerschaft kam nicht infrage und an der Uni wurde so getan, als gebe es Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen. Es begann damals ein maximal freies, autonomes Leben mit...