E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: zur Einführung
Beck / Schlichte Theorien der Gewalt zur Einführung
korrigiert
ISBN: 978-3-96060-062-6
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-062-6
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2. Gewalt als sozialwissenschaftliches Problem
In politischen wie auch in wissenschaftlichen Debatten wird Gewalt in der Regel als Problem thematisiert. Ähnlich wie bei »Armut«, »Frieden« oder »Demokratie« handelt es sich um einen stark werthaltigen Begriff, doch anders als die beiden letztgenannten führt er in der Regel keine positive, sondern eine negative Konnotation mit sich. Wo von Gewalt die Rede ist, steht etwas auf dem Spiel, geht es um ein Problem, das gelöst, eine Situation, die verändert werden muss. Dem Zeitgenossen ist diese Unselbstverständlichkeit der Gewalt selbstverständlich. Denn Gewalt zerstört nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche, soziale Beziehungen, im Extremfall sogar das ganze Beziehungsgeflecht von Gesellschaften. Diese Unselbstverständlichkeit der Gewalt ist jedoch, wie in der Einleitung bereits angedeutet, keine historisch-kulturelle Universalie, sondern ein Charakteristikum der Moderne. Denn Geschichte wie Gegenwart kennen Kontexte, in denen das Ausüben und/oder das Erleiden physischer Gewalt zum regulären Erwartungshorizont sozialer Interaktion gehört und dabei keineswegs notwendig mit Vorstellungen von der Zerstörung sozialer Beziehungen assoziiert ist, sondern beispielsweise als Gemeinschaft stiftendes Ereignis gilt oder auch als eine Form der Lust.6 In der modernen Sozialtheorie jedoch blieb die Partikularität des zeitgenössischen Gewaltverhältnisses lange Zeit unreflektiert, mit dem Effekt, dass Gewalt auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung als etwas Unselbstverständliches, als Abweichung von der Norm thematisiert werden konnte. Auch in der Sozialtheorie erschien Gewalt also in erster Linie als ein Problem, das es zu lösen, und nicht als ein Phänomen, das es zu verstehen galt. So beschäftigt sich bis heute die Mehrzahl der Arbeiten, die unter dem Stichwort »Gewaltforschung« veröffentlicht wird, mit den Ursachen der Gewalt – sei es nun Gewalt an Schulen oder in Kriegen – sowie den Möglichkeiten ihrer Beendigung und Prävention. Und obwohl in historischer Perspektive Kriege und andere Gewaltkonflikte offensichtlich treibende Faktoren gesellschaftlicher Transformationsprozesse waren, blieb die soziale Dynamik der Gewalt bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eine Leerstelle der Forschung. Sie spielt eine Rolle – ganz zentral beispielsweise in der Staatstheorie –, aber sie wird nicht zu einem eigenständigen Gegenstand der Reflexion. Die Entwicklung von Gewalttheorien in unserem Sinne ist aufs Engste mit diesem Problem in der Forschungstradition verbunden. Deshalb werden wir uns in diesem Kapitel zunächst der Gewalt als Problem für die Sozialwissenschaften und insbesondere die Sozialtheoriebildung zuwenden, ehe wir in den beiden folgenden Kapiteln einflussreiche Gewalttheorien im Detail vorstellen werden. Zunächst werden wir darstellen, wie und in welcher Hinsicht Gewalt zu einem Problem der Sozialwissenschaften wird. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion werden wir dann in einem zweiten Schritt den Begriff der Gewalt in historischer Perspektive diskutieren. 2.1 Das Andere der modernen Gesellschaft: Gewalt in der sozialwissenschaftlichen Tradition
In der sozialwissenschaftlichen Tradition ist die explizite Beschäftigung mit dem Thema Gewalt, wie bereits in der Einleitung erwähnt, noch immer ein relativ junges Forschungsfeld. Angesichts der drastischen Auswirkungen, die Gewalthandeln haben kann, und der Prominenz des Themas in öffentlichen Debatten mag dies überraschen. Verständlich wird diese späte Entdeckung der Gewalt als Forschungsgegenstand, blickt man in die Entstehungsgeschichte der sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Die systematische Beschäftigung mit den empirischen Gegebenheiten menschlichen Zusammenlebens begann mit der Aufklärung, die, laut dem bekannten Diktum Immanuel Kants, nach dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« strebte (Kant 1922: 169). Vernunft, nicht Religion, sollte fortan die menschlichen Geschicke leiten. Wissen stellte dafür die entscheidende Voraussetzung, den Schlüssel zur Freiheit, dar.7 Die Formierung der Sozialwissenschaften ist also aufs Engste mit dem Reformprojekt der Aufklärung verbunden. Das Erbe dieser Verbindung ist der Impuls, die Gesellschaft zu verbessern, also das Streben danach, dass die Wissensproduktion nicht einfach dem Erkenntnisfortschritt, sondern dem Fortschritt der Gesellschaft selbst dienen soll, der viele sozialwissenschaftliche Arbeiten bis heute prägt (für eine pointierte Kritik siehe Coser 1956: 15-32). Die Suche nach neuen Erkenntnissen war fortan keine kontemplative Angelegenheit mehr, die hinter Klostermauern verfolgt wurde, sondern diente dazu, Kontrolle über das zuvor Unkontrollierte oder Unkontrollierbare zu gewinnen. In einer sich selbst verstärkenden Dynamik wurde so das sich entwickelnde sozialwissenschaftliche und sozialtheoretische Denken (im Englischen treffender gefasst in der Formulierung social thought) prägend für das Selbstverständnis »moderner Gesellschaften«, während gleichzeitig die Eckpfeiler dieses Selbstverständnisses zu nicht weiter hinterfragten Ausgangspunkten sozialwissenschaftlicher und sozialtheoretischer Wissensproduktion wurden. So führte die historische Verquickung von Disziplinentwicklung und gesellschaftlichem Reformprojekt unausweichlich zu blinden Flecken, zu empirischen Gegenstandsfeldern also, die in der Theoriebildung unbeachtet blieben, weil sie außerhalb des modernen Selbstverständnisses lagen oder in dessen Perspektive als irrelevant erschienen. Zu diesen Gegenständen gehört auch die Gewalt. Denn im modernen Selbstverständnis ist Gewaltlosigkeit eines der entscheidenden Distinktionsmerkmale aufgeklärter Gesellschaften. Es erlaubt die Abgrenzung von eigenen historischen Vorgängern, vor allem aber auch von anderen zeitgenössischen Gesellschaften. Dies gilt nicht nur für organisierte Formen kollektiver Gewalt, sondern auch für spontane, individuelle Gewaltausbrüche. Denn Moderne heißt eben nicht nur fortschreitende Kontrolle über Unwägbarkeiten in der Umwelt, sondern auch fortschreitende Selbstkontrolle. Gewalt passt in dieses Selbstbild nicht. Die Durchsetzung dieser Vorstellung lässt sich in drei Dimensionen verfolgen: zum Ersten ideengeschichtlich, in der Etablierung von Gewaltlosigkeit als Norm; zum Zweiten lebensweltlich, in der Etablierung von Gewaltlosigkeit als Normalerwartung in der Alltagsinteraktion; und zum Dritten politisch, in der Formierung gewaltkritischer, humanitärer Bewegungen. Prägend für die Formierung der Norm der Gewaltlosigkeit war der im 17./18. Jahrhundert sich entwickelnde Liberalismus. Ließ sich in voraufklärerischer Zeit Gewaltkritik in (West-)Europa nur im Rahmen christlicher Ethik formulieren (was sie zur Angelegenheit von Klerikern machte), stellte das liberale Denken nun den Rahmen für eine säkulare Gewaltkritik bereit. Bekannt ist in diesem Zusammenhang vor allem die auch heute noch populäre liberale Kritik des Krieges, die die negativen Folgen von bewaffneten Konflikten für Wirtschaft und (Frei-)Handel – und damit für die Verwirklichung des common wealth – ins Zentrum rückt. In seinen ersten Formulierungen war dieses auf den ersten Blick rein ökonomische Argument jedoch rückgebunden an ein entwicklungspsychologisches: Freier Gütertausch und arbeitsteilige Herstellungsverfahren haben, so die Vordenker des Liberalismus, positive, nämlich mäßigende Effekte auf die Gemüter der Menschen und damit auch auf ihre Beziehungen untereinander. »Der Handel«, so Montesquieu 1748, »flößt natürlicher Weise friedliebende Gesinnungen ein. Zwey Nationen, die Verkehr mit einander haben, machen sich eine von der andern abhängig. Ist der einen daran gelegen, zu kaufen, so liegt der andern daran, zu verkaufen; und alle Verbindungen sind auf wechselseitige Bedürfnisse gegründet.« (Montesquieu 1782: 236) Und um die Gegenseite dieses Szenarios ganz deutlich zu machen, heißt es wenige Zeilen später: »Die gänzliche Abwesenheit des Handels hingegen bringt die Räuberey hervor.« (Montesquieu 1782: 237) So ging es den Begründern des Liberalismus also nicht nur darum zu zeigen, dass der Krieg ein Problem für den Handel darstellt, sondern auch und vor allem um die Überzeugung, dass der Handel eine Lösung für das Problem des Krieges sei.8 Parallel zu dieser ideengeschichtlichen Entwicklung verändert sich auch die Rolle von Gewalt im Alltag. Es kommt zu einem Rückgang solcher Gewaltformen, die von staatlicher Seite sanktioniert werden. Dies lässt sich beispielsweise an der langfristigen Entwicklung der Häufigkeit von Mordfällen ablesen (vgl. Chesnais 1981; Eisner 2001; siehe auch Eisner 2011). Damit verschwindet die Gewalt als soziale Praxis jedoch nicht. Sie bleibt vielmehr ein zentrales Instrument der Disziplinierung in staatlichen Institutionen wie Schule, Militär und Gefängnis oder auch in der Familie. Doch reduzieren sich die Horizonte des Handelns, in denen systematisch mit Gewalt gerechnet werden muss. Die Beilegung der Religionskriege im 17. und die Beendigung der Napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert...