E-Book, Deutsch, 292 Seiten
Becker Die Kette
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7693-6490-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der Sehnsucht nach Daheim
E-Book, Deutsch, 292 Seiten
ISBN: 978-3-7693-6490-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Buch erzählt von gewaltsamen Verlusten und ihren historischen Hintergründen, von der Sehnsucht nach Daheim, von glücklichen Zufällen und der Kraft eines Miteinanders, das Fremdheit überwindet. Im Mittelpunkt steht die Familie der Autorin Carola Becker, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Waldenburg in Niederschlesien in das Siegerland vertrieben wurde. Hier beginnt die Geschichte. Sie steht exemplarisch für die Schicksale von etwa zwölf Millionen Menschen aus den früheren deutschen Ostgebieten. Jeder Einzelne musste sich aus dem Nichts heraus ein neues Leben aufbauen. Seit den 1960er Jahren galt offiziell ihre Eingliederung in die westdeutsche Gesellschaft als erfolgreich beendet. Tatsächlich verschwanden die dunklen Schatten der gewaltsamen Entwurzelung im Privaten. Für eine versprengte frühere Gemeinschaft wurde der Schützenverein Waldenburg-Altwasser zu einem emotionalen Ankerpunkt. Aber der Verein war mehr als ein rückwärtsgewandter Ort der Erinnerungen; er war eine Brücke in die Zukunft. Denn es entstand ein Vereinsleben mit einer ganz eigenen Atmosphäre des Miteinanders über kulturelle Grenzen hinweg. In einer Mischung aus biografischer Erzählung und faktenreicher Dokumentation betrachtet Carola Becker die Thematik vielschichtig und aus einer Langzeitperspektive. Der lange Prozess des Heimischwerdens nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein lehrreiches Kapitel der deutschen Geschichte. Wann sind die Entwurzelten wirklich angekommen? Welche Spuren hat das Erlebte in den Familien hinterlassen? Wodurch fördern oder behindern Politik, Gesellschaft und Interessenverbände den oft schwierigen Prozess einer gelungenen Integration? Diese Fragen haben eine hohe Aktualität, denn die gegenwärtigen Kriege vertreiben erneut Millionen Menschen aus ihrer Heimat. Das Buch gibt Antworten am Beispiel der Geschichte einer Familie und eines ungewöhnlichen Vereins.
Carola Becker, Jahrgang 1956, ist im Siegerland (NRW) aufgewachsen. Die Familie ihrer Mutter wurde 1946 aus Waldenburg in Niederschlesien nach Siegen vertrieben, ihr Vater war gebürtiger Sauerländer. Geprägt von einer großen Naturliebe studierte sie Landschaftsplanung und war nach mehreren beruflichen Stationen seit dem Jahr 2000 Professorin für Umweltplanung an der Jade Hochschule in Oldenburg. Als Pensionärin lebt Carola Becker wieder im Siegerland. Die Heimat ihrer schlesischen Herkunftsfamilie war für sie stets ein erzähltes, zugleich fremdes und belastendes zweites Zuhause. Erst 2023 ist sie zum ersten Mal nach Waldenburg gefahren.
Autoren/Hrsg.
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Entwurzelt
Irrfahrt ins Ungewisse
Dienstag, 7. Mai 1946. Die Sonne scheint an diesem warmen Frühlingstag. Am Waldenburger Bahnhof Altwasser werden meine Großeltern mit ihrem damals zwölf Jahre alten Sohn gemeinsam mit weiteren Mitgliedern der Familie in den Viehwaggon eines Zuges verfrachtet. Ihre Tochter war nicht darunter. Ein klein wenig Handgepäck hatten sie bei sich. Das Ziel der bevorstehenden Fahrt kannten sie nicht. „In die britische Zone“, so hieß es wenig glaubwürdig. Misstrauen herrschte, denn das vergangene Jahr war angefüllt gewesen mit Gerüchten, spärlichen und widersprüchlichen Informationen über die Zukunft Niederschlesiens in einem sich neu ordnenden weltpolitischen Machtgefüge. Ein Jahr zuvor, am 7./8. Mai 1945, hatte der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht sein Ende gefunden, Europa war in einem sechs Jahre währenden brutalen Kriegsgeschehen erschüttert worden, die Herrschaft des Nationalsozialismus war in sich zusammengebrochen. Vor allem das westliche Niederschlesien war bis zum Kriegsende ein Ort der Ruhe gewesen – soweit man davon in der Zeit des Nationalsozialismus überhaupt sprechen kann. Krieg und Zerstörungen fanden überwiegend in der Ferne statt. Das hatte sich schlagartig mit der Kapitulation geändert. In diesem ersten Nachkriegsjahr hatten meine Vorfahren in Waldenburg schwerste Nachbeben des Krieges erlebt. Nun wurden sie gezwungen, ihr bisheriges Leben endgültig zu verlassen – auf einer etwa viertägigen Irrfahrt ins Ungewisse. Erst langsam erahnten sie, dass der Zug nicht nach Osten fuhr, wie manch einer als Rache für die Gräueltaten des nationalsozialistischen Deutschlands befürchtete. Mein Onkel schreibt: „Wir fürchteten, Sibirien sei das Ziel – auch eine Folge der Nazi-Propaganda.“1 Der spärliche Schein der aufgehenden und untergehenden Sonne, die ihre Strahlen durch die Ritzen der Waggons schickte, brachte langsam Gewissheit: Es ging Richtung Westen. In Helmstedt wurde die Menschenfracht umgeladen und von den britischen Besatzern übernommen. Das Ziel ihrer Weiterfahrt war nach wie vor unbekannt. „Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, welch ein Erlebnis es war, als in Helmstedt das Deutsche Rote Kreuz die Waggons öffnete und uns warmen Kaffee anbot. […] Es ging dann weiter ins Siegerland.“2 Abb. 1: Ein Transportzug der operation swallow.3 Samstag, 11. Mai 1946. Der Zug mit etwa vierzig Waggons fährt in den Hauptbahnhof Siegen ein. Zögerlich und verunsichert steigen ungefähr 1500 Menschen aus. Jeder bepackt mit einem eigenen und einmaligen Schicksal. Als anonyme Menge werden sie in ein Lager verbracht. Dem Elend in der Heimat waren sie entronnen, aber nicht aus eigenem Willen. Keine Flucht.4 Über einer vorsichtig aufkeimenden Hoffnung auf Frieden und Neuanfang lagen tiefe schwarze Schatten. In den Seelen vieler Vertriebener werden sie sich nie mehr wirklich aufhellen. Kaum jemand im Westen hatte damals eine Vorstellung davon, was die Vertriebenen im vergangenen Jahr erlebt hatten. Ins Nichts gezwungen, belastet mit schlimmsten Erniedrigungen, als Bittsteller vollkommen auf fremde Hilfe angewiesen, den Boden unter den Füßen weggezogen – so landeten die Vertriebenen im Westen. Auf dem tagelangen Transport fasste mein Onkel als Zwölfjähriger einen Entschluss, der sein weiteres Leben bestimmen sollte: „Ich erinnere mich gut, dass ich auf dieser Fahrt einen Plan für mich entwarf: Du musst dich körperlich stark machen. Du musst alles Wissen sammeln, was es gibt. Und du musst Geld (Kapital) sammeln, damit du stark und so ‚reich‘ wirst, wie deine Eltern einmal waren.“5 Ihr Eigentum hatten sie vollständig in Schlesien zurücklassen müssen. Kämpfertypen entstanden in dieser kurzen, aber immens prägenden Phase des Lebens. Als ganz wichtig stellte sich später das Lebensalter heraus, in dem die Betroffenen die Vertreibung erlebt hatten. Jeder hat seine ganz eigene Geschichte. Die britischen Besatzungsbehörden machten präzise Vorgaben für den Ablauf nach der Ankunft im Westen. Es lag in ihrem eigenen Interesse, schnell und energisch „[…] die dringlichsten Probleme auf dem Weg zur Normalisierung der Lebensverhältnisse“ […]6 zu lösen. Chaotische Zustände zu verhindern, war eine zwingende Voraussetzung für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft – einem wesentlichen Ziel des Potsdamer Abkommens vom August 1945.7 Wie überall in der Britischen Besatzungszone wurden die Vertriebenen vom Siegener Bahnhof zügig zu einem Lager gefahren, in Siegen war es das Hauptdurchgangslager in der ehemaligen Kaserne Wellersberg. Dort sollten sie nur wenige Tage verbleiben und dann in der Region verteilt werden. Die Vertriebenen wurden entlaust, ärztlich untersucht und mit Nahrungsmitteln für ein paar Tage versorgt. Viele waren krank, ausgehungert, geschwächt, hatten Schreckliches erlebt. Glücklich, mit dem Leben davongekommen sein; aber entwurzelt und gedemütigt. Abb. 2: Flüchtlings-Meldeschein Horst Ohnsorge; Vorder- und Rückseite.8 Für meine Familie war das Durchgangslager Wellersberg eine verschwiegene Station auf ihrem Weg in ein neues Leben; niemand hat je davon erzählt. Auch die Erlebnisse des letzten Jahres in ihrer Heimat und während des Abtransportes blieben weitgehend tabu. Ein dunkler Tunnel mit einem kleinen Lichtschein: Sie waren der Bedrohung eines Lebens unter kommunistischer Herrschaft in einem für sie fremden Staat Polen mit einer fremden Kultur entkommen. Ich bin sicher, dass meine Großeltern so empfunden haben. Faktisch war Schlesien schon nicht mehr Deutschland. Die Menschen wurden aus einem Land vertrieben, das die politische Führung eines wiedererstehenden polnischen Staates bereits seit mehr als einem Jahr als ihr eigenes Staatsgebiet betrachtete. Aussicht auf eine selbstbestimmte Gestaltung des Lebensalltags bestand nicht. Auch wenn diese Art einer erzwungenen „Rettung“ kein Trost war für die gewaltsame Entwurzelung und Enteignung, lag unter der Oberfläche des vollständigen Heimatverlustes ein Wert, der wichtiger ist: das individuelle und einmalige Leben an sich. Zügig wurde die Familie in Fellinghausen (heute Stadt Kreuztal, damals Amt Ferndorf) untergebracht. Irgendwann in dieser Zeit vergrub jemand in Waldenburg-Altwasser eine Kette. Das vergessene Jahr
Ein Krieg endet nicht an einem Tag. Auch wenn die öffentliche Erinnerungskultur ein Datum verlangt, das den entscheidenden Wendepunkt vom Kampfgeschehen in eine Friedenszeit markiert. Tatsächlich gibt es einen mehr oder weniger langen Übergangszeitraum. Im Schatten eines vermeintlichen Kriegsendes liegen zivile Opfer, Zerstörungen, Auflösung vertrauter Strukturen. Solche Nachbeben wirken noch über Jahrzehnte, bis in die Kinder- und Enkelgeneration hinein. Für viele Menschen lag nach den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges ein Leben in Frieden und Freiheit noch in weiter Ferne. Bereits seit 1942 waren zahlreiche westliche Städte zum Ziel schwerster Bombardierungen durch die Alliierten geworden. Opfer war die Zivilbevölkerung, viele verließen ihr verwüstetes Zuhause, wurden in weniger umkämpfte Gebiete evakuiert. Die Landung der alliierten Streitkräfte in der Normandie (USA, Großbritannien und Kanada) am 6. Juni 1944 (dem sog. D-Day) markiert die endgültige militärische Wende im Kriegsverlauf. Schließlich nahm die US-amerikanische Armee Ende Oktober 1944 die erste deutsche Großstadt ein, Aachen, und rückte weiter vor. Ab Anfang April 1945 war der Krieg im Westen letztlich verloren, die Wehrmacht war in Auflösung. Städte, Dörfer und Landstriche wurden – teilweise nach heftigen Kämpfen – von den Siegern besetzt. Erst zu Kriegsende 1944/45 wurden die Stadt und der Landkreis Siegen massiv bombardiert. Doch die Überlebenden durften bleiben und wurden von der nationalsozialistischen Terrorherrschaft befreit. Ganz anders waren Verlauf und Nachwirkungen des Krieges im Osten Europas. Hier gelang der sowjetischen Roten Armee Mitte des Jahres 1944 die völlige Zerschlagung der reichsdeutschen Heeresgruppe Mitte. Der Weg nach Westen war damit frei; zügig besetzte sowjetisches Militär die eroberten Gebiete in der heutigen Ukraine und in Weißrussland und vertrieb die Menschen in Richtung Westen. Die UdSSR hatte weitergehende Ziele: Es sollten Fakten geschaffen werden für eine Nachkriegsordnung mit einer deutlichen Erweiterung des kommunistischen russischen Machtbereiches nach Westen. Der Vormarsch Richtung Ostpreußen löste eine erste große Flüchtlingswelle der deutschen Bevölkerung aus. Weiter südlich eroberten die Rotarmisten Gebiet um Gebiet. Am 12. Januar 1945 brach der russische Angriff in Richtung Schlesien los. Die Konzentrationslager wurden befreit, als erstes das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Ende Januar 1945. Die eroberten Orte übergaben die sowjetischen Besatzer unmittelbar nach ihrem Einmarsch an den polnischen Staat. Genauer: an eine „Polnische Provisorische Regierung der Nationalen...