Becker | Kosmopolen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 446 Seiten

Becker Kosmopolen

Essays
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86337-098-5
Verlag: Weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Essays

E-Book, Deutsch, 446 Seiten

ISBN: 978-3-86337-098-5
Verlag: Weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Artur Becker ist seinen deutschen Lesern bisher als großer Erzähler und Romanautor bekannt. Doch "dieser außergewöhnliche Wanderer zwischen seiner ursprünglichen Heimat Polen und seiner neuen Heimat Deutschland" – so Manfred Mack vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt, beschenkt uns seit Jahren nicht nur mit seinen Gedichten und Prosawerken, sondern auch mit Dutzenden von Rezensionen und Essays, in denen er versucht, sein polnisches Erbe seinen deutschen Lesern zu vermitteln. Nein, nicht nur zu vermitteln, Artur Becker ist ein Missionar, er ist überzeugt, fast besessen davon, seine deutschen Leser zu überzeugen, dass ihr Weltbild unvollständig bleibt, wenn sie nicht die Erfahrungen ihrer polnischen Nachbarn zur Kenntnis nehmen und in ihr Weltbild integrieren. Und er begibt sich auch auf das belastete, verminte Gebiet der deutsch-polnischen Erinnerung an die Geschichte. Souverän und mutig zeigt er Deutschen und Polen einen Ausweg aus der vermeintlichen Erbfeindschaft und ruft das gemeinsame, verbindende jenseits der nationalen Verblendung in Erinnerung."
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Im Zug durch Deutschland
»Nie kochaj zadnego kraju: kraje latwo gina.« –
»Liebe kein einziges Land: Länder gehen leicht unter.« Czeslaw Milosz Im Sommer 1951 machte sich der polnische Dichter Czeslaw Milosz (1911–2004) von Paris aus auf den Weg nach La Combe-de-Lancey in den Alpen, einem Kaff bei Grenoble, um den dort lebenden Stanislaw Vincenz (1888–1971) zu besuchen, einen anderen großen Exilanten, vor allem aber einen alten weisen Mann. Milosz hatte nämlich zu Anfang desselben Jahres bei der polnischen Botschaft in Paris das Handtuch geworfen und wohnte nun im Verlagshaus der Exilzeitschrift Kultura, das 1947 von Rom in den Pariser Vorort Maisons-Laffitte umgezogen war. Man könnte sagen: Der Dichter war ein frisch gekürter Kosmopolit und – vor allem aus der Sicht der kommunistischen Machthaber – ein Verräter. Sein Verleger, der Publizist Jerzy Giedroyc (1906–2000), kam auf die Idee, den Vierzigjährigen zu Vincenz zu schicken, da Milosz nirgendwo ein warmes Plätzchen finden konnte: Er glich einem Nervenbündel und terrorisierte mit seiner Verzweiflung und Schwarzmalerei nicht nur Giedroyc, sondern auch alle anderen Mitarbeiter und Freunde von Kultura, wie etwa Józef Czapski oder Zofia Hertz. Janina, Milosz’ Frau, hielt sich mit dem gemeinsamen Sohn Piotr immer noch in den USA auf, wo ihr Mann fünf lange Jahre im diplomatischen Dienst der Volksrepublik Polen tätig gewesen war, und der polnische Dichter machte sich Vorwürfe, er hätte seine Familie in große Schwierigkeiten gebracht, da er nun über kein regelmäßiges Einkommen verfügte. Seine Flucht in die Freiheit – in das westliche Asyl – empfand er nicht als Befreiung, und die politischen, literarischen und existenziellen Konsequenzen seiner Entscheidung bereiteten ihm schlaflose Nächte. Giedroyc tat das Richtige, als er beschloss, seinen Autor zum Meister Vincenz zu schicken, dem Kenner des Huzulenlandes in den Karpaten und dem Liebhaber der Antike, dem Erzähler und Sokratiker, dem Homer-Spezialisten und Essayisten, dem Dostojewski-Übersetzer und Philosophen. Der dreiundzwanzig Jahre ältere Vincenz war ein echter Hirte und ein leidenschaftlicher Naturverehrer, der die vorchristliche Literatur und Philosophie als Waffe gegen den modernen Nihilismus einsetzte und das Leben und seine Schönheit lobpries. Seit Milosz die Freiheit gewählt hatte, um der Indoktrination durch die Kommunisten und ihrem »neuen Glauben« zu entkommen, schien er schwer erkrankt zu sein. Er dachte sogar an Selbstmord und fühlte sich wie ein Renegat; ein Dichter durfte doch seine Nation niemals im Stich lassen, was ihn, der ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein besaß, sehr bedrückte. Die Linken in Frankreich – etwa Jean-Paul Sartre oder später Pablo Neruda – lehnten Milosz kategorisch ab. Zu dieser Ablehnung hatte natürlich auch die Veröffentlichung seines berühmten Essaybandes Verführtes Denken, der die psychologischen Verhaltensweisen von Intellektuellen im Stalinismus gnadenlos seziert, einen entscheidenden Beitrag geleistet. Der Vertrieb des Buches wurde durch den Verlag Gallimard geschickt gestört, was zur Folge hatte, dass er nie wieder bei Gallimard etwas drucken wollte. Polen, die ihrer Exilregierung in London nahestanden, fanden für den Verräter Milosz ebenso wie die Kommunisten nur Worte des Spottes, zahlreiche Pasquills wurden in dieser Zeit geschrieben, das heißt, sowohl die Marxisten wie auch Antikommunisten – zum Beispiel Sergjusz Piasecki (1901–1964) – suchten nach einem Stock, um den in Litauen geborenen »Überläufer« (einen ehemaligen Diplomaten eines stalinistischen Regimes) zu schlagen, obwohl er für viele einer der wichtigsten polnischen Dichter jener Zeit war. Man verband zumindest mit Milosz Hoffnungen auf die Wiederkehr großer polnischer Nationaldichtung, vergleichbar mit derjenigen von Adam Mickiewicz. Schließlich geschah ein Wunder: Durch die Besuche bei Vincenz und den Briefwechsel mit ihm kam Milosz tatsächlich zur Ruhe, der Verbannte und Gejagte fand langsam wieder zu seiner gewohnten schriftstellerischen Kondition zurück, obwohl er in den für ihn stürmischen Fünfzigerjahren oft keine Gedichte schreiben konnte – Prosa und Essays waren ihm wie gewöhnlich leicht aus der Feder geflossen, doch die Lyrik hatte sich fast ein Jahrzehnt standhaft gewehrt. Nur unter großer Mühe hatte der Autor von Verführtes Denken in jener schweren Zeit seine Gedichte zu Papier gebracht. Welche Medizin fand der alte Mann, den Milosz russifizierend prafiesor nannte, und der junge Menschen zu sich nach Hause einlud, um gemeinsam Platons Texte zu studieren, für die geschundene Seele seines Patienten? »Ich möchte so sehr, dass der Gottvater Stanislaw Vincenz ähneln möge. Ich würde mich dann überall sicher fühlen, und nicht nur in seinem Haus, wo ich bis jetzt tiefer geschlafen habe, als anderswo«, meinte die Philosophin Jeanne Hersch einmal, eine Schülerin Karl Jaspers, mit der Milosz nicht nur eine lange intellektuelle Freundschaft verbunden hatte, sondern auch eine Liebschaft. Der alte Mann gab also seinem hochbegabten Patienten etwa Folgendes mit auf den Weg: »Ein Mensch muss ein Zuhause haben! Milosz, Sie müssen sich einen Ort suchen, an dem Sie zu Hause sein werden. Und noch eines: Sehen Sie die Hügel dort drüben? Und die Steine? Und das Gras, das hier wächst? Vergessen Sie das nie: Es sind keine französischen Hügel und Steine, und es ist auch kein französisches Gras! Die Natur gehört weder den Nationen noch den Menschen …« Der Balsam seiner Philosophie und eben nicht nur seiner tröstenden Worte wirkte ausgezeichnet; Milosz, der verlorene Poet, der im Exil unter der Entfremdung wie kein anderer litt, schrieb bereits im Herbst 1951 das Gedicht Mittelbergheim und später das ontologisch kongeniale Notizbuch: Bon am Genfer See: Der ewige Moment und die stoische Ruhe eines namenlosen Spaziergängers, der am Flussufer steht und zuschaut, wie die Zeit fließt, wie die Geschichte vergeht und eine neue entsteht, wurden endlich wiedergefunden. Aber warum erzähle ich das alles? Ich will versuchen, es zu erklären. Angeblich ist die Entwurzelung eine der schlimmsten Gefahren für unsere Psyche, und C. G. Jung behauptete sogar, dass der Mensch ohne Religion krank werden würde – er müsse etwas haben, woran er glauben könne. Natürlich, es gibt Götter, denen man besser nicht trauen sollte. Man muss stets genau prüfen, an wen und an was man glaubt. Jeder ist selbstverständlich frei und kann tun, was er will. Freiheit ist neben der Liebe die stärkste Waffe des Menschen gegen jedwede existenzielle Verzweiflung, und nicht umsonst attestierte der russische Philosoph Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (1874–1948) der anthropozentrischen Literatur Dostojewskis, dass sie sich vor allen Dingen mit dem Begriff der Freiheit auf allen vorstellbaren Ebenen auseinandergesetzt hätte. Die Freiheit fungiere bei Dostojewski als der Ursprung sowohl des Bösen wie auch des Guten. Der Einzelne treffe die Entscheidung, in welche Richtung er gehen wolle. Dostojewskis Anthropozentrismus war nun für die Psychologie und Philosophie des 20. Jahrhunderts so etwas wie ein gefundenes Fressen. Sartre fiel es sogar nicht schwer zu behaupten, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei, womit er aus ihm den Schmied seines eigenen Schicksals machte. Dann konnte man auch leicht den nächsten Schritt wagen und sagen: »Die Hölle, das sind die anderen.« Und so glauben die Atheisten an die Lehren von Bertrand Russell oder Richard Dawkins, an den Darwinismus und an den unbestechlichen Logos des Menschen, der ihrer Meinung nach keinen bärtigen Vater im Himmel brauche, da der Homo sapiens von allein wisse, was sich gehöre und was nicht, womit auch klar sei, dass er kein Gefangener eines Weltenverwalters und -schöpfers mehr sein dürfe. Die Geschichte des menschlichen Geistes und Bewusstseins habe an dem Punkt Null angefangen und erlebe seitdem eine stetige Erweiterung und Entwicklung, sodass man mehr und mehr über das Sein im Universum erfahren könne, sagen die Atheisten. Das ist eine progressive Sichtweise der Geschichte, wie man sie bei den ketzerischen Theologen findet: etwa bei Origenes oder Teilhard de Chardin, die dem menschlichen Geist und der Schöpfung eine stete Weiterentwicklung bis zur Erreichung der Vollkommenheit und damit auch der Erlösung prophezeiten. Aber selbst Atheisten müssen an etwas glauben (was mich wiederum ein wenig beruhigt). Und woran glaube ich? Und was hält mich am Leben? Manchmal glaube ich an Gott, und ein anderes Mal kann ich ihn nirgendwo finden. Dann bin ich ein Verlorener, ein Atheist. In solchen Momenten lese ich wieder theologische Werke. Oder ich greife ganz tief in die geheimnisvollste Schatzkiste unserer Kulturgeschichte und hole aus ihr Swedenborg, Jakob Böhme oder gnostische Texte heraus. Ab und zu...


Artur Becker, geboren 1968 in Bartoszyce (Masuren), lebt seit 1985 in Deutschland. Becker schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Zuletzt veröffentlichte er den Roman "Sieben Tage mit Lidia". Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Adalbert-von-Chamisso-Preis und dem DIALOG-Preis.



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