Begemann | Kleine Poetik der Schublade | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 146 Seiten

Reihe: Essay [KUP]

Begemann Kleine Poetik der Schublade


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8353-9758-3
Verlag: Konstanz University Press
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 146 Seiten

Reihe: Essay [KUP]

ISBN: 978-3-8353-9758-3
Verlag: Konstanz University Press
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Schubladen dienen bekanntlich der Aufbewahrung von Dingen und der Stiftung von Ordnung, auch wenn in ihnen häufig das Chaos regiert. Meist befinden sie sich an Orten, wo man sie übersieht. Obwohl Schubladen in vielen literarischen Texten eine entscheidende Rolle spielen, bleiben sie in der Literatur- und Kulturgeschichte häufig unbemerkt. Höchste Zeit also, einen Blick hineinzuwerfen.

Von Goethe bis Musil nimmt der Essay von Christian Begemann Funktionen und Bedeutungsebenen dieses sehr speziellen Behältnisses in den Blick. Die Literatur des 19. Jahrhunderts und der frühen Moderne entfaltet nämlich eine regelrechte Poetik der Schublade, deren Inhalt etwa der Charakterisierung von literarischen Figuren dient. Aber in und aus ihnen entspringen auch Handlungen, wenn etwa Dinge, Aufzeichnungen oder Briefe zutage treten, die das Leben der Figuren einschneidend verändern. Mitunter werden ganze Geschichten aus Schubladen hervorgesponnen: Katastrophen, kleine und große, Liebesdesaster und Ehekrisen. Das spiegelt sich auch in der Konstruktion von Erzählungen wider, die als alte Blätter fingiert in Schubladen aufgefunden werden. Schubladen sind Räume des Gedächtnisses, damit aber auch Räume des Unbewussten. Neben längst vergessenem Plunder finden sich dort auch Objekte, in denen Erinnerung gespeichert ist, und die, oftmals gespenstisch und zerstörend, die Vergangenheit wiederkehren lassen. Dass hier Kräfte am Werk sind, die ungerufen auftreten und sich nicht steuern lassen, macht die spezielle Magie der Schublade aus. Schaut man genauer in sie hinein, werden Fragen eines kulturellen Imaginären aufgeworfen, das Risse im modernen Bewusstsein markiert.

Begemann Kleine Poetik der Schublade jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


II
Ein charakteristisches Sammelsurium
Ich beginne mit einer besonders unaufgeräumten, gerade deshalb aber aufschlussreichen Schublade. Sie findet sich in Gottfried Kellers Erzählung Die drei gerechten Kammmacher aus dem ersten Band der Leute von Seldwyla von 1856, einem Text, der mit seinem Personal in sehr drastischer Weise ins Gericht geht, jenen Kammmachern also, die nur in einem vordergründigen Sinne »gerecht«, tatsächlich aber in höchstem Maße engstirnig und engherzig sind. Alle drei bewerben sich um die Gunst der ebenso fragwürdigen Jungfer Züs Bünzlin. Noch bevor diese selbst geschildert wird, tritt sie den Leserinnen und Lesern in Gestalt einer »kleinen lackierten Lade« gegenüber, die sich in einem alten Nussbaumschrank befindet, beides wohlverschlossen. Die Stelle ist zu lang, um sie hier ganz zu zitieren, denn sie zählt den gesamten Inhalt der Lade über eineinhalb Seiten auf. Gleich zu Beginn und als Zentrum der Schilderung wird ein »Gültbrief von siebenhundert Gulden« nebst Zinsen aus ihm genannt, eine Art Pfandbrief oder Schuldschein also, der denn auch das Zentrum des Interesses der Kammmacher darstellt. Um ihn herum liegen – bezeichnenderweise – einige Dokumente, die die Person beglaubigen, ein paar kleinere Wertsachen und viel Krimskrams. So verwahrt Züs hier z. B.   ein Vaterunser mit Gold auf einen roten durchsichtigen Glasstoff gedruckt, den sie Menschenhaut nannte, einen Kirschkern, in welchen das Leiden Christi geschnitten war und eine Büchse aus durchbrochenem und mit rotem Taft unterlegten Elfenbein, in welcher ein Spiegelchen war und ein silberner Fingerhut; ferner war darin […] eine Nuß, worin eine kleine Muttergottes hinter Glas lag, wenn man sie öffnete, ein silbernes Herz, worin ein Riechschwämmchen steckte, eine Bonbonbüchse aus Zitronenschale, auf deren Deckel eine Erdbeere gemalt war und in welcher eine goldene Stecknadel auf Baumwolle lag, die ein Vergißmeinnicht vorstellte […], ein Fläschchen mit Hoffmannstropfen, ein anderes mit kölnischem Wasser und eine Büchse mit Moschus; eine andere, worin ein Endchen Marderdreck lag […]; endlich ein kleines Buch, in himmelblaues geripptes Papier gebunden mit silbernem Schnitt, betitelt: Goldene Lebensregeln für die Jungfrau als Braut, Gattin und Mutter; […] ein Briefsteller, fünf oder sechs Liebesbriefe und ein Schnepper zum Aderlassen; denn einst hatte sie ein Verhältnis mit einem Barbiergesellen oder Chirurgiegehülfen gepflogen, welchen sie zu ehelichen gedachte; und da sie eine geschickte und überaus verständige Person war, so hatte sie von ihrem Liebhaber gelernt, die Ader zu schlagen, Blutigel und Schröpfköpfe anzusetzen und dergleichen mehr und konnte ihn selbst sogar schon rasieren […] (Keller 1989, 207)   Diese Schilderung setzt sich dann noch des Längeren ins Umfeld von Lade und Schrank fort und wird etwa durch einige Bücher ergänzt, die dort keinen Platz mehr finden, Schulbücher, Kalender, Erbauungsschriften usw. Dieses Sammelsurium, das den Leser zunächst etwas ratlos hinterlässt, erschließt sich erst im weiteren Verlauf der Erzählung. Im Rückblick handelt es sich, wenig überraschend, um eine metonymische Charakterisierung der Besitzerin durch den »Intimitätsraum« (Bachelard 2011, 94) der Lade, in der Dinge Eigenschaften »beurkunden« (Keller 1989, 208). Darin darf man eine erste wesentliche Funktion nicht nur dieser, sondern auch anderer literarischer Schubladen sehen. Erst im Anschluss an die Beschreibung der Lade kommt »die Person selbst« in den Blick (ebd.). Im Zentrum stehen das Geld und die Ökonomie, die auch die Liebesverhältnisse dominiert, die, soweit wir erfahren, zumeist mit erfolgreichen Streitigkeiten oder Prozessen um Geschenke und unspektakuläre Wertsachen endeten, etwa jenen Schnepper aus dem Besitz des Barbiers, mit dem Züs »manchen schönen Batzen verdiente« (208) und der auf eine so hohe Fertigkeit im Schröpfen in jeder Hinsicht hindeutet, dass sie schon das Vampirische streift. Dass sie »ihn selbst sogar schon rasieren« konnte, lässt nicht nur die Redewendung anklingen, er sei ›über den Löffel balbiert worden‹, sondern auch ahnen, dass Züs sogar ihn als den Vertreter eines übel beleumundeten Handwerks in puncto derartiger Balbierkünste überboten habe. Golden sind daher nur die hochgehaltenen Lebensregeln für die Jungfrau, während das Herz nur silbern ist und in seinem Inneren keine treuen Gefühle, sondern lediglich ein Riechschwämmchen beherbergt. Es handelt sich um einen damals viel genutzten Wellness-Artikel, eine Duftkapsel, in der sich ein mit aromatischem Essig oder Parfüm getränkter Schwamm oder ein natürlich duftender Pilz befindet (wie etwa Trametes odorata). Auch einige der erwähnten anderen Duftstoffe (Moschus und Marderdreck) sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich, weil ihr Aroma sozusagen nur den lockenden Überbau eines einigermaßen unappetitlichen animalischen Grundstoffs darstellt. Züs’ Liebesbriefe, deren Antwortschreiben unmittelbar neben dem Briefsteller lokalisiert sind, scheinen diesem letzteren entnommen. Die Diskrepanz zwischen den Lebensregeln und der Lebenspraxis zeigt sich dann auch in der als Erdbeere kaschierten Zitrone oder der Stecknadel auf Baumwolle, die sich in dieser Camouflage wiederum als Vergissmeinnicht tarnt, das dann seinerseits darauf hinweist, dass viele der Dinge Hinterlassenschaften sind, in denen Erinnerungen gespeichert sind, die der Text uns denn auch prompt und nicht immer ganz diskret verrät. Die Lade ist auch ein Raum der Memoria. Aus all dem lassen sich einige wenig schmeichelhafte Eigenschaften der Besitzerin dieser Dinge erschließen. Umstellt werden sie mit frömmlerischem Nippes. Dazu gehört das »mit Gold« auf »Menschenhaut« gedruckte Vaterunser, das auf den Beginn der Erzählung zurückverweist. Dort wird der Begriff der kammmacherischen »Gerechtigkeit« unter anderem damit erläutert, dass diese »aus dem Vaterunser die Bitte gestrichen hat: Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern! weil sie keine Schulden macht und auch keine ausstehen hat« (195) – eine ›Religion auf Menschenhaut‹ also, die den eigenen kleingeistigen Vorstellungen und ökonomischen Zwecken anverwandelt wird, ähnlich wie hier die überlebensgroße Passion Christi auf einen Kirschkern und die Madonna in eine Nussschale passen. Diese Aura der Bigotterie verbindet sich, wie wir dann erfahren, mit einer salbungsvollen halbgaren Gelehrsamkeit, deren Quelle der minimalistische, aber gut memorierte Buchbestand ist, während ihr eigentlicher Grund wohl eher in dem »Spiegelchen« zu suchen ist, einem gut kaschierten Attribut der Eitelkeit. Wenn derart Dinge zu Charakteristika werden, dann erscheint die Lade als Modell der Person und zugleich damit als Erzählverfahren und Textprinzip. Was sich hier konturiert, ist nicht nur das Bild einer konkreten Person, sondern auch das einer personalen Struktur. Zum einen zeigt sich die schubladentypische Opposition von Außen und Innen nicht nur bei der Lade selbst, sondern wiederholt sich bei vielen der in ihr aufbewahrten Dinge sowie schließlich bei der Besitzerin selbst als Gegensatz von »lackierter« Schauseite und prosaischem Kern. Zum anderen sind die von Züs mit rhetorischer Emphase kundgegebenen »unsinnigen Phrasen« (231) genauso zusammenhanglos wie die Dinge in ihrer Schublade und zeichnen sich nicht durch eine belastbare Semantik, wohl aber eine brachiale Symptomatik aus. Ebenso wenig fügen sich die Eigenschaften der Züs Bünzlin zur Einheit einer Person, nicht einmal einer allegorischen. Züs Bünzlin erscheint eher als Konglomerat denn als Charakter. Sie erinnert in diesem Punkt an Kunigunde, die patchworkartig zusammengesetzte Antagonistin der Titelheldin in Kleists Käthchen von Heilbronn. Auch sie verfügt übrigens über ein Schubfach, in dem sie allerdings keine Memorabilia verwahrt, sondern ein Gift, das sie Käthchen verabreichen will. Dass – drittens – bei der Schilderung der Lade enigmatische Aspekte bleiben, Überständiges und lose Fäden, dürfte gleichfalls zu dem Konzept der Person gehören, das hier vorgeführt wird. Und eine weitere Konsequenz sticht ins Auge, nämlich für den Begriff des Realismus. Die Darstellung der Lade steht zwar zweifellos in der älteren Tradition eines Detailrealismus, sie sprengt aber die Konventionen des sog. Poetischen Realismus, der auf eine Ebene des Wesentlichen zielt und – zumindest programmatisch – eher an den klassizistischen Gesetzen von Ganzheit und Harmonie orientiert ist. Wenn sich der Begriff des ›Realismus‹ über mancherlei Umwege letztlich von den ›res‹, den Dingen, herleitet, dann sind diese quasi die Elementarteilchen des Realismus und dessen Anker in der ›Realität‹. Kellers Darstellung der Lade ebenso wie andere listenhafte Aufzählungen im Text (204, 219, 221, 229 f.) produzieren dabei einen zwiespältigen Effekt. Sie unterstreichen den Dingbezug des Realismus ebenso, wie sie dessen Kehrseite, die fetischistische Dingfixierung des 19. Jahrhunderts, kritisch aufs Korn nehmen. Damit zugleich führen sie zu einem Zerfall der dargestellten Welt, der durch ihren rein summarischen Charakter die Kohärenz abhandenkommt – und dies interessanterweise schon zu Beginn der Epoche, während man derartige Tendenzen sonst eher an ihrem Ende kennt, etwa beim späten Fontane. Kellers Schubladenverfahren wohnt so eine nicht unerhebliche Sprengkraft bezüglich seiner psychologischen wie poetologischen Konzepte inne. Räume der Ordnung und des Chaos
...


Begemann, Christian
Christian Begemann war bis 2020 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der LMU München.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.