E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Bellairs Das Haus der geheimnisvollen Uhren
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-23574-1
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-23574-1
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein mutiger Junge, ein uraltes Haus, ein finsteres Geheimnis
Weil seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, muss der 10-jährige Lewis zu seinem Onkel Jonathan ziehen. Zum Glück ist Onkel Jonathan nicht nur nett, sondern er lebt auch in einem uralten Haus voller Geheimgänge, verwinkelter Flure und versteckter Zimmer. So etwas hat sich Lewis schon immer gewünscht! Und das Tollste ist: Onkel Jonathan kann zaubern! Der frühere Besitzer des Hauses war allerdings auch ein Zauberer, und zwar ein sehr böser. Irgendwo tief in den Mauern hat er eine Uhr versteckt. Eine Uhr mit der Macht, das Ende der Welt herbeizuticken. Als ihm sein neuer Schulfreund das nicht glaubt, beschließt Lewis kurzerhand, selbst zu zaubern. Mit fatalen Folgen ... Der große Kinderbuchklassiker »Das Geheimnis der Zauberuhr« in komplett neuer Ausstattung
John Bellairs (1938-1991) war ein bekannter amerikanischer Autor. Seine Reihe um den Waisenjungen Lewis Barnavelt zählt seit Langem zu den Klassikern der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Nach seinem Universitätsabschluss in Englischer Literatur arbeitete Bellairs zunächst als Lehrer am College, ehe er sich nach seinen ersten Erfolgen ganz dem Schreiben widmete. Das Haus der geheimnisvollen Uhren erschien (unter dem Titel Das Geheimnis der Zauberuhr) erstmals in den Siebzigerjahren und verkaufte sich gemeinsam mit den Folgebänden der magischen Serie millionenfach.
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KAPITEL 1 Lewis Barnavelt rutschte unruhig hin und her und wischte sich die feuchten Handflächen am Sitz ab. Der Bus ratterte weiter Richtung New Zebeedee. Es war ein warmer, windiger Sommerabend des Jahres 1948, jedenfalls im Freien. Lewis sah, wie sich die monderhellten Bäume draußen am Fenster vorbeibewegten, aber das Fenster konnte man – wie alle in diesem Bus – leider nicht öffnen. Er sah hinunter auf seine blaurote Cordhose, eine von jener Art, bei der mit jedem Schritt der aneinanderreibende Stoff ein Geräusch machte. Er hob seine Hand und strich sich durchs Haar, das in der Mitte gescheitelt war und durch sein Wildwurz-Öl fest am Kopf anlag. Die fettigen Finger wischte er sich wieder am Sitz ab. Seine Lippen bewegten sich geräuschlos, und er sprach ein Gebet, das er während seiner Ministrantenzeit gelernt hatte: Quia tu es, Deus, furtitudo mea; quare me repulisti, et quare tristis incedo, dum affligit me inimicus? Da Du, o Herr, meine Kraft und meine Stärke bist, warum hast Du mich verstoßen und warum bin ich mit Sorgen beladen, während der Feind mir droht? Er versuchte, sich an andere Gebete zu erinnern, doch das einzige, das ihm noch einfiel, drückte wiederum nur Zweifel aus: Quare tristis es anima mea, et quare conturbas me? Warum trauerst du, meine Seele, und warum quälst du mich? Es kam Lewis vor, als bestünden alle seine Gedanken in diesen Tagen nur aus Fragen und Zweifeln: Wohin werde ich fahren? Welchen Menschen werde ich begegnen? Werde ich sie mögen? Was wird mit mir geschehen? Lewis Barnavelt war zehn Jahre alt. Bis vor Kurzem hatte er noch mit seinen Eltern in einer kleinen Stadt in der Nähe von Milwaukee gelebt. Aber sein Vater und seine Mutter waren eines Nachts bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und jetzt war Lewis auf dem Weg nach New Zebeedee, der Kreisstadt im Capharnaum County in Michigan. Er sollte bei seinem Onkel Jonathan wohnen, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Natürlich hatte Lewis vorher schon einiges über Onkel Jonathan gehört, zum Beispiel, dass er rauchte und trank und Poker spielte. Das waren zwar für eine katholische Familie nicht unbedingt Todsünden, aber Lewis hatte zwei ältere, allein lebende Tanten, die Baptistinnen waren, und die hatten ihn vor Jonathan gewarnt. Er hoffte, dass sich die Warnung als unnötig herausstellen würde. Als der Bus in eine Kurve fuhr, betrachtete Lewis sein Spiegelbild im Fenster neben seinem Sitz. Er sah ein dickes Mondgesicht mit glänzenden Wangen. Seine Lippen bewegten sich – Lewis fing wieder an, seine Ministranten-Gebete aufzusagen, diesmal allerdings, um Onkel Jonathan schon jetzt günstig auf ihn einzustimmen. Judica me, Deus … Richte mich, o Herr … Nein, richte mich nicht, hilf mir lieber, ein bisschen Glück zu haben. Es war fünf vor neun, als der Bus vor dem Heemsoth’s Rexall Drug Store in New Zebeedee hielt. Lewis erhob sich, wischte sich die Hände an der Hose ab und zerrte an dem gewaltigen Koffer, der weit über das stählerne Gepäckgitter hinausragte. Lewis’ Vater hatte diesen Koffer Ende des Zweiten Weltkriegs in London erstanden. Er war mit halb abgerissenen und ausgeblichenen Aufklebern der Schifffahrtsgesellschaft Cunard Line bedeckt. Lewis zog kräftig, und der Koffer landete schwankend auf seinem Kopf. Er stolperte zurück in den Gang und hielt den Koffer bedenklich unsicher hoch in der Luft, saß dann plötzlich wieder auf seinem Sitz, und der Koffer landete mit großer Wucht auf seinem Schoß. »Na, nun ist’s aber gut! Bring dich doch nicht um, bevor ich überhaupt Gelegenheit hab, dich kennenzulernen!« Im Gang stand ein Mann vor ihm mit buschigem rotem Bart, der an manchen Stellen weiße Strähnen zeigte. Seine Khaki-Hose war vorne über seinem dicken Bauch ausgebeult, und er trug eine rote Weste mit Goldknöpfen über einem dicken blauen Wollhemd. Lewis bemerkte, dass die Weste vier Taschen hatte. Aus den oberen beiden schauten Pfeifenreiniger heraus, während die beiden unteren mit einer Kette aus Büroklammern verbunden waren. Das eine Ende der Kette war mit dem gewundenen Aufziehknopf einer goldenen Uhr verhakt. Jonathan van Olden Barnavelt nahm seine qualmende Pfeife aus dem Mund und streckte ihm seine Hand entgegen. »Hallo, Lewis, ich bin dein Onkel Jonathan. Ich habe dich gleich erkannt, nach dem Foto, das mir dein Vater mal geschickt hat. Herzlich willkommen in Zebeedee.« Lewis schüttelte ihm die Hand und bemerkte dabei, dass Onkel Jonathans Handrücken von einer gekräuselten Schicht roter Haare bedeckt waren. Sie reichten bis zu seinen Manschetten und verschwanden dann darunter. Lewis fragte sich, ob Onkel Jonathan wohl am ganzen Körper so rote Haare hatte. Jonathan nahm den Koffer und stieg die Stufen im Bus hinunter. »Donnerwetter, ist der aber schwer! Da sollten besser Räder drunter sein. Huch! Mal ehrlich, hast du ein paar Ziegelsteine von eurem Haus mitgebracht?« Lewis’ Gesicht wurde so traurig bei der Erwähnung seines Zuhauses, dass Jonathan gleich beschloss, das Thema zu wechseln. Er räusperte sich und sagte: »Na dann! Wie gesagt, willkommen im Capharnaum County und im schönen, alten Zebeedee. Es hat sechstausend Einwohner, nicht mitgerechnet …« Über ihnen begann eine Uhr zu schlagen. Jonathan unterbrach sich. Er erstarrte zur Salzsäule, ließ den Koffer fallen, und seine Arme hingen schlaff herab. Lewis sah erschrocken zu ihm auf. Jonathans Augen blickten völlig glasig. Die Uhr schlug weiter. Lewis blickte nach oben. Der Klang kam von einem hohen, backsteinernen Kirchturm auf der anderen Straßenseite. Die Fensterbögen des Glockenturms sahen aus wie ein riesiger Mund mit zwei glotzenden Augen darüber. Unter dem Mund war ein großes, matt erleuchtetes Zifferblatt mit eisernen Zahlen zu erkennen. Bamm! Noch ein Schlag. Er kam von einer heiser und irgendwie unheimlich klingenden gusseisernen Glocke, und Lewis fühlte sich bei ihrem Klang verlassen und hilflos. Glocken dieser Art riefen immer dasselbe Gefühl in ihm wach. Aber was war mit Onkel Jonathan los? Die Glockenschläge hörten auf. Jonathan erwachte aus seiner Trance, schüttelte heftig den Kopf und hob mit einer ruckartigen Bewegung seine Hand zum Gesicht. Er schwitzte jetzt stark und wischte sich die Stirn und seine Wangen ab. »Hm … puh! Uff! Oje! Verzeih, Lewis, ich … ich, mir fiel nur eben ein, dass ich … dass ich einen Kessel mit kochendem Wasser auf dem Herd vergessen habe. Ich gerate jedes Mal völlig aus dem Häuschen, wenn mir etwas einfällt, was ich vergessen habe … oder andersrum. Der Boden von dem Kessel dürfte hin sein. Komm jetzt, lass uns weitergehn.« Lewis sah seinen Onkel ungläubig an, sagte aber nichts. Zusammen machten die beiden sich auf den Weg. Sie verließen die hell erleuchtete Hauptstraße, und nach kurzer Zeit marschierten sie eine lange, von Bäumen eingerahmte Promenade entlang, die Mansion Street. Die überhängenden Äste verwandelten die Mansion Street in einen langen, raschelnden Tunnel. In der Ferne sah man helle Flecke vom Licht vieler Laternen und Lampen. Während sie weitergingen, erkundigte sich Jonathan nach Lewis’ Schulnoten und ob er wüsste, was für eine Schlagquote der Baseballspieler George Kell in diesem Jahr hätte. Er machte ihm klar, dass er nun, da er in Michigan lebte, ein Anhänger der Tigers werden müsse. Jonathan beklagte sich zwar nicht mehr über den Koffer, blieb jedoch in regelmäßigen Abständen stehen und schüttelte seine Hand aus, die schon ganz rot war. Lewis kam es vor, als ob Jonathan in den dunklen Abständen zwischen den Straßenlaternen viel lauter sprach als sonst, aber warum er das tat, blieb ihm ein Rätsel. Erwachsene hatten doch eigentlich keine Angst im Dunkeln,und außerdem befanden sie sich auch auf keiner einsamen Straße. In den meisten Häusern brannte Licht, und Lewis konnte hören, wie die Leute drinnen lachten, erzählten und Türen schlugen. Sein Onkel war zweifellos ein seltsamer Mensch, aber irgendwie auf gute Weise seltsam. An der Ecke Mansion und High Street blieb Jonathan stehen. Er stellte den Koffer ab vor einem Briefkasten mit der Aufschrift NUR FÜR BRIEFPOST. »Da oben wohne ich, auf dem Hügel«, sagte Jonathan und wies hinauf. High Street war genau der richtige Name. Es ging hinauf, immer höher, in leicht gebeugter Haltung kämpften sie sich mühsam vorwärts. Lewis fragte Jonathan mehrmals, ob er ihm nicht den Koffer abnehmen solle, doch jedes Mal antwortete Jonathan: »Nein, danke, es geht schon.« Lewis begann sich Vorwürfe zu machen, dass er all seine Bücher und die ganzen Bleisoldaten eingepackt hatte. Als sie oben auf dem Hügel angelangt waren, stellte Jonathan den Koffer ab, holte ein buntes Taschentuch hervor und wischte sich über das Gesicht. »Tja, da sind wir also, Lewis. Barnavelt’s Folly. Gefällt’s dir?« Lewis sah sich um. Er sah ein dreistöckiges steinernes Herrenhaus mit einem hohen Turm an der Vorderfront. Das ganze Haus war erleuchtet, im Erdgeschoss, im ersten Stock und im Dachgeschoss. Sogar das kleine ovale Fenster, das wie ein Auge zwischen den Schindeln oben am Turm hervorlugte. Im Vorhof wuchs eine riesige Kastanie, deren Blätter im warmen Sommerwind rauschten. Jonathan stand breitbeinig da, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und fragte noch einmal: »Gefällt’s dir hier, Lewis?« »Super, Onkel Jonathan! Ich hab mir schon immer gewünscht, einmal in so einem Haus zu wohnen, das ist doch ganz bestimmt sehr...