E-Book, Deutsch, 543 Seiten
Benn Sämtliche Gedichte
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-608-11054-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 543 Seiten
ISBN: 978-3-608-11054-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im vorliegenden Band sind alle gedruckten und auch die zu Lebzeiten Benns ungedruckten Gedichte enthalten.
Benns Dichtung hat die Themen des europäischen Nihilismus in einer Sprache formuliert, deren Faszinationskraft bis heute nicht verblaßt ist. 1912 tritt er mit den schockierend zynischen Gedichten der 'Morgue' an die Öffentlichkeit, den Primat der Ratio und der Geschichte radikal verwerfend. Zwischen den Kriegen wird die wilde Formlosigkeit des Anfangs durch Metrum und Reim abgelöst, durch einen Stil, in dem das 'lyrische Ich' der Formtradition folgt. Benns Gedichte bannen das Material der Geschichte in Chiffren, die sich zum 'Valse triste', zum Abschiedsgestus, zur Lebensstimmung des 'Aprèslude' fügen. Seine Ästhetik, die gegen die finale Lage ihrer Epoche die 'Transzendenz der schöpferischen Lust' setzt, hat bis in unsere Tage unabsehbare Wirkung auf die deutsche Literatur gehabt.
Autoren/Hrsg.
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1912–1920
MORGUE
I KLEINE ASTER Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster zwischen die Zähne geklemmt. Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn. Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! Ruhe sanft, kleine Aster! II SCHÖNE JUGEND Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte, sah so angeknabbert aus. Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig. Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell fand man ein Nest von jungen Ratten. Ein kleines Schwesterchen lag tot. Die andern lebten von Leber und Niere, tranken das kalte Blut und hatten hier eine schöne Jugend verlebt. Und schön und schnell kam auch ihr Tod: Man warf sie allesamt ins Wasser. Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten! III KREISLAUF Der einsame Backzahn einer Dirne, die unbekannt verstorben war, trug eine Goldplombe. Die übrigen waren wie auf stille Verabredung ausgegangen. Den schlug der Leichendiener sich heraus, versetzte ihn und ging für tanzen. Denn, sagte er, nur Erde solle zur Erde werden. IV NEGERBRAUT Dann lag auf Kissen dunklen Bluts gebettet der blonde Nacken einer weißen Frau. Die Sonne wütete in ihrem Haar und leckte ihr die hellen Schenkel lang und kniete um die bräunlicheren Brüste, noch unentstellt durch Laster und Geburt. Ein Nigger neben ihr: durch Pferdehufschlag Augen und Stirn zerfetzt. Der bohrte zwei Zehen seines schmutzigen linken Fußes ins Innere ihres kleinen weißen Ohrs. Sie aber lag und schlief wie eine Braut: am Saume ihres Glücks der ersten Liebe und wie vorm Aufbruch vieler Himmelfahrten des jungen warmen Blutes. Bis man ihr das Messer in die weiße Kehle senkte und einen Purpurschurz aus totem Blut ihr um die Hüften warf. V REQUIEM Auf jedem Tisch zwei. Männer und Weiber kreuzweis. Nah, nackt, und dennoch ohne Qual. Den Schädel auf. Die Brust entzwei. Die Leiber gebären nun ihr allerletztes Mal. Jeder drei Näpfe voll: von Hirn bis Hoden. Und Gottes Tempel und des Teufels Stall nun Brust an Brust auf eines Kübels Boden begrinsen Golgatha und Sündenfall. Der Rest in Särge. Lauter Neugeburten: Mannsbeine, Kinderbrust und Haar vom Weib. Ich sah, von zweien, die dereinst sich hurten, lag es da, wie aus einem Mutterleib. DER ARZT
I Mir klebt die süße Leiblichkeit wie ein Belag am Gaumensaum. Was je an Saft und mürbem Fleisch um Kalkknochen schlotterte, dünstet mit Milch und Schweiß in meine Nase. Ich weiß, wie Huren und Madonnen riechen nach einem Gang und morgens beim Erwachen und zu Gezeiten ihres Bluts – und Herren kommen in mein Sprechzimmer, denen ist das Geschlecht zugewachsen: die Frau denkt, sie wird befruchtet und aufgeworfen zu einem Gotteshügel; aber der Mann ist vernarbt, sein Gehirn wildert über einer Nebelsteppe, und lautlos fällt sein Samen ein. Ich lebe vor dem Leib: und in der Mitte klebt überall die Scham. Dahin wittert der Schädel auch. Ich ahne: einst werden die Spalte und der Stoß zum Himmel klaffen von der Stirn. II Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch –: geht doch mit anderen Tieren um! Mit siebzehn Jahren Filzläuse, zwischen üblen Schnauzen hin und her, Darmkrankheiten und Alimente, Weiber und Infusorien, mit vierzig fängt die Blase an zu laufen –: meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde von Sonne bis zum Mond –? Was kläfft ihr denn? Ihr sprecht von Seele – was ist eure Seele? Verkackt die Greisin Nacht für Nacht ihr Bett – schmiert sich der Greis die mürben Schenkel zu, und ihr reicht Fraß, es in den Darm zu lümmeln, meint ihr, die Sterne samten ab vor Glück …? Äh! – Aus erkaltendem Gedärm spie Erde wie aus anderen Löchern Feuer, eine Schnauze Blut empor –: das torkelt den Abwärtsbogen selbstgefällig in den Schatten. III Mit Pickeln in der Haut und faulen Zähnen paart sich das in ein Bett und drängt zusammen und säet Samen in des Fleisches Furchen und fühlt sich Gott bei Göttin. Und die Frucht – –: das wird sehr häufig schon verquiemt geboren: mit Beuteln auf dem Rücken, Rachenspalten, schieläugig, hodenlos, in breite Brüche entschlüpft die Därme –; aber selbst was heil endlich ans Licht quillt, ist nicht eben viel, und durch die Löcher tropft die Erde: Spaziergang –: Föten, Gattungspack –: ergangen wird sich. Hingesetzt. – Finger wird berochen. Rosine aus dem Zahn geholt. Die Goldfischchen –!!! –! Erhebung! Aufstieg! Weserlied! Das Allgemeine wird gestreift. Gott als Käseglocke auf die Scham gestülpt –: der gute Hirte –!! – – Allgemeingefühl! – Und abends springt der Bock die Zibbe an. MANN UND FRAU GEHN DURCH DIE KREBSBARACKE
Der Mann: Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust. Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich. Komm, hebe ruhig diese Decke auf. Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte, das war einst irgendeinem Mann groß und hieß auch Rausch und Heimat. Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern. Kein Mensch hat so viel Blut. Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß. Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntags für den Besuch läßt man sie etwas wacher. Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht. Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft. SAAL DER KREISSENDEN FRAUEN
Die ärmsten Frauen von Berlin – dreizehn Kinder in anderthalb Zimmern, Huren, Gefangene, Ausgestoßene – krümmen hier ihren Leib und wimmern. Es wird nirgends so viel geschrien. Es wird nirgends Schmerzen und Leid so ganz und gar nicht wie hier beachtet, weil hier eben immer was schreit. »Pressen Sie, Frau! Verstehn Sie, ja? Sie sind nicht zum Vergnügen da. Ziehn Sie die Sache nicht in die Länge. Kommt auch Kot bei dem Gedränge! Sie sind nicht da, um auszuruhn. Es kommt nicht selbst. Sie müssen was tun!« Schließlich kommt es: bläulich und klein. Urin und Stuhlgang salben es ein. Aus elf Betten mit Tränen und Blut grüßt es ein Wimmern als Salut. Nur aus zwei Augen bricht ein Chor von Jubilaten zum Himmel empor. Durch dieses kleine fleischerne Stück wird alles gehen: Jammer und Glück. Und stirbt es dereinst in Röcheln und Qual, liegen zwölf andere in diesem Saal. CURETTAGE
Nun liegt sie in derselben Pose, wie sie empfing, die Schenkel lose ...