E-Book, Deutsch, 458 Seiten
Bergson / Kantorowicz Schöpferische Entwicklung
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7554-6340-5
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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Zwar wird man sich hier auf das Gesetz der Korrelation berufen, an das schon Darwin appelliert hat, wird anführen, daß die Veränderung nicht an einem einzigen Punkt des Organismus lokalisiert sei, daß sie an anderen Punkten ihren notwendigen Rückschlag finde. Die von Darwin zitierten Beispiele sind klassisch geblieben: weiße Katzen mit blauen Augen sind gewöhnlich taub, haarlose Hunde haben ein unvollständiges Gebiß usw. Zugegeben! nur treibe man hier kein Spiel mit dem Sinn des Worts »Korrelation«. Ein anderes ist es um einen Zusammenhang solidarischer Veränderungen, ein anderes um ein System komplementärer, d. h. einander derartig angemessener Veränderungen, daß [73] sie das Funktionieren eines Organs unter komplizierteren Bedingungen aufrecht erhalten, ja vervollkommnen. Daß eine Anomalie des Haarwuchses von einer Anomalie der Zahnbildung begleitet ist, darin liegt nichts, was ein eigenes Erklärungsprinzip beanspruchte. Haare und Zähne sind homologe Gebilde29; dieselbe chemische Alteration des Keimes, die den Haarwuchs beeinträchtigte, muß jedenfalls auch die Zahnbildung stören. Und wahrscheinlich sind es Ursachen gleicher Art, auf denen die Taubheit der weißen Katzen mit blauen Augen beruht. In all diesen Beispielen sind die »korrelativen« Veränderungen nur »solidarische« — ganz abgesehen noch davon, daß sie nur »Schäden«, ich meine Herabminderungen oder Ausmerzungen, sind und nicht Hinzufügungen, was etwas ganz anderes ist. In völlig neuem Sinn dagegen wird das Wort gebraucht, wenn man uns von den »korrelativen« Veränderungen spricht, die plötzlich in den verschiedenen Teilen des Auges hervortreten: denn jetzt handelt es sich um einen Zusammenhang von Veränderungen, die nicht nur gleichzeitig, nicht nur durch die Gemeinsamkeit des Ursprungs verbunden, sondern darüber hinaus derart aufeinander angelegt sind, daß nicht nur das Organ fortfährt, dieselbe einfache Funktion auszuüben, sondern daß es sie sogar besser erfüllt. Daß eine, die Netzhaut beeinflussende Modifikation zugleich auch auf Hornhaut, Iris und Sehzentren wirke, das will ich zur Not zugeben, obgleich hier noch in ganz anderm Sinn heterogene Gebilde vorliegen, als Haare und Zähne es zweifellos sind. Daß aber all diese gleichzeitigen Variationen sich im Sinn einer Vervollkommnung, ja nur Aufrechterhaltung des Sehens vollziehen, das ist es, was ich der Hypothese der sprunghaften Variation nicht zugeben kann; es sei denn, daß man ein mysteriöses Prinzip zu Hilfe rufe, dessen Rolle es wäre, die Interessen der Funktion zu hüten: das aber hieße, auf den Begriff der »zufälligen« Variation verzichten. In Wirklichkeit indes gehen beide Bedeutungen des Begriffs »Korrelation« im Geist des Biologen [74] gerade so oft durcheinander, wie die des Begriffs »Anpassung«. Ja, beinahe legitim ist ihre Vermengung im Gebiet der Botanik, dort also, wo die Theorie der Artbildung durch sprunghafte Variation auf solidester experimenteller Grundlage ruht. Bei der Pflanze nämlich ist die Funktion bei weitem nicht so eng an die Form gebunden wie beim Tier. Tiefgreifende morphologische Verschiedenheiten, wie etwa die Formveränderung der Blätter, sind ohne nachweisbaren Einfluß auf die Ausübung der Funktion und erfordern infolgedessen auch nicht ein ganzes System von Umformungen, um die Pflanze lebensfähig zu erhalten. Ganz anders jedoch beim Tier; dann vorzüglich, wenn ein Organ wie das Auge, mit höchst zusammengesetztem Bau und empfindlicher Funktion, in Betracht kommt. Umsonst wäre hier jeder Versuch, die bloß solidarischen Variationen mit jenen anderen zu identifizieren, die darüber hinaus noch ergänzenden Wesens sind. Hier sind die beiden Bedeutungen des Worts »Korrelation« auf das sorgfältigste zu scheiden: hier hieße es, sich einen wirklichen Paralogismus zu schulden kommen lassen, wenn man eine dieser Bedeutungen in die Prämisse, die andere in die Konklusion des Schlusses einsetzte. Dennoch ist es eben dies, was man tut, wenn man zur Begründung der ergänzenden Variation bei Einzelerklärungen das Korrelationsprinzip anruft, gleich danach aber von Korrelation im allgemeinen redet, als ob sie nur eine beliebige Summe von Variationen wäre, die durch eine ebenso beliebige Variation des Keimes veranlaßt worden wäre. Ganz wie die Vertreter der Zweckmäßigkeitslehre, macht sich die moderne Wissenschaft an die Ausnützung des Korrelationsbegriffs: nur eine Bequemlichkeit des Ausdrucks, so sagt sie sich, liege hier vor, die man berichtigen und von der man zum reinen Mechanismus zurückkehren werde, sobald man sich erst über das Wesen der Prinzipien auszusprechen und von der Wissenschaft zur Philosophie überzugehen habe. Und in der Tat kehrt man dann zum Mechanismus zurück: mit dem Vorbehalt nur, daß jetzt das Wort Korrelation in einem ganz neuen, einem für die Einzelerklärung ganz ungeeigneten Sinn genommen wird. [75] Mit einem Wort also, wenn die zufälligen, die Entwicklung bestimmenden Variationen unmerkliche sind, dann muß an einen gütigen Geist — den Geist der künftigen Art — appelliert werden, um diese Variationen zu erhalten und zu summieren, denn nicht die Auslese ist es, die das besorgen wird; wenn sie dagegen sprunghafte sind, dann wird die bisherige Funktion in ihrer Ausübung versagen und eine neue sie nur unter der Bedingung ersetzen, daß alle gleichzeitig auftretenden Variationen sich dazu ergänzen, einen Gesamtakt zustande zu bringen: wieder also wird man zu jenem guten Geist flüchten müssen, diesmal um die Konvergenz der gleichzeitigen Veränderungen zu erreichen, so wie vorher, um die Richtungskontinuität der nacheinander folgenden Variationen zu sichern. Und so wenig im einen wie im andern Fall entstammt die Parallel-Entwicklung gleichartiger komplexer Gebilde der bloßen Summierung zufälliger Variationen. Hiermit sind wir zur zweiten der großen Hypothesen gelangt, die zu prüfen waren. Mit ihr nehmen wir an, daß die Variationen nicht auf zufällige innere Ursachen, sondern auf unmittelbare Einflüsse der äußeren Bedingungen zurückgehen, und sehen nun zu, wie man es von hier aus anfängt, die Ähnlichkeit der Augenbildung innerhalb phylogenetisch selbständiger Reihen zu erklären. Mägen sich auch Mollusken- und Wirbeltierauge getrennt entwickelt haben, dem Einfluß des Lichts sind beide ausgesetzt geblieben. Licht aber ist eine physikalische Ursache, die bestimmte Wirkungen hervorbringt. Und als kontinuierlich wirkende hat sie eine kontinuierliche Variation in konstanter Richtung schaffen können. Das freilich ist unwahrscheinlich, daß Wirbeltier- und Molluskenauge sich auf Grund einer Reihe von Variationen gebildet habe, die dem bloßen Zufall verdankt wäre. Denn gesetzt auch, das Licht greife dabei nachträglich als Instrument der Auslese ein, um nur die nützlichen Variationen bestehen zu lassen, so spräche doch nicht die geringste Chance dafür, daß selbst ein derartig von außen her überwachtes Spiel des Zufalls in zwei Fällen zum gleichen und gleicherweise ineinandergreifenden Nebeneinander von Teilen führen werde. Ganz [76] anders indes in einer Hypothese, welche das Licht unmittelbar auf die organische Materie wirken läßt, um sie in ihrem Bau zu modifizieren und sie irgendwie seiner eigenen Form anzupassen. Hier würde sich die Ähnlichkeit der Wirkung einfach aus der Gleichheit der Ursache erklären. Das immer zusammengesetztere Auge wäre gewissermaßen der immer schärfere Abdruck des Lichts in einer Materie, die, als organische, zu seiner Annahme eine Anlage sui generis besäße. DIE ORTHOGENESIS Kann aber ein organisches Gebilde einem Abdruck verglichen werden? Die Zweideutigkeit des Begriffs Anpassung wurde schon aufgedeckt. Ein anderes ist es um gradweise Komplizierung einer Form, die sich der Hohlform der äußeren Bedingungen ankrümmt, ein anderes um den immer verwickelteren Bau eines Instruments, das aus diesen Bedingungen wachsenden Vorteil zieht. Im ersten Fall beschränkt sich die Materie darauf, einen Abdruck zu empfangen, im zweiten reagiert sie aktiv, löst sie ein Problem. Von diesen beiden Bedeutungen des Worts nun ist es offenbar die zweite, deren man sich bedient, wenn von der immer vollkommneren Anpassung des Auges an den Einfluß des Lichts die Rede ist. Gleich danach aber gleitet man mehr oder weniger unbewußt zur ersten hinüber, und immer wird es die Bemühung einer rein mechanistischen Biologie sein, die passive Anpassung eines Stücks toter Materie, die dem Einfluß der Umgebung unterliegt, mit der aktiven Anpassung eines Organismus zusammenfallen zu lassen, der aus jenem Einfluß den ihm gemäßen Vorteil zieht. Auch scheint die Natur selbst uns dazu zu versuchen, beide Arten von Anpassung zu verwechseln; da sie dort mit passiver Anpassung zu beginnen pflegt, wo später ein aktiv reagierender Apparat konstruiert werden soll. So ist es z. B. in unserem Fall ganz unbestreitbar, daß sich das erste Rudiment des Auges im Pigmentfleck der niederen Organismen findet: dieser Fleck aber mag sehr wohl durch bloße Wirkung des Lichts entstanden sein, und eine Unzahl von Mittelgliedern lassen sich zwischen ihm und einem so komplizierten Auge wie dem des Wirbeltieres beobachten. — Daraus jedoch, [77] daß man...