E-Book, Deutsch, 440 Seiten
Berni Außer Gefecht
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86854-987-4
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leben, Leiden und Sterben "kommunistischer" Gefangener in Vietnams amerikanischem Krieg
E-Book, Deutsch, 440 Seiten
ISBN: 978-3-86854-987-4
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anhand bisher geheimer Quellen untersucht Marcel Berni das Schicksal von 200.000 'kommunistischen' Gefangenen, die während des Vietnamkrieges schlimmsten Gräueltaten ausgesetzt waren - durch US-amerikanische und südvietnamesische Soldaten, durch Geheimdienstagenten und Polizisten. Er schildert den Lageralltag in den Gefängnissen und beleuchtet die Praktiken in den diversen Verhörzentren, die von simplen Schikanen bis hin zu Folter, Mord und Verstümmelungen reichten. Besonders der Konnex zwischen exemplarischer Gewalt und Inszenierung der eigenen Stärke; zwischen Selbstermächtigung und Frustrationsbewältigung wird hierbei berücksichtigt und die amerikanische Mitverantwortung deutlich herausgestrichen. Die überbordende Gewalt in all ihren Dimensionen belegen zu können, ist das zentrale Ergebnis dieser bemerkenswerten Studie.
Marcel Berni, Historiker, forscht und lehrt an der Dozentur für Strategische Studien der Schweizerischen Militärakademie an der ETH Zürich. Seine Dissertationsschrift über die Gewalterfahrungen 'kommunistischer' Gefangener in Vietnams 'amerikanischem' Krieg basiert auf vierjähriger Quellenrecherche in 14 Archiven auf drei Kontinenten.
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Einleitung
»Der Soldat, ob Freund oder Feind, ist für den Schutz der Schwachen und Unbewaffneten verantwortlich. Das ist die Essenz und der Grund seines Seins. Wenn er dieses heilige Vermächtnis verletzt, entweiht er nicht nur sein gesamtes Selbstverständnis, sondern bedroht auch das Fundament der internationalen Gesellschaft.« Douglas MacArthur, 19461 »In keinem der beiden jüngsten Kriege, in denen sich die Vereinigten Staaten befanden, weder im Zweiten Weltkrieg noch in Korea, stellte die Behandlung von Gefangenen ein so ernsthaftes Problem dar wie in Vietnam.« Neil Sheehan, 19652 Eigentlich hätte es eine ruhige Patrouille im Hinterland der südvietnamesischen Provinz Long An werden sollen. Als die Männer des Zuges von First Lieutenant James B. Duffy in der Abenddämmerung des 4. September 1969 das Dorf Phouc Tan Hung 70 Kilometer südwestlich von Saigon erreichten, war die Wahrscheinlichkeit, auf den Vietcong zu treffen, ausgesprochen gering. Nur ein Prozent der zwei Millionen Bodenoperationen der amerikanischen Truppen hatten in den beiden letzten Jahren zu Kontakten mit dem Gegner geführt.3 Doch auch in einer Periode mit niedriger Kampfintensität war die Gefahr für die Soldaten der C Company, 2nd Battalion (mechanized), 47th Infantry Regiment, 3rd Brigade, 9th Infantry Division, omnipräsent. Es waren weniger Kämpfe, Scharmützel oder Feuerwechsel mit direkter Feindeinwirkung, die den GIs auf ihren Patrouillen zusetzten, als vielmehr die Anschläge und Fallen des Gegners. Zwischen Januar 1967 und September 1968 war in der »Republik Vietnam«, besser bekannt als Südvietnam, fast ein Fünftel aller amerikanischen Verluste auf das Konto von Minen und Sprengfallen gegangen. Im Juli 1969 waren 41 Prozent aller getöteten Marines Opfer von improvisierten Explosionsladungen geworden.4 Was Amerikas Marineinfanteristen im Norden Südvietnams Probleme bereitete, war auch für Duffys Männer im südlichsten Teil der III. Corps Tactical Zone (CTZ) zur Hauptgefahr avanciert. Bis zum Kriegsende sollte die 9th Infantry Division in der Provinz Long An 755 Tote zu beklagen haben.5 Am gefährlichsten war das Durchkämmen von Dörfern und Weilern. Aus diesem Grund begegneten viele US-Infanteristen schon bald allen südvietnamesischen Zivilisten mit Misstrauen und Geringschätzung. Unberechenbare Nadelstichoperationen und die ständige Angst vor Minen und Hinterhalten schürten Hass und Rachegelüste und führten zu Frustration. Da der Gegner offene Feldschlachten vermied, ließ sich das Schlachtfeld in Südvietnam nicht begrenzen – weder territorial noch sozial. Die daraus resultierende Hilflosigkeit prägte die militärische Operationsplanung der einzigen Heeresdivision, die in den USA mobilisiert wurde, und mit der Zeit die gesamte amerikanische Wahrnehmung des Vietnamkrieges. In Fort Riley (Kansas) ausgebildet, hatten die Soldaten der 9th Infantry Division den Auftrag, für Sicherheit in den umliegenden Dörfern zu sorgen und die Insurgenten des Vietcong zurückzudrängen. In den Mangrovenwäldern und auf den von Wasserwegen und Kanälen durchzogenen Reisfeldern war dies für Duffys Männer keine einfache Aufgabe. Außerdem gab es einen gewissen Erfolgsdruck, hatte doch die Operation »Speedy Express« in der angrenzenden Provinz Dinh Tuong vier Monate zuvor mit einer »Killed-in-Action«-Relation von 1:37 alle Rekorde der amerikanischen Tötungsquoten gebrochen – auf einen getöteten Amerikaner kamen 37 Gegner.6 Gefangene wurden bei solchen Operation nur selten gemacht; die Devise von Duffys Vorgesetztem lautete: »Je mehr du tötest, desto effizienter bist du.«7 Im September 1969 war die Operation »Speedy Express« jedoch abgeschlossen und die anbrechende Regenzeit hatte die Stimmung der Truppe getrübt. Trotzdem konnte die 3rd Brigade der 9th Infantry Division für die beiden vorangegangenen Monate einen »Body Count« von 842 vorweisen, 199 Zivilgefangene sowie 40 Kriegsgefangene wurden festgenommen, und die Soldaten hatten 18 Waffen konfisziert.8 Die Operation »Complete Victory (Toan Thang III)« war in vollem Gange, und die Männer waren motiviert, »den Feind mit aggressiven […] Operationen aufzuspüren und ihn am Einsatz von Mann und Mittel zu hindern«.9 So stellte sich die allgemeine Lage dar, als Duffys Zug an jenem Septemberabend 1969 das Dorf Phouc Tan Hung erreichte. Dort angekommen, griffen Duffys Männer einen im Bunker seiner Hütte versteckten Bauern auf, den 22-jährigen Do Van Man, der dort mit seiner Frau, den vier gemeinsamen Kindern und seinem Schwiegervater lebte. Duffy, ein schlanker, 23 Jahre alter Infanterieoffizier und begnadeter Baseballspieler aus dem kalifornischen Claremont, bezichtigte den Mann, ein untergetauchter Kämpfer des Vietcong zu sein. Nachdem er die Identitätskarte des Mannes vor dessen Augen zerrissen hatte, fragte er seine Männer, wie der »kommunistische Gefangene« am besten zu verhören und eliminieren sei.10 Der Kompaniekommandeur, Captain Howard D. Turner, habe ihn angewiesen, keine Gefangenen zu machen – ein Vorgehen, das gemäß den Aussagen Duffys und seiner Kameraden »gang und gäbe« war.11 Schließlich wies er seine Männer an, den Vietnamesen im Beisein seiner Familie bis auf die Unterhose zu entkleiden und an einen Pfahl zu fesseln. Dort wurde der Gefangene verhört, ohnmächtig geschlagen, mit Dreck beschmiert und die Nacht über hängen gelassen. »Wir wollten einfach ein bisschen Spaß haben« – so die Begründung für die Misshandlung von einem der Männer.12 Am nächsten Tag sollte der Gefangene erschossen werden. Einem GI des Zuges gingen jedoch Duffys Befehle derart geben den Strich, dass er sich aus Protest davonmachte: Specialist 4 George D. Chunko wollte mit dem sich abzeichnenden Mordgeschehen offenkundig nichts zu tun haben.13 Abb. 1John R. Lanasa (links) mit Rechtsberater John Calvino und Psychiater Dr. Stanley Portnow Am nächsten Morgen band Specialist 4 John R. Lanasa den Gepeinigten los und eskortierte ihn zu einem nahe gelegenen Waldabschnitt. Zuvor war er von Duffy angewiesen worden, mit dem Plan fortzufahren und den Gefangenen zu erschießen. Beim Wald angekommen, zog Lanasa sein M-16-Sturmgewehr, zielte auf den Kopf von Do Van Man und drückte aus nächster Nähe ab. Das Gewehr klickte, versagte aber seinen Dienst. Das Opfer sank zu Boden und bangte um sein Leben. Der Sergeant repetierte; dieses Mal funktioniert seine Waffe, und die Kugel schlug zwischen den Augen des Opfers ein. Lanasa, der wegen seiner Vergangenheit als Rodeo-Reiter in Louisiana von seinen Kameraden nur »Cowboy« genannt wurde, meinte nach seiner Tat: »Ich wollte schon immer einem Gook [Schlitzauge, MB] zwischen die Augen schießen.«14 Danach feuerte der ebenfalls anwesende Funker David G. Walstadt noch 14 Mal auf den leblosen Körper, ein weiterer GI schoss drei Mal auf die Leiche. Unmittelbar nach der Tat berichteten Duffys Männer dem Brigadehauptquartier, dass ein flüchtender Gefangener erschossen worden sei und sie einen »Body Count« zu melden hätten.15 Specialist 4 George D. Chunko sollte später schreiben, dass Duffys Entscheidung, den Vietnamesen als feindlichen Gefangenen zu behandeln, vorsätzlich gefallen war. Er selbst sei von der Tat »absolut angewidert« gewesen. Duffy habe ein »böswilliges Vergnügen« an den Misshandlungen und dem anschließenden Mord gezeigt.16 Zur Anklage im »Duffy-Lanasa-Vorfall«, wie der Gefangenenmord von der US Army beschönigend genannt wurde, kam es aus zwei Gründen: erstens, weil die Ehefrau von Do Von Man die Leiche ihres Mannes entdeckt hatte, und zweitens, weil Chunko die Geschehnisse in einem Brief festhielt, der den Weg zu dem Abgeordneten Morris K. Udall fand. Udall, Demokrat und Veteran des Zweiten Weltkriegs, hatte bereits zuvor für eine Aufarbeitung amerikanischer Kriegsverbrechen plädiert. Nun verlangte er vom Heeresminister eine unverzügliche Aufklärung. Die Vorwürfe in Chunkos Brief waren nämlich »so konkret«, dass sie eine »prompte und sorgfältige Untersuchung« verlangten, nicht zuletzt, weil die Vorwürfe von einem toten GI stammten.17 Abb. 2Die Ehefrau und ein Kind von Do Van Man Der Sanitätssoldat George D. Chunko war nämlich 48 Stunden nach dem Verfassen seines Briefes durch Splitter tödlich verwundet worden. Seine Eltern vermuteten einen Mord, weshalb sie den Brief an Udall weiterleiteten.18 Ab diesem Zeitpunkt konnte ein Verfahren vor einem Militärgericht nicht mehr verhindert werden. Die Army fürchtete sich vor...