Buch, Deutsch, Band 8, 269 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 379 g
Identitätssuche auf den Spuren der Moderne
Buch, Deutsch, Band 8, 269 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 379 g
Reihe: Interdisziplinäre Stadtforschung
ISBN: 978-3-593-39314-8
Verlag: Campus
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Inhalt
Vorwort. 7
Einführung. 10
1. Theoretischer Rahmen: Städtisches Wissen und urbane Bildproduktion. 17
2. Schwierige Ortsbezüge: Sich Einrichten in Ostdeutschland. 33
3. Contested Heritage Bauhaus: Zwischen Welterbe, nationalem Leuchtturm und kulturellem Ort. 56
4. Städtischer Wandel als Programm: Stadtumbau, Geschichtspolitik und Imageproduktion. 102
5. 'Hier weht schon der Geist des Fortschritts': Figuren und Topoi der Stadterzählungen. 174
6. Dessaus Erben: Wir machen Bauhausstadt. 199
Fazit. 243
Literatur. 258
2. Schwierige Ortsbezüge: Sich Einrichten in Ostdeutschland
Die Neuverortung Dessaus nach 1990 fand vor dem Hintergrund des doppelten
Strukturbruchs statt, den Dessau als ehemaliges Zentrum der DDR-Chemie
und des Maschinenbaus erlebt hat. Erstens: Wie viele ostdeutsche Industriestandorte
sah die Stadt sich plötzlich mit den Konditionen globaler wirtschaftlicher
Arbeitsteilung konfrontiert – diesen Sprung ins kalte Wasser
haben nur wenige Betriebe überlebt. Deindustrialisierung und hohe Arbeitslosigkeit
sind insbesondere in monostrukturell aufgestellten Regionen, zu
denen Dessau gehört, die Folge. Zweitens: Mit dem Fall der Mauer 1989
wurde ein gesellschaftlicher Systemwandel eingeleitet, der bis heute auf ganz
unterschiedliche Weise die Städte und Regionen Ostdeutschlands prägt.
Während die politische, institutionelle und wirtschaftliche Zusammenführung
relativ schnell vonstatten ging, scheint die Frage nach der kulturellen Integration
auch 20 Jahre danach immer noch aktuell. Die Persistenzen in den Normen
und Deutungsmustern haben mittlerweile zu der Einsicht geführt, dass
mit 'Ostdeutschland' nicht nur die gemeinsam geteilte Vergangenheit vor
1989 angesprochen ist, sondern auch 'Eigensinnigkeiten' reklamiert werden,
die die Erfahrungen der Transformation als Ressource und Potenzial interpretieren.
In diesem Kapitel wird es darum gehen, Dessaus Ringen um ein neues
städtisches Selbstverständnis in den Kontext ostdeutscher Transformation
einzubetten. Dabei steht im Zentrum der Ausführungen die Frage nach den
spezifischen Modi der Verortung in Ostdeutschland, anders gesprochen: In
welchem Verhältnis stehen nationale, regionale und lokale Bezüge zueinander,
stellt man die Irritationen auf der räumlichen und zeitliche Ebene in Rechnung,
die mit dem gesellschaftlichen Systemwandel einhergehen. Das Gesicht
Dessaus, das berichten Reiseführer heute nicht ohne Stolz, hat sich noch nie
so schnell verändert wie in den letzten 15 Jahren. Von Straßennamen, über
Nachbarschaften, Wohnviertel bis hin zu Betrieben und ganzen Landschaften,
die Orientierung in der Stadt verlangt ein ständig neues Navigieren im Stadtraum. Die alten Karten und mental maps leisten keine Orientierungshilfe.
Aber auch auf der zeitlichen Ebene herrscht Konfusion: Ostdeutsche Lebenslaufmuster
von der 'Wiege bis zur Bahre' wurden abgelöst durch junge flexible
Kleinunternehmer, die auch nach der zehnten Pleite immer noch den Mut
zum Neuanfang haben, während der zahlenmäßig größte Teil der pensionierten
Einwohner der Stadt in Vereinen 'alte' Zeiten neu entdeckt. Die städtischen
Jugendlichen hoffen an den wenigen Orten globaler Konsumkultur
dieser 'bleiernen Zeit' zu entkommen.
Überlegungen zum Begriff der Transformation stehen am Anfang der
Ausführungen. Für diese Arbeit wird, in Anlehnung an die im ersten Kapitel
geführte Diskussion zum Habitus der Stadt, der Begriff der 'Pfadabhängigkeit'
aufgegriffen. Seit Ende der neunziger Jahre setzte sich auch in der soziologischen
Transformationsforschung die Einsicht durch, dass lokale und regionale
Eigenheiten für den jeweiligen Wandlungsprozess dieser Räume entscheidend
sind. Wie also Städte und Regionen auf die Herausforderungen des
Strukturwandels reagieren, hat viel mit ihrer jeweiligen Geschichte, Kultur
und Tradition zu tun. Im Gegensatz zu der stark an einer festgelegten Zielgröße
ausgerichteten Transformationsperspektive – im Sinne eines klar definierten
Weges vom Sozialismus zum Kapitalismus westlicher Prägung – wird hier
der Begriff des 'Umbruchs' (Michael Thomas) favorisiert, der die jeweils
besonderen Gestaltungs- und Innovationsprozesse von Städten und Regionen
in den Blick nehmen kann.
Mit dem 'Sonderfall Ostdeutschland' werden die spezifischen Transformationspfade
der ostdeutschen Gesellschaft nach 1990 diskutiert. Damit
sind besondere Konstellationen entstanden, die für die Art und Weise, wie
sich Ostdeutsche zur wiedervereinten Nation, zur Region oder zu ihrer Stadt
ins Verhältnis setzten, ausschlaggebend waren. Die Erfindung 'Ostdeutschlands
' als kollektives Identifikationsangebot wird hier als Resultat des Versagens
nationalstaatlicher Integration im Sinne des Einlösens des Versprechens gleicher
Lebensverhältnisse in Ost und West interpretiert. 'Ostdeutschland' wird
hier als kulturelles Konstrukt diskutiert, dass, obwohl es politisch-administrativ
vollkommen bedeutungslos ist, ein Identifikationsangebot mit vielfältigen
Konnotationen darstellt: Die behauptete Andersartigkeit bezieht sich
weniger auf die DDR-Vergangenheit als vielmehr auf die Erfahrungen der
Transformation. In welchem Verhältnis ostdeutsche Bezüge zu regionalen und
lokalen Bezügen stehen, wird abschließend erörtert. Aus den komplexen Verflechtungen
globaler, nationaler und lokaler Prozessdynamiken im Ergebnis
der Transformation entstehen in Ostdeutschland, das wird am Beispiel ausgewählter Studien diskutiert, hybride Ortsbezüge, in denen das lokale auf unterschiedliche Weise recodiert wird.
Zwischen Transformation und Umbruch
Angesichts der offensichtlichen Unterschiede in den Entwicklungen der
Länder Mittel- oder Osteuropas wird seit Ende der neunziger Jahre verstärkt
die Bedeutung nationaler oder regionaler Unterschiede im Transformationsprozess
diskutiert. Der Begriff der 'Pfadabhängigkeit' spiegelt diese Aufmerksamkeit
für jeweilige lokale und nationale kulturelle Voraussetzungen
und Besonderheiten. Die ersten Jahre des Transformationsdiskurses waren
jedoch wesentlich von einer, wie es Klaus Müller nennt, 'Mythologie eines
universalen Übergangs aller Transitionsländer zur Marktwirtschaft und
Demokratie' geprägt (Müller 2004, 66).
Hauptprinzipien des Paradigmas der Transition waren möglichst rasche
Privatisierung, Liberalisierung und Demokratisierung. Dahinter verbarg
sich die Vorstellung, dass sich die ost- oder mittelosteuropäischen Transformationsländer
auf einer Art Nachholweg befinden würden. Zwar seien die
Ausgangsbedingungen sehr unterschiedlich, aber die Richtung des Veränderungsprozesses
sowie die Beschaffenheit des Ziels der Transformation seien
weitgehend bekannt, da es sich ja um Spielarten gesellschaftlicher Modernisierung
handelte. Das Theorem der 'nachholenden Modernisierung' (Wolfgang
Zapf ) ist in diesem Kontext lange Zeit richtungsweisend gewesen.
'Transformation und Transition', so Wolfgang Zapf, 'sind Modernisierungsprozesse,
die sich von offenen Modernisierungsprozessen dadurch unterscheiden,
dass ihr Ziel bekannt ist: die Übernahme, Errichtung und Inkorporation von
modernen demokratischen und marktwirtschaftlichen Strukturen.' (Zapf
1994, 138)
Dieses Theorem der nachholenden Modernisierung stand vor allem deshalb
auf dem Prüfstand, da es zum einen weitestgehend die Modernisierungsaspekte
der ehemals sozialistischen Länder ignorierte. In diesem Zusammenhang
wurde auch die normative Ausrichtung des Konzepts einer Kritik unterzogen.
Ein zweites Dilemma der Transitionsrhetorik bestand darin, bis Mitte der
neunziger Jahre von einer Zielgröße der Transition auszugehen, die am Idealbild
des Kapitalismus westlicher Provenienz ausgerichtet war, die aber ignorierte,
dass diese Gesellschaften selbst seit Mitte der achtziger Jahre im Zuge der
Internationalisierung der Ökonomie einem massiven Strukturwandel ausgesetzt
sind. Der polnische Soziologe Piotr Sztompka hat deshalb schon 1993
zu Recht behauptet: 'Es scheint, als wenn die westlichen Gesellschaften just in
dem Augenblick vom Zuge der Moderne abspringen, in dem der postkommunistische
Osten verzweifelt versucht aufzuspringen.' (Sztompka 1993, 140)
Nach 20 Jahren Transformationsforschung wird heute kritisch reflektiert,
ob es zulässig war, die Verfassung der westlichen Gesellschaften zum Ziel der
Transition zu erheben. Und um welches Modell von Kapitalismus handelte
es sich, das als Zielgröße formuliert wurde? Anders als zu den Konstitutionsbedingungen
westlicher nationalstaatlich verfasster Marktwirtschaften im
19. Jahrhundert waren osteuropäische Gesellschaften mit einem doppelten
Strukturwandel konfrontiert: Der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft
verlief unter den Bedingungen und zu den Konditionen einer Globalisierung
von Wirtschaft und Finanzkapital, dieser wiederum zog eine Schwächung
nationalstaatlicher Regulationsfähigkeit nach sich. In diesem Kontext werden
Nationalstaaten immer unfähiger, Finanz- und Kapitalströme in und aus
seinem Territorium zu kontrollieren. Die Reformpolitik im östlichen Europa
hatte sich vor allem unter der Anleitung internationaler Akteure wie dem
IMF und der EU auf die radikale Liberalisierung der Wirtschaft bezogen.
Dabei ging es um die Privatisierung staatlicher Betriebe, die Liberalisierung
der Preise sowie des Kapitalverkehrs, um ausländische Investitionen und das
nötige Know-How ins Land zu holen. Der Staat sollte lediglich durch
Subventionsabbau und Rückzug aus der Geldpolitik zur Haushaltskonsolidierung
beitragen. 'Der Politik des Marktes wurde auch deshalb das Primat
eingeräumt, weil sie dem liberalistischen Credo gemäß komplementäre
Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen induziert.' (Müller
2001, 1150) Kritiker dieser Entwicklung wie Don Kalb sprechen von drei
Tendenzen globaler Restrukturierung des postsozialistischen Raumes: Erstens
die Erosion der Strukturen und der Kohärenz des Nationalstaates; Zweitens
die Verschärfung sozialer Differenzen und Ungleichheiten zwischen Zentrum
und Peripherien sowie zwischen und innerhalb der Nationalstaaten; und
drittens globale Kapital-, Finanz-, Informations- und Menschenströme fließen
höchst ungleich in die jeweiligen Empfänger-Territorien (Kalb 2002, 318).