E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Blake Zwischen Gerechtigkeit und Gnade
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-534-74631-6
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Ethik der Migrationspolitik
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-534-74631-6
Verlag: wbg Academic in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Haben liberale Staaten das Recht, unerwünschte Außenstehende auszuschließen, oder sollten alle Grenzen offen sein? Falls Staaten das Recht haben, auszuschließen, nach welchen ethischen Prinzipien wird bestimmt, wer Aufnahme findet?
Das Buch bietet Orientierung für eine politische Moral der Migration. Michael Blake vertritt eine plausible neue Darstellung des Rechts auszuschließen und stellt die gegenwärtigen globalen Realitäten der Freizügigkeit infrage: offene Grenzen für wenige Auserwählte und geschlossene Grenzen für die Mehrheit, bei der es sich oft um die am stärksten marginalisierten Glieder einer Gesellschaft handelt.
Über die Fragen von Recht und liberaler Justiz hinaus bedenkt er, als welche Art von Gemeinschaft wir uns verstehen wollen. Dabei kann Barmherzigkeit eine zentrale Kategorie der moralischen Analyse des Migrationsthema sein: Gnade und Recht sollten bei der Migrationspolitik sowie in der öffentlichen Debatte gleichermaßen bedacht werden.
Weitere Infos & Material
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1 Über Moral und Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2 Gerechtigkeit und die Ausgeschlossenen,
Teil 1: Offene Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
3 Gerechtigkeit und die Ausgeschlossenen,
Teil 2: Geschlossene Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
4 Gerechtigkeit, Gebietshoheit und Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
5 Zwang und Zuflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
6 Auswahl und Zurückweisung: Über Migration, Ausschluss
und das Veto des Heuchlers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
7 Menschen, Orte und Pläne: Über Liebe, Migration und
Aufenthaltspapiere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
8 Reziprozität, die Undokumentierten und Jeb Bush. . . . . . . . . . . . . . . . 225
9 Über Gnade in der Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
10 Migration und Gnade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
2
Gerechtigkeit und die Ausgeschlossenen, Teil 1: Offene Grenzen
Unsere öffentliche Debatte über Migration ist zunächst einmal eine Debatte über Ethik. Der Gedanke, dass bestimmte Formen der Migration ungerecht, also unfair, sind, zieht sich als roter Faden durch den jüngeren politischen Diskurs. Um ein prominentes Beispiel zu nennen: Der Wahlkampf Donald Trumps im Jahr 2016 begann mit seiner Behauptung, dass unter den mexikanischen Immigranten Vergewaltiger, Drogenschmuggler und ganz allgemein „bad hombres“ seien.1 Sein zentrales Wahlkampfversprechen – die Errichtung einer von Mexiko bezahlten Mauer entlang der Grenze zwischen den USA und ihrem südlichen Nachbarstaat – wurde mitunter mit der Behauptung gerechtfertigt, dass die mexikanischen Einwanderer auf unfaire Weise die Arbeitsplätze amerikanischer Arbeitnehmer klauen würden. Trumps Antrittsrede verdeutlichte diesen moralischen Unterton: „Von diesem Moment an heißt es America First. Jede Entscheidung über Handel, Steuern, Einwanderung oder Außenpolitik wird zum Vorteil amerikanischer Arbeiter und Familien getroffen. Wir müssen unsere Grenzen vor den Verwüstungen durch andere Länder schützen, die unsere Produkte herstellen, unsere Unternehmen klauen und unsere Arbeitsplätze zerstören. […] Wir werden uns unsere Arbeitsplätze zurückholen. Wir werden uns unsere Grenzen zurückholen. Wir werden uns unseren Wohlstand zurückholen.“2 Trumps Analyse ist in ihrem Kern moralisch: Die derzeitige globale Ordnung ist unfair. Es ist unfair, dass Immigrantinnen die Arbeitsplätze und den Wohlstand der derzeitigen Einwohner der Vereinigten Staaten an sich nehmen dürfen. Ich denke, dass Trumps Idee von Eigentum am besten als eine bestimmte Form moralischen Anspruchs interpretiert werden kann: Diese Arbeitsplätze und dieser Wohlstand sind berechtigterweise das Eigentum der amerikanischen Bürger. Trump gewann die Präsidentschaftswahlen teilweise auch dadurch, dass er Hillary Clinton als „globalist“ darstellte, die aufgrund mangelnder Liebe zu Amerika dazu bereit war, diese gegenüber den Amerikanerinnen unfairen Verhältnisse zu billigen. Ob wir uns nun angesprochen fühlen von solch einem Populismus oder nicht – und es sollte deutlich werden, dass dies in meinem Falle nicht zutrifft –, so stellt er doch eine bestimmte Vorstellung davon dar, wie Gerechtigkeit in Bezug auf Migration hergestellt werden könnte: Die Vereinigten Staaten müssen ungebetene Immigrantinnen ausschließen, denn alles andere wäre unfair. Wie diese Position beruht auch die Perspektive der Gegenseite auf einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit. Große Teile des politischen Widerstands gegen die Politik der Trump-Administration fußen auf dem Gedanken, dass bestimmte Maßnahmen zur Durchsetzung der Migrationspolitik unfair sind. Der rhetorische Slogan Kein Mensch ist illegal verweist beispielsweise darauf, dass bereits die Sprache, mit der wir Personen ohne Aufenthaltspapiere bezeichnen, ausgrenzend und entmenschlichend und somit unfair sein kann.3 Auch auf einer praktischeren Ebene hat die Linke in den USA ihren Widerstand gegen bestimmte Methoden und Zwecke des Ausschlusses unter Verweis auf moralische Gründe gerechtfertigt. Sowohl Bürgerinnen als auch Bundesstaaten haben sich in rechtlichen Auseinandersetzungen gegen den sogenannten travel ban, das Einreiseverbot der Trump-Administration engagiert, dessen Zweck es war, die Migration aus bestimmen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit zu unterbinden. Ein gegen dieses Verbot gerichteter Brief argumentierte, dass es sich hierbei um Diskriminierung und somit um unfaire Maßnahmen handele.4 Die wiederauflebende Sanctuary-Bewegung5 vertrat die Meinung, dass Städte und Individuen den mit Abschiebungen beauftragten Beamten der Immigration and Customs Enforcement (ICE) die Unterstützung verweigern sollten, andernfalls würden sie sich, so ein Gründer der Bewegung, „der Ungerechtigkeit mitschuldig“ machen.6 Darüber hinaus haben undokumentierte Amerikanerinnen begonnen, zu argumentieren, dass der Status als Undokumentierte mit einer Form sozialer Ausgrenzung einhergehen kann, die in ihren negativen Konsequenzen der historischen Marginalisierung von Amerikanerinnen afrikanischer Abstammung gleichkommt. Jim Crow hat sich in Juan Crow verwandelt – und den Aktivistinnen zufolge sollten undokumentierte Amerikanerinnen, die bereit sind, für soziale Gleichheit einzustehen, gegen diese Entwicklung Widerstand leisten.7 Auch diese Argumente gründen auf einer Vorstellung von Gerechtigkeit. Sie bestehen darauf, dass manche Formen der Exklusion unfair und daher ungerecht sind. Die Vereinigten Staaten müssten demnach diejenigen Exklusionspraktiken abschaffen, die eine solche Ungerechtigkeit sowohl produzieren als auch dulden. Ich möchte anmerken, dass nichts von all dem allein auf den politischen Diskurs in den Vereinigten Staaten zutrifft. So sind große Teile der europäischen Politik von ähnlichen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen im Bereich der Migration bestimmt. In Deutschland hat sich das Problem der Offenheit gegenüber syrischen Flüchtlingen zu einem zentralen Konfliktpunkt zwischen Angela Merkels Christdemokraten und populistischen Bewegungen wie der Alternative für Deutschland entwickelt. In Italien gelangten zwei populistische Parteien – die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega – größtenteils durch die Ablehnung von Einwanderung an die Macht. Eine der ersten Handlungen dieser Koalition bestand darin, ein Boot zurückzuweisen, das 629 Asylsuchende vor dem Ertrinken gerettet hatte.8 Wiederum nichts von all dem trifft allein auf Europa zu. Populistische Bewegungen sind in solch unterschiedlichen Gesellschaften wie Brasilien, Zimbabwe oder Myanmar entstanden und auch dort beruht ihr Machtgewinn zum Teil auf der Verurteilung gegenwärtiger Migrationsbewegungen als ungerecht.9 In öffentlichen Auseinandersetzungen über Migration findet sich häufig ein bestimmtes Muster moralischer Argumentation: Was die jeweils andere Seite vorschlägt, ist ungerecht, und zwar deshalb, weil eine bestimmte Gruppe von Menschen dadurch unfair behandelt würde. Trotz dieser strukturellen Ähnlichkeiten gelangen die verschiedenen Argumentationslinien offensichtlich zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Sie unterstützen jeweils radikal unterschiedliche Bündel von Migrationsrechten und entwerfen radikal unterschiedliche Visionen für die jeweilige politische Gemeinschaft. Aber diese so verschiedenartigen Schlussfolgerungen beruhen auf ähnlichen konzeptionellen Grundlagen. Es ist daher wenig überraschend, dass diese Argumente, wie David Miller es ausgedrückt hat, oft mehr Aufregung denn Aufklärung mit sich bringen.10 Der Unterschied zwischen der Seite, die ein Recht auf Ausschluss rechtfertigt und derjenigen, die eine solche Position als illiberal brandmarkt, verweist nicht auf gänzlich verschiedene moralische Standpunkte, sondern auf subtilere Unterschiede in der Anwendung gleicher moralischer Werte. Die öffentliche Debatte zum Thema Migration neigt hingegen eher selten zur Subtilität. Einwanderung hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der hitzigsten – wenn nicht gar explosivsten – Themen unserer gemeinsamen öffentlichen Diskussion entwickelt. Wir sind, um es vereinfacht auszudrücken, sehr gut darin, aneinander vorbei zu argumentieren. Wir können zeigen, wie unsere eigene Vorstellung von Fairness und Gerechtigkeit die von uns getroffenen Entscheidungen darüber rechtfertigt, wer welche Rechte auf Einlass in unsere politische Gemeinschaft hat. Wir sind zugleich ebenso gut darin, diejenigen zu dämonisieren und zu verurteilen, die nicht unserer Meinung sind. Auf der anderen Seite sind wir allerdings ziemlich schlecht darin, eine offene und sorgfältige Diskussion darüber zu führen, was berechtigterweise gegen unsere Vorstellung von Fairness vorgebracht werden könnte oder darüber, was wir erwidern könnten, um unsere Vorstellung gegenüber gegensätzlichen Ideen von Fairness zu verteidigen. Was kann die politische Philosophie angesichts dieser Verhältnisse anbieten? Es ist unwahrscheinlich, dass sie so etwas wie einen Konsens über das Verhältnis von Gerechtigkeit und Migration hervorbringt. Uneinigkeit ist eine unvermeidliche Folge von Freiheit und wir sollten Einstimmigkeit zu allerletzt bei solch komplexen und hitzigen Themen wie der Migration erwarten. Aber die Philosophie könnte uns zumindest Werkzeuge anbieten, um unsere Uneinigkeit besser zu verstehen. Sie kann uns mitunter etwas Klarheit über die Konzepte und Ideen verschaffen, die unserem gemeinsamen Diskurs über Gerechtigkeit im Hinblick auf Migration zugrunde liegen und uns somit einen Weg nach vorne weisen – und wenn schon nicht zur Einstimmigkeit, so mag uns dieser zumindest zu so etwas wie gegenseitigem Respekt führen. Präzision im Hinblick darauf, wie wir Ideen und Begriffen nutzen, könnte unsere Debatten über Gerechtigkeit weniger feindselig gestalten, und sei es allein durch den Zwang, genau darzulegen, wie wir...