Buch, Deutsch, 411 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 512 g
Medien und Emotionen in der Moderne
Buch, Deutsch, 411 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 512 g
ISBN: 978-3-593-38200-5
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
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Inhalt
Vorwort 9
DISZIPLINÄRE ZUGÄNGE
Medien und Emotionen in der Moderne
Historische Perspektiven 13
Frank Bösch/Manuel Borutta
Gefühlte Distanz
Zur Modellierung von Emotion in der Film- und Medientheorie 42
Vinzenz Hediger
Die leibliche Dimension des Mediums Kino 63
Christiane Voss
Ökonomien der Gefühle
Der Horrorfilm 81
Patrick Vonderau
Urszenen des Mitgefühls
Zur Mediengeschichte der Emotionen 94
Hermann Kappelhoff
HISTORISCHE ANALYSEN: PRINTMEDIEN
Geistliche Gefühle
Medien und Emotionen im Kulturkampf 119
Manuel Borutta
Sensationsprozesse
Die Gerichtsreportage der Zwischenkriegszeit in Berlin und Chicago 142
Daniel Siemens
Freundschaft zur Sowjetunion, Liebe zu Stalin
Zur Anthropomorphisierung des Politischen im Stalinismus 172
Jan C. Behrends
Mediale Trauer
Bildmedien und Sinnstiftung im "Zeitalter der Extreme" 193
Habbo Knoch
HISTORISCHE ANALYSEN: AUDIOVISUELLE MEDIEN
Disziplinierung der Gefühle?
Krieg und Film im 20. Jahrhundert 217
Frank Bösch
Heros und Heiler
Emotionen und Ideologie im deutschen Arztmelodram
zwischen Nationalsozialismus und frühem Nachkriegsfilm 241
Astrid Pohl
Fernsehschule der Vernunft?
Der "Internationale Frühschoppen" (1952-1987)
in emotionsgeschichtlicher Perspektive 264
Nina Verheyen
Terror als Doku-Soap
Die Flugzeugentführungen von Entebbe und Mogadischu
in Film und Fernsehen, 1976-1997 284
Annette Vowinckel
HISTORISCHE ANALYSEN: RADIO
Erregerphantasien
Eine sentimentale Schneise im frühen Radiodiskurs 307
Oliver Jungen
Emotionale Wiedervereinigung
Das Radio und die Heimkehr der Kriegsgefangenen in die BRD 325
Michael Stolle
Emotionale Vergemeinschaftung?
Krieg und Politik im Radio der frühen DDR 344
Christoph Classen
Emotionale "Volksgemeinschaften"
Das "Wunder von Bern" 1954 als Rundfunkereignis
in Ungarn und Deutschland 369
Rudolf Oswald
Programmierter Genozid?
Das Radio und die mediale Erzeugung von Angst in Rwanda 1994 387
Karen Krüger
Autorinnen und Autoren 407
Medien und Emotionen in der Moderne
Historische Perspektiven
Frank Bösch und Manuel Borutta
Im Januar 1979 war das westdeutsche Fernsehpublikum tief bewegt. Die amerikanische TV-Serie Holocaust erreichte in diesen Wochen nicht nur rund 20 Millionen Zuschauer, sondern löste auch heftige emotionale Reaktionen aus. So riefen beim WDR, der spezielle Telefonleitungen geschaltet hatte, Zehntausende aufgewühlter Zuschauer an, die Wut, Scham oder Schuldgefühle äußerten. Eine Geschichtsstudentin, die beim Telefondienst die Anrufe aufzeichnete, resümierte: "Viele weinen. Und das Weinen kann man nicht protokollieren." Ähnlich emotional waren zahlreiche Briefe an den Fernsehsender gehalten. Nicht wenige enthielten hasserfüllte antisemitische Angriffe auf die Serie und den Sender, andere berichteten niedergeschlagen und verstört von einstigen Bluttaten, Diktatur- und Kriegserfahrungen.
Die Ausstrahlung von Holocaust wurde damit selbst zum historischen Ereignis, an dem sich die komplexe Beziehung zwischen Medien und Emotionen exemplarisch zeigen lässt. Unverkennbar war die Wechselwirkung zwischen Medien und den Gefühlsäußerungen der Zuschauer: Die mediale Darstellung von Emotionen löste nicht nur Gefühle aus. Die Medien berichteten auch ausführlich über emotionale Zuschauerreaktionen und schufen so eine Matrix weiterer Gefühlsäußerungen.
Zugleich wandelte sich die Bewertung der Beziehung von Medien und Emotionen. Die unerwartete Reaktion auf die Serie, die vorab vielfach als "amerikanischer Kitsch" abgelehnt worden war, ließ emotionale Inhalte und Formen in Medien nun als akzeptables Mittel zur Auslösung moralisch wertvoller kognitiver Prozesse erscheinen. "Mitleiden macht Geschichte begreifbar", titelte etwa der Stern, und verwies damit auf die positive Bedeutung von Empathie für historische und moralische Lernprozesse. Seither folgten in Deutschland unzählige Film- und Fernsehproduktionen, die die nationalsozialistische Vergangenheit ebenfalls auf melodramatische Weise zu vergegenwärtigen suchten. Auch die vermeintlich "rationale" Geschichtswissenschaft ließ das Ereignis nicht kalt. Die Warnung vor dem "manipulativen Potential" solcher Gefühlsvermittlung ging dabei zugleich mit der Kritik an den Defiziten der bisherigen Geschichtsvermittlung durch Experten einher. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der emotionalen Reaktionen auf die Fernsehserie intensivierte sich Anfang der achtziger Jahre die historiographische Erforschung des Holocaust.
Auch der wissenschaftliche Expertendiskurs über Medienwirkungen veränderte sich. Mit ungewohnt aufwendigen Umfragen wurde nun etwa geprüft, ob sich antisemitische Haltungen durch mediale Formen der Emotionalisierung ändern ließen. Die Emotionalisierung historischer Themen galt fortan als Chance zur Heilung von Ressentiments. Das zuvor verbreitete Schweigen über die eigene Vergangenheit wich einer neuen Beredsamkeit. Dass medial ausgelöste Reaktionen auch politische Entscheidungen prägen können, zeigte sich 1979 in der Bundestagsentscheidung, die Verjährung für Mord und Völkermord endgültig aufzuheben, was unter dem Eindruck der Debatte um Holocaust nun eine Mehrheit fand.
Die Ursachen dieser intensiven, emotional vielfältigen Reaktionen auf Holocaust liegen sicher nicht allein in der Serie. Auch der neue Umgang mit der Vergangenheit, der sich bereits bei den Gedenkveranstaltungen zum 40. Jahrestag der Reichspogromnacht angekündigt hatte, reicht als Erklärung nicht aus. Die nachhaltige Wirkung dieses medialen Ereignisses dürfte vielmehr auch im Kontext eines generellen emotionshistorischen Wandels stehen. Seit den späten sechziger Jahren hatte sich das Spektrum öffentlich zeigbarer Emotionen verändert. Auch der intensive Ausdruck von Trauer oder Mitleid wurde nun selbst für Männer tolerierbar. Zugleich etablierten sich im Zuge der politischen Polarisierung neue Formen öffentlicher Artikulation von Aggression. Die emotionale Wirkung von Medien ist also nicht allein aus diesen selbst heraus zu erklären, sondern unter Einbeziehung ihrer medien- und emotionshistorischen Kontexte. Genau hierin liegt die Chance und Notwendigkeit eines medienwissenschaftlich informierten historischen Zugangs zur Beziehung von Medien und Emotionen.
Holocaust bildet nur ein Beispiel, an dem sich die komplexe Beziehung zwischen Medien und Emotionen ausmachen lässt. Öffentlich diskutiert wird ihr Verhältnis seit langem, und zwar vorwiegend unter normativen Gesichtspunkten. Zu den klassischen Topoi zählt dabei etwa die Annahme, Medien würden unkontrollierbare Affekte schüren und dadurch rationale Debatten und Handlungen unterlaufen. Solche Vorbehalte wurden gerade gegenüber jeweils neuen Medien laut. Massenpresse, Film, Radio, Fernsehen und Internet galten insbesondere während ihres Aufstiegs zunächst als einschneidende Gefährdung menschlicher Gefühlshaushalte, die die Gefahr der "Sucht", der nervlichen Überforderung oder des moralischen Verfalls bargen und deshalb zu kontrollieren seien. Als emotional besonders bedroht erschienen in diesen öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten vor allem die ungebildeten "Massen", junge Menschen und lange Zeit auch Frauen. Bezeichnenderweise wurde diese Kritik wiederum über die Medien geäußert und ebenfalls mit emotionalen Beispielen veranschaulicht. Zugleich waren es die Medien selbst, die ihre emotionale Ausstrahlungskraft hervorhoben. Denn schließlich lebten Film, Zeitschriftenartikel oder Rundfunksendungen von dem Versprechen, Lachen, Spannung oder Empörung auszulösen. Um sich diesem komplexen Verhältnis von Medien und Emotionen analytisch anzunähern, sollen im Folgenden zunächst bisherige Forschungsperspektiven diskutiert und der Gegenstand in seiner Historizität beleuchtet werden. In einem zweiten Schritt werden dann Untersuchungsfragen diskutiert und die exemplarischen Zugänge des Bandes skizziert.