Bohrer Ist Kunst Illusion?
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-24854-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-446-24854-0
Verlag: Carl Hanser
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Der romantische und nachromantische Illusionsbegriff – Referenz und Selbstreferenz
Seitdem jede Form von Abbildtheorie im Sinne Gombrichs und seines Illusionsverständnisses durch die verschiedenen analytischen und phänomenologischen Bildtheorien erledigt scheint, seitdem man also annimmt, dass die Bilder bzw. literarische Sprache nicht unmittelbar abbilden, sondern als Zeichen für etwas stehen, ist die schon von dem romantischen Imaginationskonzept überholte Mimesis, und das heißt: die Realitätsreferenz von Kunst, endgültig obsolet geworden. Anstatt Wirklichkeit also Imagination bzw. Illusion, also die Verschiebung der Wirklichkeit in unserem Bewusstsein. Die älteren Bildtheorien bestätigen prinzipiell, was auch die sprachanalytische Literaturtheorie seit J. M. Lotman weiß: Künstlerische Sprache unterscheidet sich von Normalsprache prinzipiell in ihrem Informationscharakter, nämlich durch Mehrdeutigkeit, durch eine Anzahl möglicher alternativer Mitteilungen.1 Deshalb ist sie auch nicht rückübersetzbar in Normalsprache. Wolfgang Iser hat im Anschluss an V. Šklovskijs Verfremdungstheorie von einer »Defiguration der Gegenstände bei der Gegenwärtigung des Ästhetischen« gesprochen.2 Er hat die Qualität der »Mehrdeutigkeit« – man könnte dies auch mit Iser »Oszillation« nennen, um den Begriff Illusion vorzubereiten – dialektisch-rationalistisch extrapoliert: Das Verfremdete weise am Ende auf das, was verfremdet wurde, zurück. W. J. T. Mitchell hat dagegen das Opake des Trügerischen, das, was wir als ästhetische Illusion nehmen können, weniger begriffsobsessiv als »Ausstrahlung« anstelle von »Rückstrahlung« gefasst.3 Einzubeziehen wären hier vor allem Einsichten von Eckhard Lobsien zur Substitution von Gegenstandsreferenz durch Autor-Referenz4 sowie die Unterscheidung von »ästhetischer Wahrnehmung« und »lebenspraktischer Wahrnehmung«.5 Jedenfalls scheint der avancierten, sprachtheoretisch geleiteten Theoriebildung der Gegenstandseffekt der Kunst das zu sein, was neu zu durchdenken ist. Geklärt ist noch nichts, wie man an Martin Seels Kritik am bildtheoretischen Illusionismus sehen kann.6 Die Kategorien des Scheins und des Erscheinens sind mir innerhalb dieser literaturtheoretischen Entfaltung ästhetischer Erfahrung diejenigen, deren begriffliche Implikationen gewusst werden müssen, um zu entscheiden, ob man mit dem Wort »Illusion« etwas sagt, das darüber hinausgeht, was man bisher als ästhetische Wahrnehmung verstanden hat. Es ist also vorausgesetzt, was man unter ästhetischem Schein als Macht des Erscheinens im Unterschied zum »täuschenden Schein« zu verstehen hat. Dazu gehört auch, wie sich ein ästhetischer Scheinbegriff unter der Bedingung seines temporalen Erscheinens zur Kategorie der Präsenz verhält. »Präsenz« im weitesten phänomenologischen Verständnis als »Unerwartetes, das aufschreckt«.7 Was sagt also die Kategorie »Illusion« im hier zu erörternden emphatischen Sinne mehr oder anderes, was die wahrnehmungstheoretische, sprachanalytische und philologische Bestimmung des ästhetischen Scheins als ein Erscheinen nicht schon erfasst hätte? Ohne auf aktuelle Theorien zur literarischen Illusion einzugehen (Iser, Lobsien), diskutiere ich Wahrnehmung und Begriff von ihr am Beispiel einiger Repräsentanten der ästhetischen Moderne. Die durchweg von Husserl beeinflussten »Illusions«-Theorien sind pragmatisch-wahrnehmungstheoretisch ausgerichtet auf die produktive Imagination des Lesers. Im Folgenden geht es dagegen um das Wahrgenommene selbst als ein Imaginäres. Nietzsche
Ich beginne mit Friedrich Nietzsches Tragödien-Schrift, die den Begriff des »Scheins« ja erstmals expressis verbis im Kontext des Begriffs der »Illusion« reflektierte, wobei er über die Bestimmung eines logischen Relationsverhältnisses hinausging und etwas erfasste, das zumindest anzudeuten scheint, was den Begriff der »ästhetischen Illusion« theoretisch interessant machen könnte, jenseits der genannten Theorieangebote. Es ist Nietzsches Erklärung des Unterschieds zwischen naivem und sogenanntem »ästhetischem Zuschauer« der griechischen Tragödie, der diese illusionsrelevante Charakteristik enthält. Ein »ästhetischer Zuschauer« der Tragödie bzw. Zuhörer der neuen Musik Richard Wagners ist für Nietzsche ein solcher, der nicht mehr auf die individuelle Handlung bzw. Verkörperung eines Inhalts bezogen ist, der in der Tragödie nicht mehr die Abbildung der wirklichen Welt in naturalistischen Bildern sieht, sondern den Mythos selbst. Die rezeptionsästhetische Erläuterung dieses in § 7 der Tragödien-Schrift erstmals aufgestellten Theorems vom ästhetischen Phänomen als nicht realitätsreferentielles lautet: »Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er dem wahren ästhetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Gemeinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte Wunder empfängt: Ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psychologische Kausalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen zuläßt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran nämlich wird er messen können, wieweit er überhaupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung, das Wunder entbehren kann.«8 Wenn wir vom kulturkritischen Vokabular dieser Epoche Nietzsches einmal absehen, dann erkennen wir im Begriff des »auf der Bühne dargestellten Wunders« die definitiven Bestimmungsmerkmale, die auch den sinnvollen Gebrauch des Terminus »Illusion« ermöglichten. Erstens: Das Wort »Wunder« selbst heißt die absolute Unterbrechung des Absehbaren und Erwarteten. Es geht über den phänomenologischen und wahrnehmungstheoretischen Begriff des Scheins hinaus, denn es ist sowohl keine prozess- und strukturgeleitete Bestimmung als auch keine subjekttheoretische mehr. Ausschließlich das Erscheinungsphänomen ist als ein solches markiert. Zweitens: Dem entspricht, dass beim Rezipienten des Wunders, also dem »ästhetischen Zuhörer«, historische und psychologische Kausalität ausgeschlossen wird. Was er sieht und hört, sieht und hört er nicht als Erläuterung seines Bildungsvolumens. »Wunder« ist »Illusion«, indem die ästhetische Erscheinung etwas anderes spiegelt, ohne dass über den realen Charakter der Wirklichkeit getäuscht würde. Diese bleibt ausgeschlossen. Eckhard Lobsien stellte für die ästhetische Bildlichkeit fest, sie sei »das, was der Text in Abhebung gegen jenes diffuse kulturelle Wissen, von dem jede Kunsterfahrung ausgeht, als seinen genuinen individuellen Sachverhalt erstellt«.9 Der zur Wahrnehmung des »Wunders« Fähige bedarf des Blicks des Kindes, um das seinem Normalblick »entfremdete Phänomen« zu erkennen. Was will die Metapher »Kind« über das schon Gesagte hinaus sagen? Wohl doch vor allem, dass eine apriorische Bereitschaft gegenüber der künstlerischen Szene als einer jeden bisher bekannten Szene enthobenen Phänomenalität – das eben ist die Illusion – notwendig ist, um von einem konventionellen Zuhörer zu einem »ästhetischen Zuhörer« zu werden. So wie das Kind hinter dem geöffneten Vorhang die Theatralizität einer der Wirklichkeit völlig entzogenen Szene – nennen wir sie: Peterchens Mondfahrt – bestaunt, so ähnlich muss das Staunen des »ästhetischen Zuhörers« sein. Diese unmittelbare Bereitschaft entstammt nichtsdestotrotz einer primären Erwartungshaltung, die ihre Befriedigung sucht in ebensolch einer ästhetischen Illusion. Baudelaire hat ebenfalls die Metapher des Kindes benutzt, um das Einmalige der künstlerischen Rezeption zu exemplifizieren: Das Kind besitze die unvergleichliche Inspiration des Genies, mit der es »Form und Farbe« einsauge, der »animalisch verzückte Blick vor dem Neuen, was es auch sein mag, Gesicht oder Landschaft, Licht, Vergoldung, Farben, schillernde Stoffe, Verzauberung«.10 Die drei soeben qualifizierten Charakteristika oder Elemente des ästhetischen »Wunders« oder der »Illusion« unterscheiden sich von den phänomenologischen und wahrnehmungstheoretischen durch ihre Unterdeterminiertheit: Sie emphatisieren nichts anderes als den ästhetischen Ausnahmezustand und reintegrieren diese nicht in eine erkenntnistheoretische und wahrnehmungstheoretische Erklärung. Sie bleiben beschränkt auf dem Insistieren auf dem schieren ästhetischen Phänomen der »Illusion« als Wunder. Eine Charakteristik Baudelaires erläutert das Gleiche, ebenfalls in Bezug auf die kindliche Theatererfahrung. Hier ist der Illusionsaspekt besonders signifikant erläutert. »Meine Ansichten über das Theater. Was ich in einem Theater immer am schönsten fand, in meiner Kindheit und auch heute noch, das ist der Lüster – ein schöner, leuchtender, kristallener, reich verzierter, kreisförmiger und regelmäßiger Gegenstand. Immerhin, ich will der dramatischen Literatur nicht jeglichen Wert absprechen. Nur folgendes sähe ich gerne verändert: Die Schauspieler müssten auf hohen Kothurnen gehen, sie müssten Masken tragen, die ausdrucksvoller wären als das menschliche Gesicht, und durch Schalltrichter sprechen; und endlich sollten die Frauenrollen von Männern gespielt werden. Alles in allem schien mir aber der Lüster...