E-Book, Deutsch, 198 Seiten
Bongardt Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-7675-7132-7
Verlag: Edition Ruprecht
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Das schwere Erbe von Unrechts-Staaten
E-Book, Deutsch, 198 Seiten
ISBN: 978-3-7675-7132-7
Verlag: Edition Ruprecht
Format: PDF
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Nach dem Ende von Diktaturen stellen sich immer wieder die gleichen Fragen: Müssen, sollen die Verantwortlichen bestraft werden? Wie kann Opfern Gerechtigkeit widerfahren? Unter welchen Bedingungen kann es Versöhnung geben?
In den Beiträgen dieses Sammelbands werden diese Fragen aus der Perspektive unterschiedlicher Fächer behandelt: historisch, theologisch, juristisch, kulturwissenschaftlich und politikwissenschaftlich. Fallbeispiele aus den Ländern Chile, der früheren DDR, Spanien und Südafrika zeigen, wie der jeweilige Kontext die Prinzipien von Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit beeinflusst.
An interdisciplinary anthology on reconciliation, retribution, and justice.
mit Beiträgen von Walther L. Bernecker, Michael Bongardt, Joachim Gauck, Axel Montenbruck, Stefan Rinke, Gerhard Werle und Ralf K. Wüstenberg
Aus dem Inhalt
1. Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe als gesellschaftliche und politische Herausforderungen (JOACHIM GAUCK)
2. Erinnerung, Gerechtigkeit und Versöhnung. Zur Aufgabe eines angemessenen Umgangs mit belasteter Vergangenheit – eine sozialethische Perspektive (THOMAS HOPPE)
3. Endstation Strafe? Auf der Suche nach einer Kultur der Vergebung (MICHAEL BONGARDT)
4. Gibt es eine Politik der Versöhnung? Theologische Anmerkungen zu den Aufarbeitungsanstrengungen in Südafrika und Deutschland (RALF WÜSTENBERG)
5. Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit in juristischer Perspektive (AXEL MONTENBRUCK)
6. Das Völkerstrafrecht im Jahrhundert der Weltkriege (GERHARD WERLE)
7. Die Gegenwart der Vergangenheit: Chile in den 1990er-Jahren (STEFAN RINKE)
8. Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien. Zwischen Amnesie und kollektiver Erinnerung (WALTHER BERNECKER)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhaltsverzeichnis;6
2;Einleitung;10
3;I. Gesellschaftliche und sozialethische Perspektiven;16
3.1;Gerechtigkeit, Versöhnung und Strafe als gesellschaftliche und politische Herausforderungen;18
3.1.1;1. Gerechtigkeit;18
3.1.2;2. Strafe;20
3.1.3;3. Versöhnung;26
3.1.4;Literatur;29
3.2;Erinnerung, Gerechtigkeit und Versöhnung. Zur Aufgabe eines angemessenen Umgangs mit belasteter Vergangenheit – eine sozialethische Perspektive;30
3.2.1;1. Recht und Gerechtigkeit;31
3.2.2;2. Reintegration der Belasteten;36
3.2.3;3. Hilfe für die Opfer;41
3.2.4;4. Aussöhnung – mehr als ein Wort?;45
3.2.5;5. Aufgaben für Gesellschaft und Politik;48
3.2.6;Literatur;53
4;II. Theologische und juristische Perspektiven;56
4.1;Endstation Strafe? Auf der Suche nach einer Kultur der Vergebung;58
4.1.1;1. Strafe;59
4.1.2;2. Eine christliche Alternative: Der gnädige Gott;67
4.1.3;3. Eine Kultur der Vergebung: Übersetzbarkeit?;74
4.1.4;Literatur;77
4.2;Gibt es eine Politik der Versöhnung? Theologische Anmerkungen zu den Aufarbeitungsanstrengungen in Südafrika und Deutschland;80
4.2.1;1. Erscheinungsformen politischer Versöhnung – Die Diskussion von Handlungsoptionen im Kontext Südafrika und Deutschland;80
4.2.2;2. Theologische Anmerkungen zu den politischen Erscheinungsformen von Versöhnung;90
4.2.3;3. Gibt es eine Politik der Versöhnung?;95
4.2.4;Literatur;98
4.3;Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit in juristischer Perspektive;100
4.3.1;1. Einführung: Die juristische Perspektive;100
4.3.2;2. Versöhnung;101
4.3.3;3. Strafe;107
4.3.4;4. Gerechtigkeit;111
4.3.5;5. „Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit“;115
4.3.6;Literatur;126
5;III. Historische Fallbeispiele;128
5.1;Das Völkerstrafrecht im Jahrhundert der Weltkriege;130
5.1.1;1. Einführung;130
5.1.2;2. Prolog: Der Friedensvertrag von Versailles;131
5.1.3;3. Durchbruch: Das Recht von Nürnberg und Tokio;132
5.1.4;4. Bekräftigung und Stillstand: Völkerstrafrecht im Kalten Krieg;135
5.1.5;5. Renaissance: Die Errichtung der Ad-hoc-Strafgerichtshöfe der Vereinten Nationen;136
5.1.6;6. Verstetigung: Das IStGH-Statut und die Errichtung eines ( ständigen) Internationalen Strafgerichtshofes;138
5.1.7;7. Aktuelle Tendenzen;140
5.1.8;8. Deutschland und das Völkerstrafrecht;143
5.1.9;9. Die Zukunft des Völkerstrafrechts;145
5.1.10;Literatur;146
5.2;Die Gegenwart der Vergangenheit:;150
5.3;Chile in den 1990er-Jahren;150
5.3.1;1. Der politische und sozioökonomische Wandel;151
5.3.2;2. Vergangenheit in der Gegenwart;156
5.3.3;3. Vergangenheitspolitik und politische Kultur;160
5.3.4;4. Zusammenfassung;165
5.3.5;Literatur;166
5.4;Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien. Zwischen Amnesie und kollektiver Erinnerung;170
5.4.1;1. Franco-Regime und Erinnerungspolitik;171
5.4.2;2. Die Verdrängung der Geschichtserinnerung;172
5.4.3;3. Die „andere“ Aufarbeitung in Katalonien und im Baskenland;176
5.4.4;4. Zwischen Erinnern und Vergessen: Das Spanien der Republik;180
5.4.5;5. Zur Repolitisierung der Vergangenheit in der Regierungszeit der Konservativen;182
5.4.6;6. Die Mobilisierung kollektiver Erinnerung um die Jahrtausendwende;184
5.4.7;7. Die Polemik um das Memoria-Gesetz;186
5.4.8;8. Ausblick;188
5.4.9;Literatur;190
6;Autoren-Liste;192
7;Register;193
Gibt es eine Politik der Versöhnung? Theologische Anmerkungen zu den Aufarbeitungsanstrengungen in Südafrika und Deutschland (S. 79-80)
Ralf Karolus
Wüstenberg Gibt es eine „Politik der Versöhnung“? In dieser Frage gingen und gehen die Ansichten in der politischen Debatte auseinander. Der anglikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu forderte in die Situation des gesellschaftlichen Aufbruchs in Südafrika hinein: „Ohne Vergebung gibt es keine Zukunft.“
Der ehemalige sächsische Justizminister Steffen Heitmann soll geäußert haben: „Für den gesellschaftlichen Integrationsprozess, den wir in Deutschland brauchen, ist der Begriff der Versöhnung nicht brauchbar.“ Um in der Leitfrage nach einer „Politik der Versöhnung“ weiterzukommen, bedarf es der genaueren Betrachtung der Erscheinungsformen politischer Versöhnung. Dazu sollen im Folgenden die Beispiele der politischen Umbrüche in Südafrika nach dem Ende der Apartheid und in Deutschland nach dem Ende der SEDDiktatur herangezogen werden.
Auf den Kausalzusammenhang zwischen dem Fall der Mauer und dem Ende der Apartheid hatte der Ex-Präsident Frederik de Klerk bereits in seiner Rede vom 2. Februar 1990 hingewiesen, in der er die Freilassung Nelson Mandelas ankündigte: Es sei fortan nicht mehr in gleicher Weise wie zuvor notwendig, sich vor dem Kommunismus zu schützen.
1. Erscheinungsformen politischer Versöhnung – Die Diskussion von Handlungsoptionen im Kontext Südafrika und Deutschland
Eine Analyse der Erscheinungsformen politischer Versöhnung führt zunächst zu der Frage nach den Ausgangsbedingungen für den Umgang mit Schuld in den beiden Kontexten. Vom Charakter des Systemwechsels hängen nämlich die Rationalitätskriterien für den Umgang mit der Vergangenheit ab.
In Anlehnung an globale Transformationsprozesse kann man drei Grundformen des Systemwechsels unterscheiden, nämlich Umsturz, Reform und politischer Kompromiss („overthrow, reform, compromise“5). Diese Grundtypen treten in realen politischen Prozessen in der Regel in Mischformen auf. Der südafrikanische Übergangsprozess, gekennzeichnet von symmetrischen Machtverhältnissen, lässt sich, wie im Einzelnen noch zu zeigen ist, am ehesten in die Kategorie politischer Kompromiss („compromise“) einordnen.
Der deutsche Transformationsprozess, gekennzeichnet durch asymmetrische Machtverhältnisse, würde sich im Spiegel internationaler Systemwechsel am ehesten in die Kategorie Umsturz („overthrow“) einordnen lassen, da sich das SED-Regime „bis zuletzt jeder Reform widersetzt“6 hat. Die Weichen für den Umgang mit der Vergangenheit stellen sich in Südafrika im Unterschied zu Deutschland langsam. Die entscheidenden Ereignisse fallen in den Zeitraum zwischen der Freilassung Nelson Mandelas am 11. Februar 1990 und seiner Vereidigung als erster Präsident eines demokratischen Südafrika am 10. Mai 1994.
In dem mehrjährigen Prozess werden Schritt für Schritt der alten Regierung Zugeständnisse abgerungen, die im Herbst 1993 in die erfolgreiche Aushandlung einer Übergangsverfassung münden und im Frühjahr 1994 die ersten freien Wahlen am Kap ermöglichen. Im Vergleich zu Südafrika werden die Weichen in Deutschland rasch gestellt.
Mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 ist der weitere Weg vorgezeichnet: – Strafverfolgung der DDR-Regierungskriminalität, – Regelung für die Stasiakten, – Wiedergutmachung für die Opfer, sowie – Überprüfungen bei der Übernahme in den öffentlichen Dienst. In dem Katalog an Weichenstellungen spiegeln sich viele der prinzipiellen Handlungsoptionen, die einem Land beim Übergang zur Demokratie zur Verfügung stehen. Ergebnis des Rechts- und Politikwissenschaft übergreifenden international geführten Transformationsdiskurses7 ist die Systematisierung von fünf Handlungsoptionen: