E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Bonnett Die seltsamsten Orte der Welt
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-406-67493-8
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geheime Städte, Wilde Plätze, Verlorene Räume, Vergessene Inseln
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-406-67493-8
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Spätestens seit Google Earth ist die Welt bis in den letzten Winkel erforscht und vermessen. Es gibt keine unbekannten Orte mehr, keine unberührten Eilande, nichts mehr zu entdecken – oder etwa doch?
Alastair Bonnett stellt in diesem Buch faszinierende und außergewöhnliche Orte vor, die unsere Vorstellungen von der Welt gehörig durcheinanderbringen. Sie tauchen auf und unter, wie die Inseln im Gangesdelta, verschwinden von Satellitenbildern, wie Sandy Island vor der australischen Küste, oder verstecken sich unter Gebüsch und Gestrüpp, das alle Spuren überwuchert, wie auf der britischen Halbinsel Arne. Unterhaltsam und leichtfüßig werden Orte wie Bir Tawil in Ostafrika beschrieben, die partout keine Nation haben will, oder Orte, die scheinbar zu zwei Nationalstaaten gleichzeitig gehören. Berichtet wird von versteckten Labyrinthen, unterirdischen, verlassenen oder überbauten Städten ebenso wie von ihrer historischen Entwicklung. Lehrreich, aber nicht belehrend führt Bonnett durch geographische Kuriositäten und zeigt, dass auch für den heutigen Menschen das Entdecken nie aufhört.
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Einleitung
Unsere Faszination für ungewöhnliche Orte ist so alt wie die Geographie. In seiner um 200 v. Chr. verfassten Schrift Geographika nimmt uns Eratosthenes mit auf eine Reise zu zahlreichen «berühmten» Städten und «bedeutenden» Flüssen. Und die siebzehn Bände von Strabos Geographie, die in den ersten Jahren des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung für Beamte im Römischen Reich geschrieben wurden, stellen ein erschöpfendes Kompendium von Reisen, Städten und Zielen dar. Mein Lieblingsort bei Strabo sind die Goldminen Indiens, die, so weiß er zu berichten, von Ameisen «nicht kleiner als Füchse» und mit Fellen, «die Pantherfellen ähnlich seien», gegraben würden. So alt unser Hunger nach kuriosen Erzählungen aus fernen Gegenden auch sein mag, so ist doch unser heutiges Bedürfnis nach einer geographischen Wiederverzauberung von ganz anderem Kaliber. Meine Liebe zu Orten wurzelt in Epping. Das ist eine der vielen Pendlerstädte in der Nähe von London, eigentlich ganz nett, aber im Grunde austauschbar und ortlos. Dort kam ich zur Welt und dort wuchs ich auf. Wenn ich mit der Central Line nach Epping zockelte oder auf der Londoner Ringautobahn dorthin fuhr, hatte ich oft das Gefühl, als würde ich von Nirgendwo nach Nirgendwo reisen. Durch Landschaften zu fahren, die einem einmal etwas – manchmal sogar verdammt viel – bedeutet haben, die aber auf Transiträume reduziert wurden, wo alles temporär und jeder nur auf der Durchreise ist, erfüllte mich mit einem Gefühl des Unbehagens und weckte in mir den Hunger nach Orten, die von Bedeutung sind. Man muss nicht weit in unsere geronnene Straßenlandschaft hineinlaufen, um zu erkennen, dass wir in den letzten gut einhundert Jahren überall auf der Welt deutlich besser darin geworden sind, Orte zu zerstören als sie zu schaffen. Die Titel einiger Bücher aus jüngerer Zeit – Real England von Paul Kingsnorth, Nicht-Orte von Marc Augé und The Geography of Nowhere von James Kunstler – zeugen von einer zunehmenden Angst. Diese Autoren verleihen einem verbreiteten Gefühl Ausdruck, wonach die Ersetzung einzigartiger und spezifischer Orte durch generische blandscapes, also austauschbare, nichtssagende Landschaften, unsere Verbindung zu etwas sehr Wichtigem kappt. Edward Casey, Professor für Philosophie an der Stony Brook University, New York, und einer der weltweit bedeutendsten Theoretiker des Orts, vertritt die Ansicht, die «Ausbreitung einer unterschiedslosen Gleichortigkeit im globalen Maßstab» nage an unserem Selbstempfinden und sorge dafür, dass sich «das menschliche Subjekt nach Ortsvielfalt sehnt». Mit skeptischem Blick verfolgt Casey die intellektuelle Abkehr vom Nachdenken über den Ort. Im antiken und mittelalterlichen Denken stand er häufig im Mittelpunkt, er war Grundlage und Kontext für alles andere. Aristoteles war der Meinung, der Ort müsse allen anderen Dingen «vorgeordnet» sein, denn er gebe der Welt eine Ordnung. Er «sei das unmittelbar Umfassende für das, dessen Ort er ist», heißt es in der Physik. Doch die universalistischen Ansprüche der ersten monotheistischen Religion sowie später dann der Aufklärung machten aus dem Ort etwas Provinzielles, eine prosaische Fußnote im Vergleich zu den großangelegten, aber abstrakten Visionen globaler Einheit. Die meisten modernen Intellektuellen und Wissenschaftler interessieren sich so gut wie gar nicht mehr für den Ort, denn sie halten ihre Theorien für universell anwendbar. Der Ort wurde an den Rand gedrängt und ersetzt, wobei der Aufstieg des etwas pompöseren und abstrakteren geographischen Rivalen, nämlich die Vorstellung vom «Raum», seinen Teil dazu beitrug. Raum klingt auf eine Weise modern, wie das für den Ort nicht gilt: der Begriff lässt an Mobilität und an das Fehlen von Beschränkungen denken; er verspricht leere Landschaften voller Verheißungen. Sahen sich moderne Gesellschaften mit der inhärenten Geschäftigkeit und Seltsamkeit des Ortes konfrontiert, so reagierten sie darauf zumeist mit Geradebiegen und Rationalisieren, sie setzten auf Verbindungen und räumten Hindernisse aus dem Weg, denn sie wollten den Ort durch den Raum ersetzen. In seiner philosophiegeschichtlichen Abhandlung The Fate of Place konstatiert Casey eine zunehmende «Geringschätzung des genius loci: eine Gleichgültigkeit gegenüber der Besonderheit des Ortes». Wir alle leben mit den Folgen dieser Entwicklung. Die meisten von uns können sie sogar vom Fenster aus beobachten. In einer hypermobilen Welt lässt sich die Liebe zum Ort leicht als überholt abtun, ja sogar als reaktionär. Wo sich menschliche Erfüllung in Flugmeilen bemisst und wo sogar Geographen sich an der Vorstellung erfreuen, dass «Gemeinschaften ihre gemeinsame Grundlage zunehmend im Cyberspace statt auf terra firma finden» (so Professor William J. Mitchell vom MIT), wirkt es fast ein wenig pervers, wenn man über den Ort nachdenken will. Doch Ortlosigkeit ist weder intellektuell noch emotional befriedigend. Utopia, der von Thomas Morus gebildete griechische Neologismus, lässt sich als «Nicht-Ort» übersetzen, aber eine ortlose Welt ist keine Utopie, sondern eine dystopische Vorstellung. Der Ort ist ein vielgestaltiger und grundlegender Aspekt dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Wir sind eine Orte schaffende und Orte liebende Spezies. Der renommierte Evolutionsbiologe Edward O. Wilson bezeichnet die angeborene und biologisch notwendige Liebe des Menschen zu lebendigen Dingen als «Biophilie». Er ist der Ansicht, die Biophilie halte uns Menschen als Spezies zusammen und verbinde uns gleichzeitig mit der übrigen Natur. Ich würde behaupten, dass es eine zu Unrecht ignorierte und gleichermaßen bedeutsame geographische Entsprechung dazu gibt: die «Topophilie» oder Liebe zum Ort. Der Begriff wurde in etwa zur selben Zeit, da Wilson seine Theorie der Biophilie entwickelte, von dem chinesisch-amerikanischen Geographen Yi-Fu Tuan geprägt, und das damit verbundene Konzept steht im Zentrum dieses Buches. Und noch ein weiterer wichtiger Aspekt zieht sich wie ein roter Faden durch all die hier versammelten Orte – das Bedürfnis zu entfliehen. Dieser Drang ist heute verbreiteter als jemals in der Vergangenheit. Da uns ständig phantastische Urlaubsziele und Lebensstile vor die Nase gehalten werden, überrascht es nicht wirklich, dass viele Menschen mit ihrer Alltagsroutine unzufrieden sind. Das Aufkommen der Ortlosigkeit sowie das Gefühl, dass der gesamte Planet minutiös erforscht und überwacht ist, haben dieser Unzufriedenheit einen radikalen Schub verpasst, wir gieren förmlich danach, Orte zu finden, die ab vom Schuss sind, die irgendwie geheim oder zumindest in der Lage sind, uns zu überraschen. In seinem Roman Moby Dick beschreibt Herman Melville die Heimatinsel von Ismaels Freund und Verbündetem, dem Eingeborenen Queequeg, folgendermaßen: «Sie ist auf keiner Karte verzeichnet; die richtigen Orte stehen nie darauf.» Das klingt seltsam, aber ich glaube, es erscheint unmittelbar, instinktiv sinnvoll. Dieses Empfinden rührt an ein Misstrauen, das gleich unter der rationalen Oberfläche der Zivilisation lauert. Wenn die Welt vollständig vermessen und sortiert ist, wenn Ambivalenzen und Ambiguitäten weggewischt sind, so dass wir genau und objektiv wissen, wo sich alles befindet und wie es bezeichnet wird, dann regt sich ein Gefühl des Verlusts. Der Anspruch auf Vollständigkeit sorgt dafür, dass wir der Möglichkeit der Erkundung nachtrauern und endlos über die Hoffnung auf Neuheit und Entfliehen nachsinnen. In diesem Kontext bekommen die namenlosen und verworfenen Orte – solche, die weit entfernt sind, und solche, an denen wir jeden Tag vorbeikommen – eine romantische Aura. In einer vollständig entdeckten Welt hört die Erkundung nicht auf; sie muss nur neu erfunden werden. Anfang der 1990er Jahre stieß ich auf eine der unkonventionelleren Formen dieser Neuerfindung, nämlich die Psychogeographie. Dabei ging es die meiste Zeit darum, entweder umherzustreifen auf der Suche nach dem, was sich einige meiner Kameraden hoffnungsfroh als okkulte Energien vorstellten, oder sich absichtlich zu verirren, indem man die Karte eines bestimmten Ortes dazu nutzte, um sich an einem anderen Ort zurechtzufinden. Beispielsweise mitten durch eine Kindertagesstätte in Gateshead zu wandern und dabei eine Karte der Berliner U-Bahn in Händen zu halten ist wahrlich desorientierend. Wir hielten uns dabei für unglaublich kühn, aber was mir rückblickend auffällt bei dem Versuch, die Landschaft um uns herum radikal neu zu entdecken, ist die Tatsache, wie normal und gewöhnlich dieses Ansinnen eigentlich ist. Das Bedürfnis nach Wiederverzauberung ist etwas, das wir alle gemeinsam haben. Machen wir uns also auf zu einer Reise – einer Reise an die Enden der Welt und auf die andere Seite der Straße, so weit wir eben gehen müssen, um dem Vertrauten und der Routine zu entkommen. Ob gut oder schlecht, unheimlich oder wunderschön: wir brauchen widerspenstige, ungebärdige Orte, die sich Erwartungen verweigern. Wenn wir sie nicht finden, dann...