E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Boyken / Immer Nachkriegslyrik
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8463-5402-5
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Poesie und Poetik zwischen 1945 und 1965
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-8463-5402-5
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
1. „Unabschließbare Experimente“: Zur Polyphonie der deutschsprachigen Nachkriegslyrik
2. Adorno und Holthusen: Das Reden über Lyrik nach 1945 Die ‚gemeinsame Sache‘ der Nachkriegslyrik
3. Konstellation als Beschreibungsmodell
3.1 Exkurs: Begriffsgeschichte
3.2 Konstellationen der Nachkriegslyrik
3.3 Forschungslinien der deutschsprachigen Nachkriegslyrik Hinweise zur Anlage und zum Gebrauch
Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik
1. Sprachverdichtung
1.1 Poetologische Hinführung
1.2 Paul Celan: Dichtung als Trauerarbeit
1.3 Ingeborg Bachmann: Zeitreflexion und Zeitkritik
1.4 Günter Eich: Lyrik des ‚Kahlschlags‘?
2. Naturerfahrung
2.1 Poetologische Hinführung
2.2 Peter Huchel: Melancholische Naturerfahrung
2.3 Karl Krolow: Natur als Bedrohung des Subjekts
2.4 Johannes Bobrowski: Natur im Zeichen des Verlusts
3. Schuldfragen
3.1 Poetologische Hinführung
3.2 Mascha Kaléko: Kommunikation nach außen
3.3 Werner Bergengruen: Kommunikation nach innen
3.4 Wolfdietrich Schnurre: Warnung vor dem Vergessen
4. Trauma
4.1 Poetologische Hinführung
4.2 Nelly Sachs: Poetik der ‚Durchschmerzung
4.3 Stephan Hermlin: Zwischen Erinnern und Vergessen
4.4 Ceija Stojka: Die geraubte Kindheit
5. Gesellschaftskritik
5.1 Poetologische Hinführung
5.2 Bertolt Brecht: Scheitern der ‚politischen Gebrauchsästhetik‘?
5.3 Hans Magnus Enzensberger: Subversive Lyrik
5.4 Günter Grass: Lyrische Alternativen? Gegen Ideologie und Traditionalismus
Zum Abschluss: ‚Nachkriegslyrik‘ und ‚Gedichtinterpretation
Literaturverzeichnis
Personenregister
Einleitung
1. „Unabschließbare Experimente“: Zur Polyphonie der deutschsprachigen Nachkriegslyrik
Epochen, Perioden und Strömungen sind heuristische Kategorien, die notwendigerweise die Komplexität eines Untersuchungsgegenstands reduzieren. Sie helfen beim Reden über Literatur; sie sind in der konkreten Anwendung jedoch meistens nur grobe Schemata mit begrenztem Aussagegehalt (vgl. TITZMANN 2007, 476 f.). Eine populäre Grenzmarke, die vielfach auch als Epochengrenze gesetzt wird, stellt das Jahr 1945 dar. Walter Jens (1923–2013) hat bereits 1958 in seiner Studie Deutsche Literatur nach 1945 konstatiert: „Der Ausgangspunkt ist klar zu bezeichnen, die große Wende des Jahres 1945 kann durch keinen noch so diffizilen Hinweis auf unterschwellige Kontinuitäten (vor allem stilistischer Art) aus der Welt geschafft werden.“ (JENS [1958] 1998, 365) Dass nach 1945 die Literatur im Allgemeinen und die Lyrik im Speziellen keinesfalls radikal mit Traditionen bricht, wurde hingegen in zahlreichen Studien der letzten Jahre herausgestellt (vgl. SCHÄFER 1977; BENDER 1984; KORTE 2004; LAMPART 2013). Die Rede vom ‚Nullpunkt‘ und von der ‚Stunde Null‘ scheint eher auf zeitgenössische Selbstvergewisserungsstrategien und eine subjektiv empfundene Umbruchphase zu verweisen; sie trifft, wenn überhaupt, nur auf Einzelfälle zu. Insbesondere in der frühen Nachkriegszeit verbinden sich die Orientierung an traditionellen poetischen Mustern und die Rückwendung auf poetologische Konzepte der Vorkriegsjahre mit der Thematisierung existentiell erschütternder Kriegserfahrungen. Diese mentalitätsgeschichtlich einschneidende Zäsur wird bereits direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Literatur und Literaturkritik reflektiert. So versuchen beispielsweise Hans Egon Holthusen (1913–97) und Friedhelm Kemp (1914–2011) im Nachwort zu ihrer Anthologie Ergriffenes Dasein (1953) die Neuartigkeit der Lyrik nach 1945 zu umreißen: Gewiß sind neue Themen und Motive hinzugekommen: die inkommensurablen Erfahrungen der modernen Katastrophenlandschaft, der zweite Krieg, Gefangenschaft, die Unterwelt des politischen Terrors, das soziale und seelische Chaos der Nachkriegszeit, apokalyptische Bewußtseinskrisen, Genrebilder aus dem Leben der heutigen Gesellschaft. (HOLTHUSEN/KEMP 1953, 353) Von besonderer Relevanz ist das Nachwort deswegen, weil Holthusen und Kemp im Gegensatz zu Walter Jens und anderen Zeitgenossen keine ‚Stunde Null‘ proklamieren, sondern die Kontinuitäten zwischen Vor- und Nachkriegszeit hervorheben. Gleichzeitig erkennen sie auch Veränderungen, die sie vor allem auf thematischer Ebene situieren. Auch in seinem Gedicht Tabula rasa (1949) wendet sich Holthusen mit „intrikater Dialektik gegen die Nullpunktthese“, wie Alexander von Bormann festgestellt hat (BORMANN 2006, 197). Das Jahr 1945 stellt insofern eine subjektive Epochengrenze dar, als sich mit ihr die Vergangenheit bequem von der Gegenwart scheiden lässt. Retrospektiv betrachtet ist diese eindeutige Grenzziehung aber nicht haltbar: „Von einem Neuanfang, gar nach einer Phase des konsequenten ‚Kahlschlags‘, kann im gesamten deutschen Sprachraum nicht die Rede sein, so dass das Jahr 1945 innerhalb eines literarhistorischen Periodisierungsentwurfs im Kern nichts anderes ist als ein Orientierungsrahmen“ (KORTE 2004, 9). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche Gedichte, die 1945 veröffentlicht werden, bereits in den 1930er Jahren entstanden sind. Die vermeintlich klaren Epochengrenzen sind demnach keineswegs so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Auch wenn der Eindruck entstehen könnte, als habe sich die Bundesrepublik Deutschland, die sich 1949 konstituierte, recht schnell in politische und kulturelle Traditionen des Westens eingereiht, ist mit Blick auf die Gedichtproduktion bis 1960 zunächst eine klar erkennbare Diversität festzustellen. Noch deutlicher wird diese Heterogenität und Formenvielfalt, wenn man zusätzlich die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und die ‚ostdeutsche‘ Nachkriegslyrik in den Blick nimmt: Die zeitgenössischen Dichter orientieren sich an typisch deutschen Lyriktraditionen wie der Naturlyrik (z. B. Peter Huchel [1903–81]), favorisieren die Anverwandlung avantgardistischer Schreibweisen (z. B. Gottfried Benn [1886–1956]), propagieren den sprachlichen ‚Kahlschlag‘ (z. B. Wolfgang Weyrauch [1904–80]), greifen christlich-heilsgeschichtliche Deutungsmuster auf (z. B. Rudolf Alexander Schröder [1878–1962]) oder plädieren für das ‚Gebrauchsgedicht‘ mit politischem Impetus (z. B. Bertolt Brecht [1898–1956]). Gleichzeitig ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Formenvielfalt moderner Lyrikströmungen zu beobachten, die zunächst zeitlich parallel verlaufen und sich erst in den 1960er und 1970er Jahren ausdifferenzieren. Aus diesem Grund ist es notwendig, für die Darstellung der deutschsprachigen Nachkriegslyrik auch die poetologischen Positionsbestimmungen zu berücksichtigen. Die deutsche Nachkriegslyrik ist poetologisch genauso wenig auf den Begriff der ‚verspäteten Moderne‘ zu bringen wie auf die Begriffe ‚Trümmerliteratur‘, ‚Kahlschlag‘ oder ‚Naturlyrik‘ (vgl. BOYKEN/IMMER 2016, 9). Vielmehr scheinen diese Strömungen unterschiedliche Nah- und Fernverhältnisse auszubilden: Die Nachkriegslyrik lässt sich als ein spannungsvolles Feld beschreiben, das sich in heterogenen und teilweise widerstreitenden Konstellationen präsentiert. Hier setzt der vorliegende Band an: Unser Ziel ist es, eine systematische Einführung in die ästhetische Übergangsphase deutschsprachiger Lyrik nach 1945 zu geben. Ohne das komplexe lyrische Gefüge der Zeit von 1945 bis ca. 1965 zu sehr zu vereinfachen, sollen die oben genannten Prozesse in poetologischer und thematischer Hinsicht strukturiert werden. Im Zentrum stehen die Analyse und dichtungstheoretische Einordnung ausgewählter Gedichte aus der Nachkriegszeit. Das Studienbuch bietet somit eine Einführung in einen Teilbereich der Nachkriegsliteratur, der sowohl in akademischen Lehrveranstaltungen als auch im Rahmen des schulischen Deutschunterrichts immer wieder thematisiert wird. Wir verfolgen in der Darstellung einen gestuften Aufbau. Zunächst möchten wir im Rahmen dieser Einleitung die zeitgenössische Diskussion über Lyrik skizzieren, indem wir einen Überblick über das Diskursfeld der deutschsprachigen Lyrik zwischen 1945 und 1965 geben (2. Abschnitt). Unsere Leitfrage lautet dabei: Wie wird über Gedichte nach 1945 geredet? Anhand zeitgenössischer Positionen wie denen von Theodor W. Adorno (1903–69) und Hans Egon Holthusen werden kultur-, ideen- und mentalitätsgeschichtliche Denkfiguren herausgearbeitet, mit denen die Nachkriegslyrik zeitgenössisch beschrieben wird und die auch in den Gedichten oftmals eine bedeutende Rolle spielen. Mit Adorno und Holthusen werden nicht nur zwei meinungsbildende (und kontrovers diskutierte) Publizisten der deutschen Nachkriegszeit vorgestellt, sondern auch zwei Autoren, die unterschiedliche Sichtweisen auf die Lyrik nach 1945 vertreten. Da sich zahlreiche Dichterinnen und Dichter auch innerhalb der Literaturkritik positionieren und hier eine poetologische Agenda verfolgen (z. B. Benn, Krolow [1915–99], Enzensberger [*1929] u. a.), sensibilisiert dieser Einstieg auch für die Diskursbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ferner wird mit den Positionen von Adorno und Holthusen das Spektrum der zeitgenössischen Standpunkte zur deutschsprachigen Nachkriegslyrik ausgemessen, da es sich hierbei um zwei ‚Extrempositionen‘ handelt. Nach diesem Diskursaufriss skizzieren wir sowohl die spezifischen gattungsinternen Entwicklungen als auch die ästhetisch-poetologischen Strömungen der deutschsprachigen Nachkriegslyrik (3. Abschnitt). Als Leitkonzept dient der Begriff der ‚Konstellation‘, um die ästhetischen, sozialen und thematischen Beziehungen der Nachkriegslyrik näher zu bestimmen. Es folgt ein kurzer Überblick über Studien, die ebenfalls in das Forschungsfeld einführen (4. Abschnitt). Hierbei handelt es sich keinesfalls um einen Vollständigkeit beanspruchenden Forschungsstand. Vielmehr möchten wir einen ersten Ansatzpunkt geben, um sich jenseits des Studienbuchs selbstständig in das Forschungsfeld einzuarbeiten. Die Einleitung beschließen Hinweise zum Gebrauch des Studienbuchs (5. Abschnitt). Die folgenden Textanalysen bauen auf den Überlegungen der Einleitung auf. Der Analyseteil gliedert sich in die folgenden fünf thematischen Schwerpunkte bzw. thematischen Konstellationen: Sprachverdichtung (1. Kapitel), Naturerfahrung (2. Kapitel), Schuldfragen (3. Kapitel), Trauma (4. Kapitel) und...