Boyle | Das wilde Kind | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 112 Seiten, Format (B × H): 1 mm x 2 mm, Gewicht: 1 g

Boyle Das wilde Kind

Erzählung
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-446-23525-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählung

E-Book, Deutsch, 112 Seiten, Format (B × H): 1 mm x 2 mm, Gewicht: 1 g

ISBN: 978-3-446-23525-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Mensch? Ein Tier? Oder irgendetwas dazwischen? Neben Kaspar Hauser war Victor von Aveyron der berühmteste Fall eines "Wolfskinds". Eine nackte Kreatur, die sich, in Südfrankreich von Jägern entdeckt, auf einem Baum versteckt. Er kann nicht sprechen, isst Nüsse und Wurzeln und verabscheut gekochte Speisen. Ist sein merkwürdiges Verhalten kulturell oder biologisch bedingt? Ist der Mensch - frei nach Rousseau - von Natur aus gut, oder prägt erst die Erziehung sein Wesen? Boyle, der in den USA lebende Autor, hat sich des Falles Victor von Aveyron angenommen. In seinem zutiefst ergreifenden Porträt eines Wolfskindes geht er der subtilen Grenze nach, an der sich entscheidet, wer Mensch und wer Tier ist.
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2   Feuer kannte er – die qualmenden Glutnester, die zurückblieben, wenn die Bauern nach der Ernte ihre Felder abbrannten –, und durch Versuche hatte er gelernt, dass eine Kartoffel in der heißen Asche weich, wohlriechend und schmackhaft wurde, doch der Rauch des Feuers, das die Holzfäller entzündet hatten, hüllte ihn ganz ein, so dass die Luft, die er atmete, vergiftet war und er die Besinnung verlor. Messier hob ihn auf und fesselte ihn, und dann trugen die drei Männer ihn zu dem Dorf Lacaune. Es war später Nachmittag, zwischen den Baumstämmen senkte sich bereits die Nacht herab und verdichtete das Laub der Büsche, bis diese wie mit Teer überzogen wirkten. Die drei Männer hatten es eilig, nach Hause zu kommen und sich am Ofen zu wärmen – für April war es noch reichlich kalt, und der Himmel spuckte immer wieder Regen –, doch sie hatten diese staunenswerte Monstrosität gefangen und waren erfüllt von Verwunderung über ihre Tat. Der Junge hing bewusstlos über Messiers Schulter, und sie waren noch nicht an den ersten Häusern des Dorfs vorbei, da wussten schon alle, dass sie kamen. Père Dasquelle, der älteste Bewohner von Lacaune, der sich noch an den Großvater des toten Königs erinnerte, stand mit offenem Mund auf der Straße, sämtliche Kinder kamen hüpfend aus Häusern und Höfen gerannt und liefen ihnen in einer Traube nach, und ihre Eltern legten Hacken, Kellen und Kochlöffel beiseite und taten es ihnen gleich. Sie brachten den Jungen in die Taverne – wohin auch sonst? Vielleicht in die Kirche, doch das erschien ihnen nicht sinnvoll, noch nicht jedenfalls. Als Messier ihn durch die offene Tür DeFarge reichte, dem Wirt, schien der Junge zum Leben zu erwachen. Der Schmied hielt seine Beine fest im Griff und stützte ihn mit einer Hand unter dem Hintern, während DeFarge seine weichen weißen Wirtshände unter Schultern und Kopf legte. Hinter ihnen waren die beiden Gefährten Messiers und der ganze Rest des Dorfs: Kinder schrien, Männer und Frauen drängten sich, um besser sehen zu können, und aller Augen waren auf die offene Tür gerichtet, so dass ein Fremder hätte meinen können, der Bürgermeister habe einen Feiertag ausgerufen und das ganze Dorf zu einem Umtrunk eingeladen. Die Zeit blieb für einen Augenblick stehen. Die Menge schob, das Kind hing zwischen dem Draußen und dem Inneren dieser von Menschenhand erbauten Behausung, und für einen Moment waren das Wilde und das Zivilisierte im Gleichgewicht. Da öffnete das Kind seine schwarzen Augen, bäumte sich mit einer heftigen Bewegung auf und schlug die Zähne in das schlabbrige Fleisch unter DeFarges Kinn. Plötzliche Panik. DeFarge schrie auf, Messier packte noch fester zu, während der Wirt vor Schmerz und Angst losließ und der Junge, einen Hautfetzen zwischen den Zähnen, auf den Boden krachte, und wer es gesehen hatte, sagte später, es sei so gewesen, als habe eine aus dem Schlamm gezerrte Sumpfschildkröte ihren grünschillernden Kopf ausgefahren und blindlings zugeschnappt. Beim Anblick des Bluts waren alle entsetzt, es erblühte innerhalb von Sekunden im Bart des Wirts. Diejenigen, die bereits in der Taverne waren, fuhren zurück, ebenso wie die vor der Tür, während das Kind, das Messier zu Boden gerissen hatte, strampelnd und zuckend auf der Schwelle lag. Rufe und Schreie ertönten, und zwei oder drei Frauen stießen tiefe, laute Schluchzer aus, die den anderen das Herz aus dem Leib zu reißen schienen: Etwas Wildes war mitten unter ihnen, eine Bestie, ein Dämon, es lag zu ihren Füßen, eine sich im Schatten der Tür windende Gestalt mit blutverschmierter Schnauze. Erschrocken ließ auch Messier los und sprang auf. Er starrte das Wesen an, als wäre er es, der gebissen worden war. »Stech es ab«, zischte jemand. »Bring es um!« Aber dann sahen sie, dass es nur ein Kind war, knapp eins vierzig groß und kaum mehr als dreißig Kilo schwer. Zwei der Männer bedeckten sein Gesicht mit einem Lumpen, so dass es nicht mehr beißen konnte, und drückten es zu Boden, bis es aufhörte, sich zu winden, und schließlich wurden seine klauenartigen Hände, die sich schon halb befreit hatten, wieder gefesselt. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, erklärte Messier. »Es ist bloß ein Menschenkind.« Man führte den fluchenden DeFarge fort, um seine Wunde zu verbinden, und niemand verschwendete einen Gedanken an Tollwut, noch nicht. Dann drängten sie sich um das gefesselte Kind und stupsten es an, das aus der Festung des Waldes geraubte enfant sauvage. Sie sahen, dass seine Haut rauh war und dunkel wie die eines Arabers, dass die Hornhaut an seinen Füßen dick und schwielig war und seine Zähne so gelb wie die einer Ziege. Das Haar war verfilzt und fettig, und weil es über sein Gesicht und den rauhen Stoff des tief in den Mund gesteckten Knebels fiel, bewahrte es sie vor seinem starren, unverwandten Blick. Niemand kam auf den Gedanken, seine Genitalien zu bedecken. Es waren die eines Kindes: zwei Eicheln und ein Stöckchen. Die Nacht schritt voran, doch niemand wollte gehen. Wer keinen Platz im Raum gefunden hatte, stand vor der offenen Tür an, um einen zweiten oder dritten Blick zu erhaschen, es wurde getrunken, die Dunkelheit war durchdrungen von nachwinterlicher Kühle, DeFarges Frau legte weitere Scheite aufs Feuer, und jeder Mann, jede Frau, jedes Kind dachte, nun habe man ein Wunder gesehen, etwas, das schrecklicher und befremdlicher war als das Kalb mit den zwei Köpfen, das im vergangenen Jahr auf Mansards Hof geboren worden war, oder die Otter, die in sich hundert kleine Ottern getragen hatte. Sie stießen das Kind mit den Spitzen ihrer Stiefel und Holzschuhe an, und einige, die neugierig oder mutig genug waren, beugten sich zu ihm, um seinen Geruch aufzunehmen. Man war sich einig, dass es der Geruch der Wildnis war, der Geruch eines wilden Tiers in seiner Höhle. Irgendwann erschien der Priester, um den Jungen zu segnen, doch obwohl die wilden Indianer in Amerika ebenso in die Schar der Christenheit aufgenommen worden waren wie die Eingeborenen von Afrika und Asien, besann er sich eines Besseren. »Was ist los, Vater?« fragte jemand. »Ist er kein Mensch?« Aber der Priester – ein sehr junger Mann mit engelsgleichem Gesicht und Flaumbart – schüttelte nur den Kopf und ging hinaus. Später, als man des Spektakels müde war, als Augenlider und Kinne schwer wurden, bestand Messier, der lauteste und bestimmendste der Gruppe, darauf, diese Monstrosität müsse über Nacht im Hinterzimmer der Taverne eingeschlossen werden, damit man am nächsten Morgen die Nachricht von seiner Ergreifung in der ganzen Gegend verbreiten könne. Man hatte den Knebel entfernt, damit der Junge essen und trinken konnte, und einige, hauptsächlich Frauen, hatten versucht, ihn dazu zu bewegen, etwas zu kosten – einen Bissen Brot, ein Stückchen gekochtes Hasenfleisch, Wein, Brühe –, doch er wandte den Kopf ab, spuckte aus und weigerte sich. Jemand meinte, er sei vielleicht von Wölfen aufgezogen worden wie Romulus und Remus und werde nur die Milch einer Wölfin trinken, und so setzte man ihm das Ähnlichste vor, was das Dorf zu bieten hatte – etwas Milch von einer Hündin, die gerade geworfen hatte –, aber auch dies wollte er nicht. Ebensowenig Küchenabfälle, Eier, Butter, Blutwurst und Käse. Nach einer Weile, nachdem die Hälfte der Anwesenden geduldig über dem gefesselten, sich windenden Wesen gestanden und ihm vorsichtig, aber erfolglos dies und das angeboten hatten, gaben sie es auf und gingen nach Hause und zu Bett, aufgeregt und zufrieden, aber auch müde, sehr müde, und den Kopf umnebelt vom Wein. Dann war es still. Dann war es dunkel. Starr und benommen lag der Junge zwischen Wachen und Schlafen. Er zitterte, nicht vor Kälte, denn er war abgehärtet und hatte selbst die kältesten Wintertage überstanden, sondern vor Angst. Er spürte seine Hände und Füße nicht mehr, denn die Fesseln waren so eng, dass sie wie Druckverbände waren und das Blut abschnürten, und die Fremdheit dieses Ortes, wo man ihn eingesperrt hatte, jagte ihm furchtbare Angst ein. Es war ein an allen Seiten geschlossenes Gehäuse – kein Stern war zu sehen, kein Geruch von Fichten oder Wacholder oder fließendem Wasser wahrzunehmen. Tiere, größer und stärker als er, hatten ihn eingefangen, zu ihrem Vergnügen oder um ihn zu fressen, und so erfüllte ihn nur Angst, denn er hatte kein Wort für Tod und keine Möglichkeit, ihn begrifflich zu erfassen. Er fing Dinge, schnelle, furchtsame Dinge, er tötete sie und fraß sie auf, doch das war an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit geschehen. Vielleicht stellte er eine Verbindung her, vielleicht auch nicht. Aber irgendwann, als der Mond aufging und ein dünner Lichtstrahl durch eine Fuge zwischen zwei Steinen in der Wand fiel, begann er sich zu regen. Er hatte kein Zeitgefühl. Er spannte sich an, er wippte, er stieß sich mit seinen beweglichen Zehen ab und kratzte mit den Fingernägeln, er bewegte sich hierhin und dorthin, bis die Fesseln langsam nachgaben. Als sie sich gelockert hatten, streifte er sie ab, als wären es irgendwelche Pflanzen, nichts weiter als Ranken, Triebe oder kleine Zweige, die nach seinen Handgelenken und Knöcheln griffen, wenn er durch den Wald streifte, und wenige Augenblicke später erkundete er den Raum. Es gab zwei Türen, doch er wusste nicht, was eine Tür war, und als man ihn hierhergebracht und auf den mit Stroh bestreuten Boden aus gestampftem Lehm gelegt hatte, war er so starr vor Angst gewesen, dass er nicht auf ihre Funktion geachtet hatte. Dennoch betastete er sie, spürte, dass das glatte Holz eine eigene Beschaffenheit hatte, anders als die Steine, und warf sich mit seinem Gewicht dagegen. Nichts. Die Türen – die eine führte in die Taverne, die andere zum Hof – waren...


Boyle, T.C.
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtete an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009), Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017) und Good Home (Erzählungen, 2018).



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